SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2009, Seite 12

Gaza: Was will Israel mit diesem Krieg?

Moshe Machover beschreibt Israels mittel- und langfristige strategische Ziele

Israel ist entschlossen, jede eigenständige palästinensische Führung zu zerstören. Sein Ziel ist, jeder nicht willfährigen palästinensischen Führung die Ausübung der politischen Macht zu verunmöglichen.

Was ist der Grund für den Krieg gegen Gaza und warum ist er jetzt ausgebrochen?

Wie gewöhnlich in solchen Situationen gibt es mehr als einen Grund. Als erstes sind da die kommenden Wahlen in Israel — die Koalitionsparteien Kadima und Arbeitspartei konkurrieren mit dem Likud, der von Binyamin Netanyahu geführten größten Oppositionspartei. Aber dies ist wirklich der oberflächlichste Grund. Die Weihnachtszeit war für Israel ein günstiger Zeitpunkt, weil die Weltöffentlichkeit, vor allem im Westen, abgelenkt ist. Und dann ist da noch der Übergang der US- Präsidentschaft.Zentral ist etwas anderes: Alle großen israelischen Parteien sind sich darin einig, dass die Palästinenser überall dort von ihren Territorien zu entfernen sind, wo sie in konzentrierter Form auftreten. Das langfristige Ziel ist also eine ethnische Säuberung. Ein Zwischenschritt zu diesem Ziel ist mittelfristig, die Palästinenser in nicht miteinander verbundene Ghettos aufzusplittern. Das schlimmste dieser Ghettos ist der Gazastreifen — er wurde als das der Welt größte Gefängnis unter freiem Himmel bezeichnet. Dort leben anderthalb Millionen Menschen mit einer sehr schwachen ökonomischen Infrastruktur. Was sich dort regt, ist regelmäßig Zielscheibe israelischer Militäraktionen; Israel kontrolliert und blockiert oft jeden Zugang zu diesem Gebiet. Für die Palästinenser ist es die Hölle.
Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass Israel in alledem von Ägypten unterstützt wird. Der Gazastreifen hat eine gemeinsame Grenze mit Ägypten — die ist geschlossen und wird von ägyptischem Militär stark bewacht.
Kurz- oder mittelfristig ist Israel entschlossen, jede palästinensische Führung zu zerstören. Dafür haben die Israelis zwei Methoden: Sie wenden massive militärische Gewalt an, um die Palästinenser physisch zu vernichten; und sie akzeptieren eine palästinensische Führung nur, wenn sie so eingeschüchtert ist, dass sie wie die Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) aus Quislingen besteht, die vor Israel und den USA kapituliert haben. Auf diese Art und Weise wird eine politische Führung moralisch zerstört.

Die Palästinenser sollen kapitulieren

Dasselbe versuchen die Israelis jetzt mit Hamas. Der leichteste Weg, die Führung der Palästinenser zu zerstören, ist die Anwendung physischer Gewalt. Natürlich können die Israelis nicht darauf hoffen, Hamas als Bewegung loszuwerden. Sie können letztlich Hamas nicht besiegen, aber sie können es Hamas erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen, die politische Macht in Gaza auszuüben.
Ihre militärischen Attacken zielen deshalb besonders auf die einfachen Instrumente der politischen Machtausübung, die Hamas zur Verfügung stehen. Hamas ist eine Art Quasistaat in Gaza. Die erste Militäraktion der Israelis bestand deshalb darin, mit einer einzigen Bombe 40 Polizisten bewusst zu töten — nach dem Völkerrecht sind das Zivilisten. Dann zielten sie auf mehrere politisch wichtige Gebäude: Verwaltungsgebäude, Schulen, die Universität, Moscheen.
Die Moscheen sind besonders bedeutend. Hamas ist eine politisch-religiöse Bewegung. Sie organisiert ihre Massenbasis über die Moscheen. Israel redete sich damit heraus, in den Moscheen würden Waffen gelagert. Ich glaube, das ist ein Märchen. Die politische Bedeutung der Moschee liegt woanders. Dort organisiert Hamas ihre Massenbasis, deshalb hat Israel die Moscheen zur Zielscheibe genommen. Dasselbe gilt für die Schulen und die islamische Universität. Mit den Angriffen auf diese Einrichtungen soll es Hamas unmöglich gemacht werden, die politische Macht auszuüben — es sei denn, Hamas kapituliert und verpflichtet sich, Israel gute Dienste zu leisten.
Die PA in Ramallah hat genau diesen Prozess durchgemacht. Die Israelis wandten erst massiven Zwang gegen sie an. Die PA kapitulierte, aber für die Israelis ging sie nicht weit genug; Arafat widerstand dem letzten Schritt der Kapitulation. Dann ermordeten sie ihn — das ist mittlerweile weitgehend als Tatsache akzeptiert, obwohl unmittelbare Beweise fehlen.
Israels Plan besteht also darin, es einer nicht willfährigen palästinensischen Führung unmöglich zu machen, irgendeine Macht auszuüben.

