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1997 wurde mit den Vorarbeiten begonnen, eingeführt ist sie
bis heute nicht: die sogenannte elektronische Gesundheitskarte. Die einen lehnen sie in Bausch
und Bogen ab, die anderen feiern sie als längst überfälligen Schritt hin zu
einer nachvollziehbaren Medizin. Man muss schon genauer hinsehen, will man erkennen, was da
aus Pandoras Büchse rutscht.
Unbestritten ist, dass die
mangelnde Verfügbarkeit von Daten über die medizinische Vorgeschichte von Patienten
im Behandlungsfall kontraproduktiv sein kann. Häufig führt das zu unnötigen
Doppeluntersuchungen, die auch nicht immer gesundheitsförderlich sind, wie z.B.
Röntgenuntersuchungen. Bei einer Notfallbehandlung ist unter Umständen auch das
Wissen um bestimmte Vorerkrankungen von Belang, um Falschbehandlung zu vermeiden.
Für den behandelnden Arzt
wäre also eine lückenlose Dokumentation der Krankengeschichte seiner Patienten
sicher eine große Erleichterung.
Für die
Kostenträger, in erster Linie die Krankenkassen, steht die Ökonomie im Vordergrund:
Seit Jahrzehnten geben sie in erheblichem Umfang Geld für sinnlose Doppel- und
Mehrfachuntersuchungen aus (das dann an anderer Stelle fehlt), weil zum Behandlungszeitpunkt
nicht rechtzeitig Daten der vorausgegangenen Diagnostik oder Behandlung beschafft werden
können. Außerdem wollen sie über eine Digitalisierung Kosten im Bereich der
Verwaltung einsparen.
Für die Wissenschaft
wiederum wäre ein solcher Datenpool die süßeste Versuchung, seit es die
Statistik gibt.
Betrachtet man diese
Argumente, könnte man zum Schluss kommen, dass die Einführung der Gesundheitskarte,
über die jederzeit Zugriff auf die gesamte medizinische Vorgeschichte der Patienten
möglich ist, sowohl gesundheitspolitisch wie auch ökonomisch eine sinnvolle
Maßnahme darstellt.
Interessant ist, dass das Projekt nicht etwa von Medizinern angeschoben wurde. 1997 wurde
ausgerechnet die (auch an der Entwicklung der Agenda 2010 beteiligte)
Unternehmensberatungsfirma Roland Berger vom Bundesgesundheitsministerium mit einer Studie
namens „Telematik im Gesundheitswesen — Perspektiven der Telemedizin in
Deutschland” beauftragt. Das Ergebnis der Studie bestand im Wesentlichen darin, das
gesamte Gesundheitswesen müsse nach betriebswirtschaftlichen Kriterien zugerichtet
werden. Auf dieser Basis begann das Projekt „Gesundheitskarte”
Nachdem die rechtlichen
Voraussetzungen geschaffen waren, beauftragte das Bundesministerium für Gesundheit und
Soziale Sicherung im Jahr 2003 das Projektkonsortium „better IT for better health”
(bestehend aus IBM Deutschland, dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswissenschaft und
Organisation, SAP Deutschland, der InterComponentWare AG und der ORGA Kartensysteme), die
Voraussetzungen für die bundesweite Einführung der elektronischen Gesundheitskarte
vorzubereiten. Die Kosten für das Gesamtprojekt wurden seinerzeit auf 1,7 Milliarden Euro
geschätzt, inzwischen liegt die Zahl weit höher.
Am 11.1.2005 wurde eine
Gesellschaft für Telematikanwendungen im Gesundheitswesen (gematik) gegründet, die
die Ausschreibungen für das Projekt einleitete. Darin sind die Spitzenorganisationen des
Gesundheitswesens vertreten: Kassenärztliche und -zahnärztliche Bundesvereinigungen,
GKV-Spitzenverband, Ärzte- und Zahnärztekammer, Apothekerverband, Spitzenverband der
Privatversicherer, Krankenhausgesellschaft.
