SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2009, Seite 04

Menschenrechte statt Staatsräson

Offener Brief (Auszug) an die Deutsch-Israelische Gesellschaft AG Duisburg—Mülheim—Oberhausen

von Hermann Dierkes

Auf der Palästina-Solidaritäts-Demonstration in Duisburg am 10.1. bewarfen Demonstranten zwei aus einem Fenster gehängte israelische Fahnen mit Schneebällen. Daraufhin drang die Polizei in die Wohnung ein und entfernte die Fahne. Die jüdische Gemeinde sprach von einem antisemitischen Akt der Polizei und forderte die Absetzung des Polizeipräsidenten. Hermann Dierkes, Fraktionsvorsitzender der PDS-OL in Duisburg, wandte sich in einem Offenen Brief an die Deutsch-Israelische Gesellschaft.

Sehr geehrte Damen und Herren,

[...] der aus meiner Sicht leider bewusst hochgespielte Zwischenfall hat für mich folgende Aspekte:
Die freie Meinungsäußerung und das Demonstrationsrecht sind demokratische Grundrechte und universale Menschenrechte. Sie haben grundsätzlich auch für eine — nicht verbotene — Organisation wie Milli Görüs zu gelten, deren politische Ansichten, insbesondere den großtürkischen Nationalismus, ihr fundamentalistisches Eiferertum und ihren Antisemitismus ich absolut nicht teile und auch niemand in der LINKEN.
Wir haben uns an der von Milli Görüs durchgeführten Demonstration gegen den Krieg im Gaza-Streifen nicht beteiligt (und sind übrigens dazu auch zu keiner Zeit aufgefordert worden).
Ich halte es zusammen mit meinen Parteifreundinnen und -freunden für richtig, sich mit Tendenzen wie Milli Görüs — die auch in Duisburg leider keine unbeträchtliche Unterstützerbasis hat — politisch auseinanderzusetzen, die vielfach noch vorhandenen und schwerwiegenden Benachteiligungen der Migrantenbevölkerung zu bekämpfen und damit Strömungen bzw. Organisationen wie Milli Görüs den Nährboden zu entziehen.
Ich teile deshalb nicht Ihre Ansicht bzw. Ihren Appell an die verantwortlichen Entscheider, wie Sie schreiben, „Großveranstaltungen islamistischer Organisationen, wie z.B. Milli Görüs, (seien) grundsätzlich nicht genehmigungsfähig” Ich halte es für richtig, keine Märtyrer zu schaffen, sondern dem Märtyrertum politisch den Nährboden zu entziehen.
Zu einem objektiven Bild gehört auch, dass die Großdemonstration im Wesentlichen friedlich verlaufen ist. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass sich die Demonstrationsleitung von dem Zwischenfall an der Claubergstraße distanziert hat. Ich teile auch nicht Ihre Ansicht, bei der Demonstration habe es sich um „Mob”, „brüllende Meute” und „Sympathisanten radikalislamistischer Terrorgruppen” gehandelt. Auf der Demonstration waren auch viele Kinder und Jugendliche. Antisemitische Parolen haben offenbar nicht das Bild geprägt, sondern haben sich auf eine kleine Minderheit beschränkt.
Was das Verhalten der Einsatzleitung der Polizei betrifft, so kann man da in der Tat geteilter Meinung sein. Das Aufbrechen einer Wohnung, um Symbole zu entfernen, die Demonstrationsteilnehmern nicht passen, ist ein gravierender Vorgang. Dennoch teile ich die Ansicht des GdP-Vorsitzenden NRW, Frank Richter, der sich angesichts der Komplexität des Themas mutig geäußert hat und dies als eine mögliche Handlungsoption der Polizei sieht, um Schlimmeres zu verhindern. Schlimmeres wäre in diesem Fall gewesen, wenn es zur Eskalation gekommen wäre, die insbesondere zu Verletzten unter den Beteiligten und Unbeteiligten geführt hätte. Dies wird von vielen Stellungnahmen abgetan und auch nach Ihrer Ansicht hätte die Polizei besser die Konfrontation riskiert. Ich sehe das vollkommen anders. Das Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit hat m.E. im Rahmen der Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes der Polizei klar Vorrang, sogar vor dem Eindringen in eine Wohnung und dem Schutz eines weißen Baumwolltuchs mit blauen Symbolen, auch wenn es eine Staatsflagge ist. [...]
Was mich zutiefst besorgt und betrübt und was auch Sie aufhorchen lassen sollte, ist allerdings die Flut von E-Mails und Protesten an die Medien, die Gewaltfreiheit, Meinungsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung offensichtlich nur vorschieben, um ihrer Islamophobie freien Lauf zu lassen. Sehr viele dieser Stellungnahmen sind nach Geist und Buchstaben überhaupt nicht von demokratischen und emanzipatorischen Grundsätzen geprägt. Es handelt sich um hasserfüllte Ergüsse, und zwar ganz pauschal gegen alles, was islamisch ist.
Die Migrantenbevölkerung als solche wird in zahlreichen Mails und Stellungnahmen auf ganz unflätige und unakzeptable Weise attackiert. Das sollte auch für die DIG ein sehr ernstes Warnsignal sein. Ich möchte Sie bitten, genau darüber nachzudenken, in welches Lager Sie sich mit Ihrer Stellungnahme begeben.
Die Empörung über die Tausende ziviler Opfer und Zerstörungen und die Forderung nach einem gerechten Frieden in Palästina sind nach unserer Meinung vollauf berechtigt. [...]
Ich gehe davon aus, dass die Deutsch-Israelische Gesellschaft keine Regierungsinstitution ist, dass sich in ihr Menschen zusammen gefunden haben, die für die Völkerverständigung arbeiten wollen und dass die 100%ige Zustimmung zur israelischen Regierungspolitik nicht ihre Arbeitsplattform ist. Leider erwecken Sie in Ihrer Stellungnahme aber genau diesen Eindruck. Sie finden leider kein einziges Wort der Kritik oder des Bedauerns an dem brutalen Krieg in Gaza. Dieses Motiv will ich allen rd. 10000 Teilnehmern — im Gegensatz zu Ihrer Stellungnahme — nicht rundweg absprechen. Ihre Stellungnahme ist leider von bedingungsloser Loyalität zur israelischen Regierungspolitik getragen. [...]
Ich bin davon überzeugt: Das kann keine Zukunft haben, und es müssen endlich andere Wege beschritten werden, um den Frieden in Israel/Palästina dauerhaft zu erreichen und zu sichern.
Eine Verständigungsarbeit der DIG könnte dafür einen wertvollen Beitrag liefern. Voraussetzung ist allerdings, dass sie von universalen Menschenrechtsprinzipien getragen ist und nicht von einer zweifelhaften Staatsräson.

Duisburg, den 14.1.09


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang