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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Dezember 2008, Seite 23

Buchtip zur Novemberrevolution

Von Kiel bis Leningrad

von STEFAN MüLLER

Die Lebenserinnerungen Hermann Knüfkens* sind, wie die Herausgeber in ihrer kurzen Vorbemerkung schreiben, „ein Treibgut der Revolution” Etwa Mitte der 1950er schrieb Knüfken seine Erinnerungen an die Zeit der revolutionären Matrosenbewegung in Kiel 1917/18, die folgende Gefängnishaft in Deutschland, seine Emigration in die Sowjetunion, die Leitung des Internationalen Seemannsklubs in Leningrad sowie seine schließliche Verhaftung durch die sowjetische OGPU.

Es sind die persönlichen Erinnerungen eines proletarischen Revolutionärs, und sie würden sich als sozialistischer Abenteuerroman lesen, wären sich nicht ein reales Produkt des 20.Jahrhunderts. Die Erinnerungen stellen aber auch ein seltenes zeitgeschichtliches Dokument dar. Wie Dieter Nelles in seinem Nachwort festhält, sind sie eines der wenigen authentischen Dokumente der revolutionären Matrosenbewegung, die den Ausgangspunkt der Novemberrevolution 1918 bildete. Und sie geben einen tiefen Einblick in die Bedeutung der Schifffahrt für die Arbeit der Kommunistischen Internationale.
Knüfken wurde 1883 in Düsseldorf geboren und arbeitete ab 1907 als Schiffsjunge und Matrose, 1911 folgten sein Eintritt in die SPD und die Gewerkschaft. Im August 1914 wurde er zur Marine eingezogen und versah seinen Dienst als Vermessungsmaat in der Deutschen Bucht und der Ostsee. Im Mai 1917 gelang ihm mit seinen Kameraden samt Schiff die Flucht nach Dänemark. „Unsere Fahnenflucht war die Konsequenz unserer politischen Überzeugungen. Wir waren keine Pazifisten. Das Deutschtum der Sozialdemokraten war uns zum Kotzen. Wir haben niemals die Schuld Deutschlands am Kriege diskutiert, diese Schuld stand ein für alle mal fest."
Für die Herbeiführung der militärischen Niederlage des Kaiserreichs waren ihm alle Mittel recht, auch der Kontakt zu Geheimdiensten. „Unser Ziel war ein gemeinsames: die militärische Niederlage der deutschen Kriegsmacht.” Nach einer Amnestie für Deserteure kehrte Knüfken im August 1917 nach Deutschland zurück, um revolutionäre Propaganda in der Kriegsmarine zu betreiben. Wenige Monate später missglückte ein zweiter Fluchtversuch. Nur sein Geschick bei den Vernehmungen und die Zuversicht auf den kommenden Umsturz retteten Knüfken das Leben. Kurz vor Beginn der Hauptverhandlung wegen Spionage, die mit der sicheren Erschießung geendet hätte, wurde er am 4.November 1918 durch revolutionäre Kieler Matrosen befreit.