Am Ende sollen sämtliche
Patientendaten gespeichert werden — allerdings nicht auf der Karte, die enthält nur
gewisse Basisdaten, die Datenmenge wäre für eine Chipkarte schlicht zu groß.
Die eigentlichen medizinischen Daten werden zentral mit Onlinezugriff gespeichert.
Ausgerechnet die in jüngster Zeit nicht gerade durch zuverlässigen Datenschutz
aufgefallene Telekom soll die Speicherung — und Sicherung — übernehmen.
Die geplanten Tests in
ausgewählten Regionen mit einer abgespeckten Basisversion der Karte ohne Speicherung der
medizinischen Daten mussten wegen technischer Probleme mehrfach verschoben werden. Im Dezember
2006 wurde schließlich in Flensburg begonnen, weitere Testregionen folgten. Im April 2008
hat Flensburg den Test wieder abgebrochen. Wegen falsch vergebener Zertifikate mussten alle
Arztausweise mitten im Test ersetzt werden. 75% der Patienten und 30% der Ärzte hatten
außerdem durch Falscheingabe der PIN ihre Karten gesperrt: Die PINs wurden schlicht
vergessen.
Trotzdem beschleunigte
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt das Verfahren. 2009 sollte endgültig
flächendeckend begonnen werden.
Eine derartige Allianz gegen eine staatliche Maßnahme hat es wohl in der Geschichte
der BRD kaum gegeben: Von Patientenvereinigungen über Ärzteverbände,
Selbsthilfegruppen, Datenschützer, den ChaosComputerClub (CCC), die FDP bis hin zur
radikalen Linken reicht die Ablehnungsfront. Der CCC kritisiert ebenso wie die
Datenschützer die völlig ungeklärte Datensicherheit: „Es werden neue
riesige Datenberge angehäuft, ohne dass das Sicherheitskonzept zum Zugriff auf die
medizinischen Daten bisher erprobt wurde. Ein Feldtest des Kommunikationssystems konnte
aufgrund der fehlenden Ausschreibung gar nicht erfolgen. Jede Softwareklitsche leistet da
bessere Arbeit, obwohl diese nicht über ein Milliardenbudget verfügen”, so ein
Sprecher des CCC.
Der Deutsche Ärztetag
2008 hat — gegen seinen eigenen Telematikbeauftragten, der ein Freund der
Gesundheitskarte ist — diese in der jetzigen Form abgelehnt und eine völlige
Neukonzeption und die Erprobung einer alternativen Lösung gefordert: einen USB-Stick, der
beim Patienten verbleibt. Auf der Karte selbst könnten allenfalls bestimmte, im Notfall
wesentliche Daten gespeichert werden (etwa Informationen über Allergien, Blutgruppe
o.ä.).
Inzwischen hat die gematik auf
Druck der Ärzteverbände zugesagt, diese Alternative zu prüfen.
