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Das Thema Arbeitszeitverkürzung ist trotz steigender
Unterbeschäftigung für die Gewerkschaften Tabu geworden. Jetzt wagt Ver.di NRW einen
neuen Vorstoß. Mit Gregor Falkenhain, dem Fachbereichsleiter Bund/Länder im Bezirk
NRW, sprach Jochen Gester.
Mit einem Aufruf, unter den Unterschriften gesammelt werden sollen, wagt ihr einen
neuen Anlauf um das Thema „Arbeitszeitverkürzung” Es soll bei Ver.di wieder
auf die Tagesordnung komen. Wer sind die Initiatoren des Aufrufs und für welche
Forderungen macht ihr euch stark?
Derzeit sammeln wir noch weitere Unterschriften. Initiiert wurde der Appell von Ver.di-
Mitgliedern aus NRW, die in den letzten Tarifrunden arbeitszeitpolitische Ziele vermissten.
Wir wollten nicht einstimmen in die monatlichen Jubelveranstaltungen, die anlässlich der
Veröffentlichung der Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren stattfanden. Wer sich mit
„nur” 3 Millionen Arbeitslosen zufrieden gibt, übersieht, dass diese
ungeheuer große Zahl von Ausgegrenzten nach wie vor die Rolle der „industriellen
Reservearmee” ausfüllt, wie es Karl Marx seinerzeit richtig analysierte. Deshalb
steht im Zentrum unseres Aufrufs die Umverteilung von Arbeit durch deutliche Reduzierung der
Wochen- und Lebensarbeitszeit.
Die Hauptauseinandersetzung um die Verkürzung der Arbeitszeit fand in den 80er
Jahren statt. Doch spätestens mit der Wende begann auch die Gegenoffensive der
Arbeitgeberverbände, die erneut zu einer Ausweitung der realen Arbeitszeiten geführt
hat. Auch haben die Arbeitgeber bei der Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung versucht,
ihre erhöhten Kosten durch Intensivierung und Flexibilisierung wett zu machen. Das hat
der Akzeptanz der Arbeitszeitverkürzung geschadet. Im Aufruf betont ihr, es sei Zeit
für eine neue Offensive in dieser Frage. Wie soll das durchgesetzt werden?
Leider ist richtig, dass die realen positiven Effekte der Arbeitszeitverkürzung in
den 80er und 90er Jahren zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen von vielen
Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben nicht wahrgenommen wurden. Dabei wird
übersehen, dass Leistungsverdichtung und Arbeitsintensivierung im Kapitalismus auch dann
stattfindet, wenn keine Arbeitszeitverkürzung tariflich vereinbart wird.
Arbeitsintensivierung ist
keinesfalls das zwingende Ergebnis von Arbeitszeitverkürzung. Unser Aufruf hat das Ziel,
diese Fragen wieder diskutierbar zu machen, um dann erneut mobilisierungsfähig zu sein.
Was durchsetzbar ist, entscheiden letztlich kollektives Bewusstsein und solidarisches Handeln
der Organisation, und nicht mediale Trendsetter.
Haben sich die von mir beschriebenen Bedingungen denn verändert und wie
begründet ihr eure These, dass es nun Zeit sei für eine neue Offensive? Wer kann sie
führen?
In der Tat hat die IG Metall auch Tarifverträge unterschrieben, die
Öffnungsklauseln für die Abweichung von der 35-Stunden-Woche zuließen und die
Arbeitszeiten extrem flexibilisierten. Welche Motive dabei eine Rolle spielten, will ich hier
mal außen vor lassen. Andere Gewerkschaften sind den Weg zur 35-Stunden-Woche nicht zu
Ende gegangen. Das gilt auch für Ver.di. Wir haben bei Arbeitszeitverkürzungen nicht
eindeutig darauf geachtet, dass dies bei vollem Lohnausgleich geschieht, und wir konnten im
öffentlichen Dienst nicht verhindern, dass Arbeitszeitverlängerungen attraktiv
gemacht wurden.
Doch gerade hier sehe ich auch
deutlich positive Veränderungen. Die Mobilisierungen in der Tarifrunde im
Länderbereich 2006 und die Warnstreiks im Frühjahr 2008 bei den Kommunen haben
gezeigt, dass viele Arbeitnehmer die Frage der Arbeitszeit wieder höher bewerten, als
dies vor wenigen Jahren noch der Fall war. Gerade die Kolleginnen und Kollegen im
öffentlichen Dienst konnten erleben, wie sich Politiker außerstande sehen, die
Arbeitsplatz schaffende Wirkung von Arbeitszeitverkürzung zu berechnen.
Bei der Verlängerung der
Arbeitszeiten für Beamte sind sie jedoch in der Lage, mathematisch genau die
Stellenanteile zu ermitteln, die künftig wegfallen, und sie können das in den
Haushalten in Zahlen gießen. So konnte jeder im Haushalt 2003-2004 nachlesen, dass in NRW
die Arbeitszeitverlängerung der Beamten von 38,5 auf 41 Stunden 11300 Stellen gekostet
hat. Ebenso 2006. Weil 2006 auch durch den 14-wöchigen Streik nicht verhindert werden
konnte, dass die Arbeitszeit der Tarifbeschäftigten auf 39,8 in NRW verlängert
wurde, entfielen 1500 Stellen.
Wie sieht die Beschlusslage bei Ver.di aus und was wurde daraus in den letzen
Tarifauseinandersetzungen?
In Ver.di gibt es keinen einzigen Beschluss, der Arbeitszeitverlängerungen gut
heißt, aber Hunderte von Beschlüssen zur Fortsetzung des Kampfes um die
Verkürzung der Arbeitszeit. Leider liegen derzeit auf keinem anderen Feld Beschlusslage
und Praxis weiter auseinander als hier.
In den vergangenen Tarifrunden
konnte nicht einmal eine Reallohnsicherung erreicht werden. Wie und mit wem soll es da
möglich sein, eine Arbeitszeitverkürzung in großen Sprüngen zu erreichen,
die für den vollen Lohnausgleich eine hohe zweistellige Tariferhöhung erfordern
würde?
Zumindest in 2008 waren wir
mit unseren Tarifabschlüssen erstmalig seit Jahren wieder nah an der
Realeinkommenssicherung. In Zukunft müssen wir allerdings unsere Forderungen wieder
stärker aus der Interessenlage der Beschäftigten und Erwerbslosen ableiten und
weniger von den Zahlen sog. Expertenkommissionen, die nicht selten nur Auftragsgutachten
abliefern.
Die meisten Unterzeichner
unseres Appells werden die Einschätzung teilen, dass wir nicht aus dem Stand große
Sprünge zur Arbeitszeitverkürzung machen können. Doch wir müssen das
wieder zum Thema machen, erneut über die Notwendigkeit von Arbeitszeitverkürzung
aufklären, mobilisieren und auch wieder emotionalisieren. Warum soll nicht noch einmal
eine ähnliche gesellschaftliche Breitenwirkung erreicht werden wie in den 80er Jahren?
Der nächste Schritt muss eine Trendwende sein.
Was werden die nächsten Schritte in eurer Kampagne sein?
Wir werden in Kürze mit dem Appell an die Öffentlichkeit gehen. Wir werden
beweisen, dass sich das Thema Arbeitszeitverkürzung weder enteignen noch kastrieren
lässt.
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