Begegnung mit der Sowjetunion

Im Dezember 1918 nahm Knüfken an der Gründung der KPD und im März 1919 an den Kämpfen in Berlin auf Seiten der Volksmarinedivision teil. Über Riga, wo er kurzzeitig von deutschen Freikorps verhaftet wurde, und Kopenhagen kehrte Knüfken nach Deutschland zurück.
In den parteiinternen Auseinandersetzungen schlug er sich auf die Seite der links- bzw. rätekommunistischen Opposition und arbeitete mit der dann gegründeten KAPD zusammen. Zu zeitgenössischer Berühmtheit gelangte Knüfken, als er im April 1920 in Cuxhaven den Dampfer „Senator Schröder” entführte, um so die Delegierten der KAPD — Franz Jung und Jan Appel — zum 2.Kongress der Komintern zu bringen. In der Darstellung seiner Gespräche in Moskau, u.a. mit Karl Radek und Nikolai Bucharin, werden seine rätekommunistischen Grundsätze und seine frühe Kritik am revolutionären Russland deutlich. „Unsere Auffassung über innerparteiliche Demokratie war natürlich weit verschieden von der russischen innerparteilichen Praxis. Bei uns: Aufbau von unten. Recht der unteren Parteieinheiten: Betriebszelle, Wohnzelle und Ortsgruppe, die Aufgaben der Partei, die Politik der Partei und das Programm der Partei in freier Aussprache zu bestimmen. Die Delegierten auf den Bezirkskonferenzen und selbstverständlich besonders auf dem Parteikongress haben nicht ihre eigene Meinung zu vertreten, sondern die Beschlüsse der Parteieinheiten, von den sie gewählt wurden."
Auch wenn Knüfken sich selber nie als Theoretiker sah — er war „nur ein Seemann, kein Berufsrevolutionär, kein Theoretiker” — spiegeln sich in seiner Haltung die Analysen und Prinzipien eines Teils der deutschen Arbeiterklasse wieder. Dabei handelte es sich um jenen Teil, den man als einen der Hauptträger der Novemberrevolution bezeichnen kann. Knüfken kehrte wieder zur KPD zurück, blieb aber in den all den Jahren auf Distanz zu den fraktionellen Auseinandersetzungen in Deutschland und vor allem in der Sowjetunion, die er hautnah miterlebte. Die „Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat unter der Leitung der Kommunistischen Partei” und die „Diktatur des Proletariats” wurden von Knüfken „hundertprozentig akzeptiert” Aber: „Was ich nach Lenins Tod auszusetzen hatte an der bolschewistischen Partei und ihren Führern, war das vollkommene Außerachtlassen der proletarischen Demokratie in der Partei selbst. Die Masse der Parteimitglieder hatte jeden Einfluss auf die Gestaltung der Politik der Partei verloren.” Die Führer der Partei hatte Knüfken weitgehend selber kennengelernt, was ihn jedoch zu der Erkenntnis kommen ließ, „dass sie alle, der eine mehr, der andere weniger, Diktatoren waren” Dafür, dass die Parteiopposition in den 1920er Jahren und vor allem ab 1925 scheiterte, machte Knüfken drei Momente verantwortlich: Zum einen „ihre Angst, ihre revolutionären Standpunkte zu vertreten, als sie noch die Massen hinter sich hatten”, zum zweiten „ihr Glaube an die Parteidisziplin” und drittens „ihre Unfähigkeit, die Losungen und Prinzipien einer proletarischen Demokratie in der WKP (B) und in den Gewerkschaften (WZSPS) zu verwirklichen”

In der Lubjanka

Nach seiner Rückkehr aus Moskau wurde Knüfken in Deutschland wegen der Schiffsentführung verhaftet und befand sich von Oktober 1920 bis Mai 1923 in Haft. Nach seiner Freilassung, die durch eine Reihe von Hungerstreiks und auf Druck Hamburger Arbeiter durchgesetzt wurde, reiste Knüfken nach Petrograd und arbeitete dort u.a. für die Rote Gewerkschaftsinternationale (RGI). Ab 1925 übernahm er die Vertretung der skandinavischen, englischen und niederländischen Seeleuteorganisationen und richtete Zahlstellen ein. Über den Internationalen Seemannsklub organisierte Knüfken die Arbeit dieser Gewerkschaften in Leningrad, betrieb kommunistische Agitation unter den vor Ort liegenden ausländischen Schiffen und organisierte einen Teil des geheimen Kurierdienstes der Komintern und der RGI.
Ab 1927 wurde Knüfken verstärkt durch die OGPU überwacht, u.a. da er von ausländischen Gewerkschaften beschlossene Streikmaßnahmen auch auf den in Leningrad liegenden Schiffen durchsetzte — was nicht immer mit den Interessen der sowjetischen Partei und Regierung übereinstimmte. Mit der Unterstützung Bucharins konnte Knüfken seine Arbeit noch eine Weile fortsetzen, im Sommer 1929 wurde er jedoch verhaftet. Im Frühjahr 1930 wurde Knüfken in die Lubjanka nach Moskau verlegt und war damit ein politischer Gefangener, der aus Sicht des sowjetischen Geheimdienstes offenbar einer besonderen Beachtung wert war. Aber auch im Rückblick, immerhin 25 Jahre nach seiner Verhaftung, unterschied Knüfken zwischen den in Revolutionszeiten notwendigen Abwehrmaßnahmen und der später verselbständigten Geheimdienstbürokratie. „Die Tscheka war ein Instrument des Klassenkampfs während der Grashdanksja Wojna (Bürgerkrieg), eine Sicherheitsmaßnahme der Revolution. Die OGPU war, wie der Name sagt, die Vereinigte Staatspolizei-Verwaltung ... Nachdem die Stalin-Fraktion die OGPU installiert und sie zu ihrem innenpolitischen Machtinstrument gemacht hatte, wurde sie selber zum Staat."
Eindrucksvoll schildert Knüfken das Repressionssystem, dem später nahezu alle führenden Bolschewiki der Revolutionszeit zum Opfer fielen. Nach viele Monate dauernden Verhören wurde Knüfken in eine Sammelzelle mit elf anderen Inhaftierten verlegt. Diese Zelle stellte für die übergroße Mehrheit die letzte Station vor ihrer Erschießung dar, ob mit oder ohne Urteil. Auch von hier aus wurden die Gefangenen noch zu Verhören geholt, nur wussten sie nie, ob dies ihr letzter Gang war. Erst wenn fünf Minuten nach der Abholung zum Verhör, in der Regel gegen Mitternacht, nicht der Wärter hereinkam, um die Sachen des Gefangenen zu holen, wusste die Gruppe, dass der Abgeführte noch einmal zurückkehren würde.