Drei Probleme stehen im Vordergrund:
Zum einen kann man die Frage
der Speicherung medizinischer Daten nicht isoliert vom Problem der online-Verfügbarkeit
von Daten überhaupt diskutieren. So sinnvoll auf den ersten Blick aus medizinischer wie
aus wissenschaftlicher Sicht der Zugriff auf den gesamten Datensatz von Patienten im
Bedarfsfall auch sein mag: Bei einer zentralen Speicherung sind dem Missbrauch Tür und
Tor geöffnet. Die FDP-Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sagte hierzu
gegenüber der Leipziger Volkszeitung: „Die elektronische Gesundheitskarte wird den
größten Datenberg aller Zeiten bringen mit personenbezogenen Daten, wie sie
persönlicher nicht sein könnten. Sie ist ein Projekt, bei dem die Missbrauchsgefahr
gigantisch und das datenschutzrechtlich eine riesige Katastrophe sein wird”
Da hat sie Recht. Denn bisher
ist weltweit noch jede private oder staatliche Institution (eingeschlossen Pentagon, NASA und
jüngst ausgerechnet die Telekom) den Beweis schuldig geblieben, dass sie einen wirklich
sicheren Schutz vor unbefugten Zugriffen bieten kann. Die Frage nach der Überwindung von
Zugangsbarrieren ist eine Frage nach der kriminellen Energie. Und mit den hier zur Debatte
stehenden Daten ist wirklich in großem Stil Geld zu machen: Joachim Jakobs von der
„FreeSoftware Foundation Europe für Datenschutz und Privatsphäre im
Internet” schreibt dazu im Rheinischen Merkur:
"2500 Dollar zahlen
Betrüger in den USA für Name, Wohnort und weitere Stammdaten eines Patienten. Die
Internetgauner stellen mit einer Rendite von 2500% selbst den Drogenschmuggel in den Schatten.
Die Kollegen aus der digitalen Unterwelt Russlands und Chinas interessieren sich
offenbar bereits für die Patientendaten der US-Militärkrankenkasse, auf deren
Servern in den USA sie im April 2007 einbrachen. Angesichts dessen warnt die US-
Heimatschutzbehörde davor, dass die nationale Sicherheit bedroht wäre, wenn Dritte
sich einen Überblick über die Gesundheit der Führungselite des Landes
verschaffen könnten."
Zum zweiten gibt es auch ganz
„legale” Begehrlichkeiten: Sind die Daten erst einmal zentral abgelegt, ist es nur
eine Frage der Zeit, bis die ersten Ansinnen an die Politik gestellt werden, die Bestimmungen
im Datenschutz und im Sozialgesetzbuch zugunsten „höherwertiger
Güter"aufzuweichen. Epidemiologen beispielsweise haben schon Wünsche
geäußert: Man könne u.U. bei Nutzung gewisser Daten Epidemien früher
erkennen und verhindern, usw.
Bei einem Staatswesen, das so
stark den Sachwalter des privaten Kapitals spielt, ist auch nicht auszuschließen, dass
irgendwann Daten für den Arbeitgeber freigegeben werden, um eine Selektion nach
Risikogruppen zu betreiben, oder für Versicherungen, um Spezialpolicen zu erstellen.
Zum dritten ist ausgerechnet
die von allen Beteiligten so hochgelobte „Selbstbestimmung” mit der E-card
überhaupt nicht gewährleistet. Ein Lesegerät bekommen die Patienten selbst
nämlich nicht — ganz abgesehen davon, dass der Umgang mit der Karte und den Daten
EDV-Kenntnisse voraussetzt, über die viele, gerade alte und kranke, Menschen nicht
verfügen.
Dass ein jeder Patient über seine kompletten medizinischen Daten verfügt und dass
er diese im Notfall, jedenfalls bestimmte wichtige davon, parat hat, ist medizinisch sinnvoll.
Dass hierfür ein
zentraler Datenpool geschaffen wird, der dem Missbrauch Tür und Tor öffnet,
nützt keinem Patienten etwas, sondern ist lediglich ein weiterer Schritt zum
Überwachungs- und Aussonderungsstaat, kurz ein Schritt hin zur Brave New World. Wenn
überhaupt eine Datensammlung, dann hat diese strikt in der Verfügungsgewalt der
Patienten zu verbleiben; sie allein entscheiden, wer Einsicht bekommt — oder nicht.
Dass ausgerechnet Ulla Schmidt
das Kartenprojekt in der BRD unbeirrt vorantreibt, erstaunt den Kenner übrigens nicht:
Als gelernte Stalinistin (Bundestagskandidatin des maoistischen KBW für Aachen 1976) hat
sie offenbar einen gewissen Hang zur lückenlosen Kontrolle des Volkes behalten.
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