Natürlich macht es für die Israelis keinen Unterschied, dass Hamas durch Wahlen an die Macht kam?

Genau. Die Wahlen fanden vor drei Jahren auf dem gesamten Palästinensergebiet statt und waren laut allen Beobachtern gesetzeskonform und fair verlaufen. Hamas siegte. Dann gab es im Juni 2007 einen Komplott, um Hamas zu stürzen. Die PA akzeptierte das Wahlergebnis und den demokratischen Sieg von Hamas nicht und plante einen Putsch in Gaza, der Hauptbasis von Hamas. Hamas entdeckte den Plan und kam ihm durch einen Gegenputsch zuvor. Deshalb gibt es heute zwei palästinensische Gebiete, die von zwei verschiedenen Regierungen kontrolliert werden. Die Leute vergessen das. Es gibt die Tendenz, von Hamas als einer Art illegitimen Macht, einem diktatorischen Regime zu sprechen. Aber was man auch immer von der Politik von Hamas halten mag, das ist nicht wahr.

Der Krieg war sorgfältig geplant

Genau deshalb muss Hamas eine enge Beziehung zu ihrer Massenbasis unterhalten. Die Raketenangriffe sind vermutlich eine Geste gegenüber dieser Massenbasis — um Widerstand gegen Israel zu zeigen, auch wenn dieser weitgehend ineffektiv und symbolisch ist.

Ehrlich gesagt, hat Hamas kaum militärische Optionen. Sie ist auch strategisch recht ungeschickt. Die Raketen sind moralisch schwer zu verteidigen, weil sie unterschiedslos treffen; sie stellen somit ein Spiegelbild von Israels Taktik der kollektiven Bestrafung dar, wenngleich in weitaus geringerem Ausmaß.
Aber sie verschaffen Israel einen großen Propagandavorteil. Der Welt wird vorgemacht, die Raketen seien irgendwie das militärische Äquivalent zu Israels Bombardierungen. Das ist lächerlich; das ist eine Differenz von fünf Größenordnungen. Das zeigt ein einfacher Blick auf die Zahl der Opfer.
Was für eine Strategie verfolgt Hamas? Welchen politischen Vorteil erreicht sie? Im Wesentlichen sind ihre Raketen Ausdruck von Frustration und Verzweiflung. Hamas hat nur wenige Optionen. Sie ist von israelischem Militär umzingelt. Sie ist auch stark von israelischen Agenten infiltriert. Im Vergleich zu den verzweifelt armen Palästinensern und ihren politischen Organisationen verfügt Israel über enormen Ressourcen. Es kann großen Druck auf Menschen ausüben, damit sie kollaborieren.
Es ist auch wichtig, noch einmal die Abfolge der Ereignisse in Erinnerung zu rufen, um die realen Machtverhältnisse zu verstehen. Nicht Hamas hat nach sechs Monaten den Waffenstillstand gebrochen, sondern Israel, und zwar wiederum zu einem günstigen Zeitpunkt, als die Aufmerksamkeit der Welt auf etwas anderes gerichtet war, nämlich am 4./5.November auf die US-Wahlen. An diesem Tag drangen israelische Soldaten in den Gazastreifen und töteten eine Gruppe von Hamas- Aktivisten, die dabei waren, einen Tunnel zu graben; sie hätten den Tunnel für Angriffe in Israel nutzen können. Außerdem hatte Israel während der sechsmonatigen Feuerpause die Belagerung nicht gelockert und die Blockade fortgesetzt, was an sich schon eine Kriegshandlung ist. Somit hatte Hamas keine große Veranlassung, eine Feuerpause fortzusetzen, die sehr einseitig war.
Die israelischen Behörden wussten, dass Hamas das einzige tun würde, wozu sie in der Lage war, nämlich einige Raketen abzufeuern. Israel hat sich schon vor sechs Monaten auf die jetzige Invasion vorbereitet, seit Beginn des Waffenstillstands. Israels Krieg gegen Gaza ist keine Reaktion auf Provokationen der Hamas, sondern war sorgfältig organisiert und geplant.

Du sagst, die israelische Armee hatte Gaza umzingelt, und Hamas hat die Raketen mehr aus Verzweiflung abgeschossen. Offensichtlich hat sich die Situation mit der Invasion geändert. Ist es möglich, dass Israel sich festbeißt und sich eine blutige Nase holt — ähnlich wie im Libanon 2006?

Im Libanon wurde Israel in gewisser Hinsicht besiegt, seine Armee kam sehr schlecht weg. Ein solcher Ausgang ist in Gaza überhaupt nicht wahrscheinlich. Die Bedingungen dort waren jedoch ganz andere. Der günstigste Ausgang, auf den wir hoffen können, ist, dass Israel sein Ziel, jede Form des palästinensischen Widerstands zunichte zu machen, nicht erreicht.

Hat die Popularität von Hamas zugenommen?

