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Eine enorme „anormale Welle” von Protesten (so schreiben die Medien) ergießt sich
seit Wochen über die Straßen und Plätze Italiens. Achtzehn Jahre nach der letzten großen Bewegung an den
Schulen und Hochschulen des Landes stehen die Auszubildenden wieder im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung.
Ihr erster greifbarer Erfolg ist die radikale Verschiebung der
öffentlichen Debatte. In den letzten sechs Monaten nach den Parlamentswahlen im April, die Berlusconi einen erdrückenden
Wahlerfolg beschert haben, dominierten eine rassistische Offensive der Rechten gegen Einwanderer, eine wahre Hexenjagd auf die
Beschäftigten im öffentlichen Dienst, die als „Faulenzer” bezeichnet wurden, sowie wiederholte Angriffe auf
den Widerstand der Gewerkschaften gegen den Ausverkauf der Fluggesellschaft Alitalia. Eine politische Opposition, die des Namens
würdig wäre, gab es nicht.
Nun haben die Auszubildenden die politischen Verhältnisse
umgekehrt und verleihen einer anderen Botschaft mit Macht Gehör: „Wir zahlen nicht für eure Krise!"
Kurz vor dem Generalstreik, den die Basisgewerkschaften für den
17.Oktober angesetzt hatten, begannen die Auseinandersetzungen in Dutzenden von Fakultäten und Hunderten von Schulen in allen
Regionen des Landes. Von den Kindern und Lehrern der Grundschule, bis zu den prekär Beschäftigten an den
Universitäten und Forschungsinstituten sind an den Protesten alle beteiligt — mit Demonstrationen, Schulstunden auf
öffentlichen Plätzen und Sit-ins; die Beteiligung nimmt weiter zu. Am 30.Oktober haben die Gewerkschaften im
Bildungsbereich zum Streik aufgerufen; in Rom demonstrierten an diesem Tag eine Million Menschen, und mehrere hunderttausend in
zahlreichen anderen Städten.
Anlass zu diesem Feuerwerk gab ein Gesetz, das die Regierung im August erließ. Sie meinte von den Sommerferien profitieren
zu können, und peitschte in aller Eile das Gesetz 133/08 durch, das eine Reihe von Sparvorschlägen enthält, darunter im
Bildungsbereich. Die geplanten Einsparungen sind drastisch: den Universitäten sollen die Mittel um 47% gekürzt werden, 467
Millionen Euro — angeblich werden hier Mittel verschwendet, gibt es zuviel Personal.
Die Ausgaben für die Hochschulen sollen in den kommenden
fünf Jahren um 10% gesenkt werden. Es gibt einen Einstellungsstopp; nur noch 20% des Lehrpersonals, das in Rente geht, sollen
ersetzt werden. Die Privatisierung der Universitäten soll entschieden vorangetrieben werden: die Hochschulen sollen in
privatrechtliche Stiftungen verwandelt werden, die von der Einwerbung von Drittmitteln leben.
Einstellungsstopp auch an den Schulen; 87000 Lehrerinnenund Lehrer
und 44000 Beschäftigte im sog. technischen Bereich werden dadurch fehlen. Ungeachtet der Proteste hat das Parlament am
29.Oktober eine Reform der Grundschule durchgepeitscht. Es macht viel Aufhebens um die angebliche Notwendigkeit, wieder mehr
Disziplin einzuführen (Noten für Betragen, Wiedereinführung von Schulkitteln), verfolgt im Kern aber das Ziel, die
Grundschule in ihrer bisherigen Form abzuschaffen: Es soll nur noch einen Klassenlehrer geben, die Anzahl der Schulen wird
ausgedünnt und auch die Zahl der Schulstunden herabgesetzt. In den ärmeren Regionen soll es nachmittags keinen Unterricht
mehr geben, das geht vor allem zulasten der Frauen.
Das Gesetz ist nichts anderes als die Umsetzung des Sparhaushalts
von Wirtschaftsminister Tremonti im Bereich der Bildung und läuft darauf hinaus, dass der Staat sich radikal aus dem
öffentlichen Schulwesen zurückzieht.
