SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 09

Die Gesundheitskarte

Orwell oder Hippokrates?

von THADEUS PATO

1997 wurde mit den Vorarbeiten begonnen, eingeführt ist sie bis heute nicht: die sogenannte elektronische Gesundheitskarte. Die einen lehnen sie in Bausch und Bogen ab, die anderen feiern sie als längst überfälligen Schritt hin zu einer nachvollziehbaren Medizin. Man muss schon genauer hinsehen, will man erkennen, was da aus Pandoras Büchse rutscht.
Unbestritten ist, dass die mangelnde Verfügbarkeit von Daten über die medizinische Vorgeschichte von Patienten im Behandlungsfall kontraproduktiv sein kann. Häufig führt das zu unnötigen Doppeluntersuchungen, die auch nicht immer gesundheitsförderlich sind, wie z.B. Röntgenuntersuchungen. Bei einer Notfallbehandlung ist unter Umständen auch das Wissen um bestimmte Vorerkrankungen von Belang, um Falschbehandlung zu vermeiden.
Für den behandelnden Arzt wäre also eine lückenlose Dokumentation der Krankengeschichte seiner Patienten sicher eine große Erleichterung.
Für die Kostenträger, in erster Linie die Krankenkassen, steht die Ökonomie im Vordergrund: Seit Jahrzehnten geben sie in erheblichem Umfang Geld für sinnlose Doppel- und Mehrfachuntersuchungen aus (das dann an anderer Stelle fehlt), weil zum Behandlungszeitpunkt nicht rechtzeitig Daten der vorausgegangenen Diagnostik oder Behandlung beschafft werden können. Außerdem wollen sie über eine Digitalisierung Kosten im Bereich der Verwaltung einsparen.
Für die Wissenschaft wiederum wäre ein solcher Datenpool die süßeste Versuchung, seit es die Statistik gibt.
Betrachtet man diese Argumente, könnte man zum Schluss kommen, dass die Einführung der Gesundheitskarte, über die jederzeit Zugriff auf die gesamte medizinische Vorgeschichte der Patienten möglich ist, sowohl gesundheitspolitisch wie auch ökonomisch eine sinnvolle Maßnahme darstellt.

Das Verfahren

Interessant ist, dass das Projekt nicht etwa von Medizinern angeschoben wurde. 1997 wurde ausgerechnet die (auch an der Entwicklung der Agenda 2010 beteiligte) Unternehmensberatungsfirma Roland Berger vom Bundesgesundheitsministerium mit einer Studie namens „Telematik im Gesundheitswesen — Perspektiven der Telemedizin in Deutschland” beauftragt. Das Ergebnis der Studie bestand im Wesentlichen darin, das gesamte Gesundheitswesen müsse nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zugerichtet werden. Auf dieser Basis begann das Projekt „Gesundheitskarte”
Nachdem die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen waren, beauftragte das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung im Jahr 2003 das Projektkonsortium „better IT for better health” (bestehend aus IBM Deutschland, dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswissenschaft und Organisation, SAP Deutschland, der InterComponentWare AG und der ORGA Kartensysteme), die Voraussetzungen für die bundesweite Einführung der elektronischen Gesundheitskarte vorzubereiten. Die Kosten für das Gesamtprojekt wurden seinerzeit auf 1,7 Milliarden Euro geschätzt, inzwischen liegt die Zahl weit höher.
Am 11.1.2005 wurde eine Gesellschaft für Telematikanwendungen im Gesundheitswesen (gematik) gegründet, die die Ausschreibungen für das Projekt einleitete. Darin sind die Spitzenorganisationen des Gesundheitswesens vertreten: Kassenärztliche und -zahnärztliche Bundesvereinigungen, GKV-Spitzenverband, Ärzte- und Zahnärztekammer, Apothekerverband, Spitzenverband der Privatversicherer, Krankenhausgesellschaft.
Am Ende sollen sämtliche Patientendaten gespeichert werden — allerdings nicht auf der Karte, die enthält nur gewisse Basisdaten, die Datenmenge wäre für eine Chipkarte schlicht zu groß. Die eigentlichen medizinischen Daten werden zentral mit Onlinezugriff gespeichert. Ausgerechnet die in jüngster Zeit nicht gerade durch zuverlässigen Datenschutz aufgefallene Telekom soll die Speicherung — und Sicherung — übernehmen.
Die geplanten Tests in ausgewählten Regionen mit einer abgespeckten Basisversion der Karte ohne Speicherung der medizinischen Daten mussten wegen technischer Probleme mehrfach verschoben werden. Im Dezember 2006 wurde schließlich in Flensburg begonnen, weitere Testregionen folgten. Im April 2008 hat Flensburg den Test wieder abgebrochen. Wegen falsch vergebener Zertifikate mussten alle Arztausweise mitten im Test ersetzt werden. 75% der Patienten und 30% der Ärzte hatten außerdem durch Falscheingabe der PIN ihre Karten gesperrt: Die PINs wurden schlicht vergessen.
Trotzdem beschleunigte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt das Verfahren. 2009 sollte endgültig flächendeckend begonnen werden.

