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Seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Untersuchung 2001
sind die Schulministerien mit jedem weiteren für Deutschland ungünstigen Ergebnis
immer stärker in die Kritik geraten. PISA war und ist eine Bankrotterklärung
für das deutsche Schulsystem. Seitdem geht es in der öffentlichen Darstellung nur
noch um die Rechtfertigung ihrer eigenen Politik.
Die Minister bezeichnen
Bildung als ein Mittel gegen Armut und machen Bildung gleichzeitig zur Ware: Mit jedem Jahr
wird die Lernmittelfreiheit weiter gekürzt, (Schul-)Bibliotheken werden geschlossen, die
öffentlichen Schulen verkommen. Zu keinem Zeitpunkt haben die Kultusminister ernsthaft
die Diskussion mit den Betroffenen oder gar Lösungsstrategien gesucht. Ungünstige
PISA-Ergebnisse werden verschleiert, statistisch unbedeutende Veränderungen als Erfolg
gewertet. Dabei heißt es in der offiziellen PISA-Broschüre der OECD: „Das
Hauptziel ... dieser groß angelegten Untersuchung ist ... die Gewinnung von empirisch
gesicherten Informationen, die als Grundlage von schulpolitischen Entscheidungen dienen
können.” Stattdessen greift die Testwut um sich, vom eigenen Versagen wird
abgelenkt.
Vor der Veröffentlichung
der ersten PISA-Daten 2001 kannten wir weder flächendeckende
Leistungsüberprüfungen in der Grundschule noch Vergleichsarbeiten in den
Jahrgängen 6, 9 und 10, es gab keinen zentralen Sekundarstufe-I-Abschluss und auch kein
Zentralabitur. Ungeachtet aller pädagogischen Erfahrung geht die Kultusbürokratie
nun davon aus, dass die Einführung von Vergleichsarbeiten (sprich Ranking) das
Leistungsniveau anhebe. Sie verstärken aber die ohnehin schon vorhandene Selektion. Das
Kernproblem des deutschen Bildungssystems, die Abhängigkeit der schulischen Leistung von
der sozialen Herkunft, verschärft sich mit jedem weiteren Test.
Sorgenkind ist und bleibt die
Hauptschule. Jetzt wollen die Kultusminister die Ansprüche an die Hauptschule so weit
herunterfahren, dass die Zahl der Scheiternden sinkt. Abschaffen wollen sie die Hauptschule
jedoch nicht. Vielmehr soll sie von den Bildungsstandards der allgemeinbildenden Schulen
abgekoppelt werden. Damit werden praktisch Förderschulen (Sonderschulen) geschaffen, die
sich nicht an Lernstandserhebungen beteiligen.
Der in diesem Jahr von der Kanzlerin veranstaltete „Nationale Bildungsgipfel”
hatte reinen Symbolcharakter. Er wird keine Auswirkungen haben auf die
— rund 80000
Schüler, die jährlich die Schule ohne Abschluss verlassen;
— die 400000
Sonderschüler, die keine Chance auf dem Ausbildungsmarkt haben;
— die 500000
Jugendlichen, die in Übergangsmaßnahmen „geparkt” werden, anstatt ganz
normal einen Beruf zu erlernen.
Stattdessen wird in der
Bildungspolitik methodisch Chaos betrieben, indem das deutsche PISA-Konsortium andere Indizes
verwendet als die OECD, damit die BRD günstigere Werte erzielt, vor allem wenn es um
Chancengleichheit geht, um die es bei uns so schlecht bestellt ist.
Aber auch beim
Bundesländervergleich (PISA-E) wird mit Nebelkerzen geworfen. Wichtige Informationen
kommen nur am Rande zur Sprache, bspw. dass Sachsen, das sich als „Testsieger”
feiern lässt, seine Problemschüler schneller als jedes andere Bundesland in
Sonderschulen abschiebt — Sachsens Anteil liegt hier bei 6% gegenüber 4% im
Bundesdurchschnitt; Sonderschüler werden für PISA ja nicht getestet. Sachsen feiert
sein zweigliedriges Schulsystem, doch die Entscheidung für das Gymnasium fällt auch
hier nach der vierten Klasse und die Mittelschüler werden zwei Jahre später in
Haupt- und Realschulgänge sortiert — dann sind wir wieder bei der Dreigliedrigkeit,
und Gesamtschulen gibt es hier nicht. Sachsens „gutes” Abschneiden relativiert
sich weiter, wenn sich herausstellt, dass es im Vergleich zu Finnland einen Rückstand von
einem ganzen Schuljahr hat. Da gibt es nichts zu feiern.
Zwischen den Bundesländern sind die statistischen Unterschiede ganz unbedeutend
— manchmal betragen sie nur ein Prozentpunkt, entscheiden aber über einen
höheren oder niedrigeren Platz, ohne eine verwertbare Aussage zu liefern. In Baden-
Württemberg, Bayern und Niedersachsen ist die Beteiligung freiwillig und damit die
Teilnahmequote niedrig. In den übrigen Bundesländern liegt sie teilweise um 10%
höher. Hätten alle Bundesländer die gleiche niedrige Quote wie BW, würde
sich auch die Rangfolge ändern, BW käme dann vom 4. auf den 9.Platz.
Das zeigt, wie fragwürdig
die Vergleiche sind. Einmal ganz abgesehen davon, dass die Test Momentaufnahmen sind, die
weder etwas über die Ursachen von Leistungsmängeln aussagen noch darüber, wie
die Leistungsprobleme angegangen werden sollen.
Aber das sollen die Tests auch
nicht. Sie dienen nur noch dazu, dass sich die Politiker von ihnen bestätigen lassen, was
sie „schon immer” gesagt haben. Sie unternehmen nichts oder das Falsche, sie
helfen nicht, sie ändern nichts.
Und in den Schulen blüht
der bürokratische Wahnsinn, versinken die Pädagogen in Arbeitsplänen,
Lernstandserhebungen und Vergleichsarbeiten, die dann in Steuerungsgruppen und Kompetenzteams
diskutiert werden müssen. Unterricht wird zur Nebensache und dient nur noch dazu, wieder
neue Tests schreiben zu können. Schon in der Grundschule stehen die Kinder immer
stärker unter Stress, die ausgeklügelte Sortiermaschine Schule macht Angst und immer
häufiger landen Kinder und Jugendliche beim schulpsychologischen Dienst.
Statt testen — testen
— testen brauchen die Lehrkräfte Fortbildung, die Schüler kleine Lerngruppen,
individuelle Förderung und ein Unterrichtsklima ohne Ranking in einer gut ausgestatteten
Schule, die Spaß macht und eine Schule für alle ist.
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