In Einklang mit rassistischen Gesetzesinitiativen, die sich gegen
Einwanderer richten, sieht das Gesetz 133/08 separate Eingangsklassen für Migrantenkinder vor. Offiziell geht es darum, ihnen die
Möglichkeit zu geben, sich ausreichende Kenntnisse der italienischen Sprache anzueignen. Tatsächlich wird damit in die
öffentliche Schule ein gefährliches Element der Rassentrennung eingeführt.
In den letzten fünfzehn Jahren wurden Italiens Schulen und Universitäten immer stärker vernachlässigt; die
Ausgaben wurden ständig gekürzt und das Bildungsangebot stark verschlechtert. An den Universitäten zeigt der Bologna-
Prozess (gestufte Abschlüsse mit Bachelor und Master und ein System der Leistungsnachweise) verheerende Folgen:
Abschlussarbeiten und Prüfungen multiplizieren sich, es gibt darüber keine Kontrollen, die Prüfenden sind häufig
unterbezahlte oder auch gar nicht bezahlte prekär beschäftigte Lehrkräfte, die Ausbildungsinhalte werden stark
vereinfacht und fragmentiert, dafür steigt die Zahl der geforderten Leistungsnachweise und vor allem die Zahl der abzulegenden
Prüfungen. Die italienischen Universitäten sind zu einer Art Ausbildung am Fließband geworden; die Ware, die sie
produzieren, ist prekär beschäftigte Arbeitskraft.
Anders als in der Vergangenheit sorgt sich die neue
Studentenbewegung um ihre Zukunft nach der Uni. Den Studierenden ist bewusst geworden, dass ihr Abschluss ihnen keineswegs einen
sozialen Aufstieg und eine Verbesserung ihrer Lebenschancen ermöglicht. Im Gegenteil, auf sie wartet eine ungeschützte,
allzeit flexible Beschäftigung, die es ihnen praktisch unmöglich macht, von ihren Eltern unabhängig zu werden. Die
Reformen der letzten Jahre im Ausbildungssektor und in der Arbeitswelt haben eine Generation ohne Zukunft hervorgebracht — die
Bewegung schöpft ihr Schubkraft aus ihrer radikalen Perspektivlosigkeit.
Die neue Bewegung der Auszubildenden arbeitet deshalb sehr bewusst
an einem Bündnis mit den abhängig Beschäftigten; sie will die Bewegung auf die Gesamtgesellschaft ausdehnen. Am
31.Oktober haben die Studierenden an der Universität von Rom, die von ihnen besetzt ist, einen Appell verabschiedet, der alle
Gewerkschaften zu einem Generalstreik gegen die Regierung einlädt. Sie rufen darin zu einem „koordinierten und
verlängerbaren Streik” auf (das ist ein Wortspiel, das auf den „koordinierten und verlängerbaren
Arbeitsvertrag” anspielt, eine der am weitesten verbreiteten Formen prekärer Beschäftigung der letzten zehn Jahre).
Im Aufruf heißt es: „Das scheint uns der Moment zu sein,
einen koordinierten und verlängerbaren Generalstreik durchzuführen, der Sektor für Sektor das Land und
die Produktion lahmlegt. Wir werden für eure Krise nicht zahlen, ist eine Losung, die sich wie ein Lauffeuer verbreitet
und eine ganze Generation in einen Aufruhr versetzt, wie man es noch nicht gesehen hat. Die Gewerkschaften (die konföderierten
wie die Basisgewerkschaften) müssten, unabhängig von ihren programmatischen Differenzen, in der Lage sein zu verstehen,
was in diesem Land passiert, welcher radikale Wandel vorbereitet wird, der die gesamte Gesellschaft in Mitleidenschaft ziehen wird. Sie
sollten es verstehen, aber auch danach handeln, und die angemessene Aktion kann nur der sich ausweitende Generalstreik sein."
Welche Aussichten hat die Bewegung? Zum erstenmal gibt es keine institutionelle Kraft, die ihr natürlicher Ansprechpartner sein
könnte. Nachdem die Parteien der Regenbogenlinken im Parlament nicht mehr vertreten sind (allen voran Rifondazione Comunista)
und auch große Schwierigkeiten haben, in die Bewegung einzugreifen, tut sich ein Vakuum auf, das die Demokratische Partei (PD)
zu besetzen sucht. Sie hat die vergangenen Monate mit einer soften Pseudoopposition vertan, hat der Regierung umsonst die
Zusammenarbeit angeboten — auf allen Feldern, von der Reform der Institutionen über Alitalia bis zur Wirtschaftskrise. Seit
die Studierenden so massiv auf die Straße gehen, gibt sie sich plötzlich kämpferisch und versucht, auf der Welle der
Mobilisierungen zu schwimmen.
Bei den Schülern und Studierenden greift so etwas nur kurze Zeit,
beim Lehrpersonal hingegen stärker. Sehr gefährlich ist der Vorschlag der PD, ein Referendum für die Abschaffung des
Gesetzes anzustrengen, denn damit würde die Mobilisierung erst einmal abgebrochen zugunsten von Verhandlungen hinter
geschlossenen Türen, und der Bewegung würde ihre Spitze genommen.
Es wird deshalb in den kommenden Wochen darauf ankommen, dass
die Bewegung ihre politische Unabhängigkeit bewahrt, aber auch dass sie eine Diskussion lostritt, die über die
Gesetzesvorhaben der Regierung hinausgeht und die Mitverantwortung der Mitte-Links-Parteien thematisiert. Denn sie sind
maßgeblich für die Reformen verantwortlich, die in den letzten achtzehn Jahren die öffentlichen Schulen und
Universitäten vernachlässigt haben zugunsten der Förderung von privaten Schulen und Universitäten, vor allem
katholischen.
Die PD ist aber nicht die einzige politische Kraft, die versucht, auf der
Welle der Bewegung zu reiten. Es gibt auch besorgniserregende Unterwanderungsversuche durch neofaschistische Kräfte. Sie
haben am 29.Oktober mit Schlägern und Ketten linke Studenten angegriffen, die sich in Rom auf der Piazza Navona zu einer
Demonstration anlässlich der Parlamentsdebatte über das Gesetz versammelt hatten. Die aktiven Teile der Bewegung haben
daraufhin klare antifaschistische Stellungnahmen abgegeben, aber das Problem ist ungelöst, zumal die Neofaschisten mehr oder
weniger offen von der Regierung und der Polizei unterstützt und geschützt werden.
Die Regierung weigert sich rundheraus, die Forderungen der
Bewegung aufzugreifen. Damit stellt sich die Frage, wie ein Rückgang verhindert werden kann, wie Teilerfolge ermöglicht
werden können, die die Bewegung stärken, und wie die Bewegung auf die Gesamtgesellschaft ausgedehnt werden kann.
Im Aufruf zur ersten nationalen Versammlung der Bewegung an der
Universität von Rom am 15./16.November heißt es: „Wir denken an eine Versammlung, die sich vor allem das Ziel
setzt, diese außergewöhnliche Bewegung geografisch und zeitlich auszuweiten. Wir wollen über die Inhalte und Formen
unseres Kampfes sprechen; wir wollen das Thema der Selbstreform nach vorn bringen; wie wir mit den Gewerkschaften und den
prekär Beschäftigten zusammenarbeiten können; wie wir unsere Aktionen fortsetzen, die Stadt lahmlegen und die
Mobilisierung gegen das Gesetz 133 in eine allgemeine Mobilisierung gegen die Wirtschaftskrise verwandeln können."
Die außergewöhnliche Mobilisierung der Schüler und
Studierenden hat neue Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Widerstand gegen die Offensive der Rechten und des
Unternehmerverbands geweckt. Die italienische Bourgeoisie kann gezwungen werden, einen Preis für die Krise zu bezahlen. Von
der Ausweitung der Mobilisierung auf andere gesellschaftliche Bereiche wird es abhängen, ob es möglich ist, auf der Linken
neuen gesellschaftlichen und politischen Spielraum zu gewinnen. Die Mobilisierung der Auszubildenden und die parallel laufenden
Tarifkämpfe — vor allem in der Metallindustrie, die FIOM hat für den 5.Dezember einen Streik angesetzt —
schaffen die Bedingungen für eine gemeinsame Aktion, für einen Generalstreik.
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