Alternative USB-Stick

Eine derartige Allianz gegen eine staatliche Maßnahme hat es wohl in der Geschichte der BRD kaum gegeben: Von Patientenvereinigungen über Ärzteverbände, Selbsthilfegruppen, Datenschützer, den ChaosComputerClub (CCC), die FDP bis hin zur radikalen Linken reicht die Ablehnungsfront. Der CCC kritisiert ebenso wie die Datenschützer die völlig ungeklärte Datensicherheit: „Es werden neue riesige Datenberge angehäuft, ohne dass das Sicherheitskonzept zum Zugriff auf die medizinischen Daten bisher erprobt wurde. Ein Feldtest des Kommunikationssystems konnte aufgrund der fehlenden Ausschreibung gar nicht erfolgen. Jede Softwareklitsche leistet da bessere Arbeit, obwohl diese nicht über ein Milliardenbudget verfügen”, so ein Sprecher des CCC.
Der Deutsche Ärztetag 2008 hat — gegen seinen eigenen Telematikbeauftragten, der ein Freund der Gesundheitskarte ist — diese in der jetzigen Form abgelehnt und eine völlige Neukonzeption und die Erprobung einer alternativen Lösung gefordert: einen USB-Stick, der beim Patienten verbleibt. Auf der Karte selbst könnten allenfalls bestimmte, im Notfall wesentliche Daten gespeichert werden (etwa Informationen über Allergien, Blutgruppe o.ä.).
Inzwischen hat die gematik auf Druck der Ärzteverbände zugesagt, diese Alternative zu prüfen.

Das große Geschäft

Drei Probleme stehen im Vordergrund:
Zum einen kann man die Frage der Speicherung medizinischer Daten nicht isoliert vom Problem der online-Verfügbarkeit von Daten überhaupt diskutieren. So sinnvoll auf den ersten Blick aus medizinischer wie aus wissenschaftlicher Sicht der Zugriff auf den gesamten Datensatz von Patienten im Bedarfsfall auch sein mag: Bei einer zentralen Speicherung sind dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Die FDP-Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sagte hierzu gegenüber der Leipziger Volkszeitung: „Die elektronische Gesundheitskarte wird den größten Datenberg aller Zeiten bringen mit personenbezogenen Daten, wie sie persönlicher nicht sein könnten. Sie ist ein Projekt, bei dem die Missbrauchsgefahr gigantisch und das datenschutzrechtlich eine riesige Katastrophe sein wird”
Da hat sie Recht. Denn bisher ist weltweit noch jede private oder staatliche Institution (eingeschlossen Pentagon, NASA und jüngst ausgerechnet die Telekom) den Beweis schuldig geblieben, dass sie einen wirklich sicheren Schutz vor unbefugten Zugriffen bieten kann. Die Frage nach der Überwindung von Zugangsbarrieren ist eine Frage nach der kriminellen Energie. Und mit den hier zur Debatte stehenden Daten ist wirklich in großem Stil Geld zu machen: Joachim Jakobs von der „FreeSoftware Foundation Europe für Datenschutz und Privatsphäre im Internet” schreibt dazu im Rheinischen Merkur:
"2500 Dollar zahlen Betrüger in den USA für Name, Wohnort und weitere Stammdaten eines Patienten. Die Internetgauner stellen mit einer Rendite von 2500% selbst den Drogenschmuggel in den Schatten. Die ‘Kollegen‘ aus der digitalen Unterwelt Russlands und Chinas interessieren sich offenbar bereits für die Patientendaten der US-Militärkrankenkasse, auf deren Servern in den USA sie im April 2007 einbrachen. Angesichts dessen warnt die US- Heimatschutzbehörde davor, dass die nationale Sicherheit bedroht wäre, wenn Dritte sich einen Überblick über die Gesundheit der Führungselite des Landes verschaffen könnten."
Zum zweiten gibt es auch ganz „legale” Begehrlichkeiten: Sind die Daten erst einmal zentral abgelegt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Ansinnen an die Politik gestellt werden, die Bestimmungen im Datenschutz und im Sozialgesetzbuch zugunsten „höherwertiger Güter"aufzuweichen. Epidemiologen beispielsweise haben schon Wünsche geäußert: Man könne u.U. bei Nutzung gewisser Daten Epidemien früher erkennen und verhindern, usw.
Bei einem Staatswesen, das so stark den Sachwalter des privaten Kapitals spielt, ist auch nicht auszuschließen, dass irgendwann Daten für den Arbeitgeber freigegeben werden, um eine Selektion nach Risikogruppen zu betreiben, oder für Versicherungen, um Spezialpolicen zu erstellen.
Zum dritten ist ausgerechnet die von allen Beteiligten so hochgelobte „Selbstbestimmung” mit der E-card überhaupt nicht gewährleistet. Ein Lesegerät bekommen die Patienten selbst nämlich nicht — ganz abgesehen davon, dass der Umgang mit der Karte und den Daten EDV-Kenntnisse voraussetzt, über die viele, gerade alte und kranke, Menschen nicht verfügen.

Fazit

Dass ein jeder Patient über seine kompletten medizinischen Daten verfügt und dass er diese im Notfall, jedenfalls bestimmte wichtige davon, parat hat, ist medizinisch sinnvoll.
Dass hierfür ein zentraler Datenpool geschaffen wird, der dem Missbrauch Tür und Tor öffnet, nützt keinem Patienten etwas, sondern ist lediglich ein weiterer Schritt zum Überwachungs- und Aussonderungsstaat, kurz ein Schritt hin zur Brave New World. Wenn überhaupt eine Datensammlung, dann hat diese strikt in der Verfügungsgewalt der Patienten zu verbleiben; sie allein entscheiden, wer Einsicht bekommt — oder nicht.
Dass ausgerechnet Ulla Schmidt das Kartenprojekt in der BRD unbeirrt vorantreibt, erstaunt den Kenner übrigens nicht: Als gelernte Stalinistin (Bundestagskandidatin des maoistischen KBW für Aachen 1976) hat sie offenbar einen gewissen Hang zur lückenlosen Kontrolle des Volkes behalten.


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