Ja, alle Berichte bestätigen das, und das steht in direktem Widerspruch zu dem, wie sich die Israelis den Prozess vorgestellt haben. Sie haben diese Taktik viele Male angewandt und stets ist sie gescheitert. Sie glauben, wenn man der Zivilbevölkerung das Leben unerträglich macht, machen diese ihre eigenen Führer dafür verantwortlich und werden sie stürzen. Sie haben das im Libanon gegenüber verschiedenen schiitischen Organisationen, einschließlich der Hizbollah, versucht. Sie versuchten es in den besetzten Palästinensergebieten. Sie sind jedesmal gescheitert. Die Menschen sind nicht so dumm.
Die PA ist gewiss diskreditiert — aber wegen ihrer Haltung gegenüber Israel und den USA, den Wurzeln des Elends der Menschen. Der gesamte bewaffnete Flügel der PA, die verschiedenen Milizen und Polizeieinheiten — sie alle werden von der CIA kontrolliert. Politisch hat die PA derart kapituliert — und fast nichts dafür bekommen —, dass die Leute eine unglaubliche Verachtung für sie hegen. Und diese Verachtung hegt auch Israel, weil es so billig war, diese Organisation zu kaufen.
Das einzige, was zugestanden wurde, sind einige erbärmliche Privilegien für die Spitzenfunktionäre der PA. Sie haben die Sondererlaubnis, auf Wegen zu reisen, die sonst nur Israelis vorbehalten sind. Sie haben einige ökonomische Vorteile, aber politisch haben ihnen die Israelis nichts gegeben.

Das dröhnende Schweigen der arabischen Staaten

Wo bleibt die Linke?

In Gaza gibt es einige Gruppen, aber sie werden kaum offen aktiv sein. Sie arbeiten gewissermaßen im Untergrund. In Israel, worüber ich mehr weiß, hat es einige große Antikriegsdemonstrationen gegeben. In Tel Aviv sollen es am 3.Januar 10000 Demonstranten gewesen sein, in den palästinensischen Städten innerhalb Israels gab es sogar noch größere Demos, hauptsächlich von Palästinensern, aber auch von einigen israelischen Juden, die sich ihnen anschlossen. Die überwältigende Mehrheit der israelischen Bevölkerung unterstützt die Regierung. Aber es ist ermutigend, dass es eine gewisse Opposition gibt.

Das Schweigen der Führungen der arabischen Staaten war ohrenbetäubend. Wird es diese Staaten destabilisieren?

Die Hauptverbrecher waren die politisch Verantwortlichen Ägyptens. Sie haben nicht nur geschwiegen: sie waren aktive Komplizen bei der Belagerung Gazas. Ich hoffe, dass sich die USA verrechnen. Die Existenz einiger dieser Regime ist bedroht. Es wäre idiotisch, in Ägypten keine Umwälzung zu erwarten. Die Arbeiterklasse hat eine Menge Gründe zur Unruhe, und wir haben hier 2008 einige gewaltige Demonstrationen erlebt. Die Palästinafrage hat dabei immer eine Rolle gespielt. Sie ist für die Arbeiterklasse ein zusätzlicher Anklagepunkt gegen die Regierung. Wenn ich mir die Region anschaue, so glaube ich: Kein arabisches Regime ist vollständig sicher.

Darin liegt sicher die Lösung. Wenn wir die Dynamik der Beziehung zwischen Israel und Gaza oder der Westbank von der Gemengelage in der ganzen Region abkoppeln, gibt es keine Hoffnung.

Ja, absolut. Ich glaube, dass ist der Grund, warum alle Debatten über einen Staat oder zwei Staaten nutzlos sind, solange sie die Verhältnisse in der Region ignorieren. Im rein israelisch-palästinensischen Rahmen gibt es weder ein kurz-, noch eine langfristige Lösung — das Kräfteverhältnis erlaubt sie einfach nicht. Die einzige Chance liegt im Kontext einer tiefgreifenden sozialen Transformation der gesamten Region. Diese kann sowohl das Zuckerbrot als auch die Peitsche sein, die die israelischen Massen davon überzeugt, eine gerechte Lösung zu akzeptieren — und aktiv zu wollen.
Leider bedeutet dies, dass wir uns kurzfristig auf defensive Aktionen beschränken müssen. Das bedeutet nicht, dass wir nichts tun können, bevor die arabische sozialistische Revolution am Horizont auftaucht. Wir können Solidarität mobilisieren, damit den Palästinensern nicht das Schlimmste passiert. Und das Schlimmste ist die ethnische Säuberung — die droht ständig. H

Moshe Machover, geb. 1936 in Tel Aviv, ist Mathematiker und Philosoph. Nach seinem Ausschluss aus der KP Israels wegen seiner radikalen antizionistischen Haltung war er 1961 Mitbegründer der Israelischen Sozialistischen Organisation (ISO/Matzpen). Er lehrt heute Philosophie in London

(Aus: Workers Weekly, 8.1.2009, www.cpgb.org.uk; Übersetzung: Hans-Günter Mull.) .


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