Rettung in England

Knüfken hatte Glück, viel Glück. Nach internationalen Protesten und einer Demonstration von Seeleuten in Leningrad wurde er Ende Mai 1930 entlassen. Anderthalb Jahre später kehrte er nach Hamburg zurück und arbeitete bis 1933 im Vertrieb der Arbeiter Illustrierten Zeitung von Willi Münzenberg. Im Mai 1933 flüchtete Knüfken, gelangte nach Rotterdam und landete schließlich nach seiner Ausweisung aus den Niederlanden in Antwerpen. Dort leitete er eine illegale KPD-Zelle, die eine intensive und weitreichende Agitation unter deutschen Seeleuten und Rheinschiffern betrieb. Nach Konflikten mit der KPD-Leitung trennte sich Knüfken von der Partei, und die Antwerpener Gruppe setzte ihre antifaschistische Arbeit unter der Führung der Internationalen Transportarbeiterföderation fort. Diese Gruppe hatte in der Hochphase ihrer Arbeit Kontakte zu zwei Dritteln der über 900 deutschen im Ausland fahrenden Schiffe und eigene Vertrauensleute in einem Drittel dieser Besatzungen.
Wie schon im Ersten Weltkrieg nahm Knüfken auch wieder den Kontakt zu Geheimdiensten auf. 1939 flüchtete er nach London. Während einer Reise nach Schweden wurde Knüfken dort 1940 festgenommen und blieb bis zum Februar 1944 in Haft. Die deutsche Regierung hatte einen Auslieferungsantrag gestellt, dem die schwedische Regierung nur aufgrund des immensen Drucks Englands nicht nachgab. Knüfken lebte dann von 1944 bis 1946 in England, arbeitete von 1946 bis 1949 im Auftrag der britischen Regierung in der Entnazifizierungskommission für Seeleute in Hamburg und von 1950 bis zu einem Schlaganfall 1965 in England für das britische Außenministerium. Nelles vermutet, dass es sich dabei ebenfalls um eine nachrichtendienstliche Tätigkeit gehandelt hat. Nachdem sich Knüfken aus allen beruflichen und politischen Tätigkeiten zurückgezogen hatte, soll er, was nach Lektüre seiner Lebenserinnerungen doch erstaunt, Mitglied der Konservativen Partei geworden sein.
Von Kiel bis Leningrad endet 1930 mit der Freilassung Knüfkens aus der Lubjanka. Die Herausgeber Hansen und Nelles haben aus diesem Grunde im Anhang eine Reihe von Dokumenten, eine Chronologie sowie ein Nachwort beigefügt, die den weiteren Lebensweg Knüfkens beleuchten.
Die Erinnerungen lesen sich wie ein politischer Roman, nach drei Abenden hat man ihn verschlungen.

*Hermann Knüfken, Von Kiel bis Leningrad. Erinnerungen eines revolutionären Matrosen 1917 bis 1930 (Hg. A.Hansen), Berlin: Basisdruck, 2008, 474 S., 28 Euro.


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