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Der Einstieg in diesen Film gelingt mühelos. „Als ich nach Amerika kam, wollte ich alles
hinter mir lassen. Ich wollte schweigen, nie mehr darüber sprechen.” Gerda Schrage sagt das, Gerda, deren Schweigen das
Thema des Films ist. Gerda ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Sie ist Jüdin. Wir sehen Szenen und Eindrücke aus den
heutigen New York, Bilder die fast zu schön anmuten. Hier lebt Gerda Schrage, nunmehr 88 Jahre alt, immer noch. Dann kommt der
zweite Protagonist des Films zu Wort, Knut Elstermann, Berliner Filmjournalist — auf seinem Buch Gerdas Schweigen basiert der
Film.
Wir sehen einen schönen Ost-Berliner Kaffee-und-Kuchen-Tisch.
Knut Elstermann erzählt eines seiner eindrücklichsten Kindheitserlebnisse. Seine Nenntante Gerda kommt 1967 auf Besuch
nach Ost-Berlin. Die Wohnung wird geschrubbt, die Freude ist groß. Gerda gehörte irgendwie zur Familie, Knuts
Urgroßeltern waren Nachbarn ihrer Eltern, seine Großtante Hilde half ihr, als sie Anfang der 40er Jahre untertauchte. Kurz
bevor Gerda kommt, wird Knut von seiner Mutter ermahnt, nur ja nichts von Auschwitz oder ihrem ersten Kind zu erwähnen. Doch als
Tante Gerda von ihrem Sohn Steven erzählt, der vielleicht nach Vietnam in den Krieg muss, fragt Knut: „Du hast also wieder
ein neues Kind?” Betretenes Schweigen.
2004, wollte er Tante Gerdas Geschichte auf den Grund gehen. Er
beschreibt seine Motivation so: „Das hing eng mit dem Tod meiner Großmutter zusammen. Sie war eine wunderbare
Erzählerin ... Als sie starb, war plötzlich eine Tür zu. Da habe ich gemerkt, dass ein Stückchen unserer eigenen
Geschichte vorbei und so vieles immer noch unbeantwortet ist.” Nach und nach „brach” er Gerdas Schweigen und
verarbeitet sowohl ihre Geschichte, als auch seine Suche danach in seinem Buch, das 2005 erschien. Britta Wauer, die Regisseurin, begab
sich für den Film in seine Fußstapfen, baute langsam Kontakt zu Gerda auf.
Wie gut ihr das gelingt, zeigt der Film. Thema des Films ist jedoch auch
Knuts Buch und die Folgen. Denn trotzdem er Antworten auf seine Fragen erhielt, gibt es kein „Happyend”, wie er selber im
Laufe des Films sagt. Steven, Gerdas Sohn, 1953 in den USA geboren, erfährt durch eine Internetrecherche von der in Auschwitz im
Alter von zwei Wochen verhungerten Tochter. Wie Knut Elstermann später herausfand, war Gerdas kleine Tochter, die Silvia
hieß, Teil eines mörderischen Experiments des KZ-Arztes Mengele. Er wollte sehen, wie lange Säuglinge ohne Nahrung
überleben können. Zu diesem Zweck gipste man die Brüste der Mütter zu.
Kinder von russischen Frauen, die im KZ geboren wurden, blieb, so
fand Knut heraus, dieses Schicksal offenbar erspart. Das lange Schweigen über dieses ungeheuerliche Geschehen war schwer
für Gerda, aber ebenso schwer ist fraglos das Wühlen in der Vergangenheit. Letztendlich scheint sie aber von einer Last
befreit.
Britta Wauer erzählt bei einer Kölner Vorführung des
Films, dass sie sich viel Zeit für Gerda genommen hat. Das merkt man. Die Gespräche sind behutsam geführt und
einfühlsam gefilmt. Die Aufnahmen von Gerdas New Yorker Umgebung sind oft zu „schön”, wie die
Helikopteraufnahmen aus dem Archiv. Schön verwendet sind die privaten Fotos, und durchaus gelungen die vielen Filmaufnahmen
aus dem Archiv über das Berlin der 30er Jahre bspw. oder die Aufnahmen der jüdischen Näherinnen. Gerda ist 1920
geboren, mit 14 verließ sie die Schule und wurde Näherin. Ihre Eltern wurden 1939 deportiert, sie stand plötzlich allein da
und tauchte unter.
Viel aus dieser Zeit erfahren wir von Knuts Tante und seiner Mutter.
Diese Gespräche sind Höhepunkte des Films, die junge Gerda wird durch ihre Schilderungen lebendig. Wir erfahren von ihrer
ersten großen Liebe, einem ungarischen Kürschner, der sich dann als Don Juan entpuppt. Gerda schämt sich sichtlich,
über ihn zu erzählen, eine Affäre, die ihre jüdische Gemeinde sicherlich heute noch verurteilen würde, meint
sie.
Ihrem späteren Mann, Sam, verschweigt sie diese erste Liebe.
Sam ist polnischer Jude, so wie Gerdas Eltern, seine ganze Familie war von den Nazis ermordet worden. Auch ihm erzählt sie nichts
von ihrer Tochter, die in Auschwitz verhungern musste. Doch wir erfahren, dass sie diese Geschichte nicht immer verschwiegen hat. Als sie
unmittelbar nach Kriegsende nach Berlin zurückkehrt, hat sie, so erzählt Knuts Mutter, all die furchtbaren Dinge ihrer
„Adoptivfamilie”, also Knuts Großmutter und Großtante erzählt. Dadurch wußte man davon und
warnte den kleinen Knut vor dem denkwürdigen Besuch Gerdas in Berlin.
Der Regisseurin Britta Wauer gelingt die Balance: Gerda steht im
Mittelpunkt des Films, allein durch die Länge des Films gibt es genug Raum für Gerdas ganzes Leben und der lange Prozess
des Erzählens, Wegschiebens und sich erneut in die Vergangenheit Zurückbegebens. Fast durchwegs gelingt die
Gegenüberstellung von Bildern der Gegenwart und der Vergangenheit.
Nicht so gut gelungen ist eine Verquickung von Auschwitzbildern mit
heutigen New-York-Bildern. Die Filmmusik, für sich genommen gut gelungen, auch wenn etwas „hollywoodartig”,
drängt sich besonders gegen Ende des Films immer mehr auf und stört beinahe.
Bei der Kölner Vorführung erklärte dazu die
Regisseurin, dass es für sie wichtig ist, eine Geschichte so zu erzählen, wie man sie fühlt. Der anwesende Filmkomponist
Karim Sebastian Elias erzählte von seinen Startschwierigkeiten, er hatte das Gefühl, jede Note sei zu viel. Leider hat er damit
durchaus Recht. Elias, der sonst Musik für Spielfilme macht, wollte durch seine Arbeit den Film auch für junge Generationen
zugänglicher machen. Eine löbliche Absicht, die man nur allzu gut nachvollziehen kann. Nur ist so die Gefahr groß, in die
Nähe gut verdaulicher Fernsehgeschichtskost zu gelangen. Das wird jedoch durch das Fehlens eines Happyends verhindert.
Wie sehr Gerdas Sohn von der Nachricht über die tote Schwester
buchstäblich erschüttert ist, wird unmittelbar in den kurzen Gesprächen mit ihm deutlich. Seiner Schwester wurde zwar
durch das Erinnern Leben eingehaucht, ganz klar gibt es aber Wunden, die nie verheilen, egal wie viel Zeit verstreicht. Indem der Film
diese Ambivalenz vermittelt, gibt er den Zusehern auch den Raum wieder, den die Musik oftmals wegzunehmen droht.
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