SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2009, Seite 13

Gaza

Was will Hamas?

von Helga Baumgarten

Welche Ziele verfolgt Hamas mit dem Abschuss der Qassamraketen? Sind es politische oder militärische Ziele? Oder will Hamas, wie Israel behauptet, einzig und allein Terror verbreiten?

Das Ziel der palästinensischen Muslimbrüder sei es, Furcht und Gewalt zu verbreiten, sagt Israel. So einfach ist das nicht. Hamas wäre bereit, politische Verantwortung zu übernehmen — wenn man sie ließe.
Kurzfristig — und vor dem Hintergrund der dramatischen Lage für die Bevölkerung — geht es Hamas vor allem um eines: Sie will die Abriegelung des Gazastreifens beenden und eine dauerhafte Öffnung der Grenzübergänge erreichen. Dies war für Hamas im Juni 2008 die entscheidende Bedingung, um einer Waffenruhe zuzustimmen.
Die Menschen im Gazastreifen leben seit dem Wahlsieg von Hamas vom Januar 2006 unter einem sich stetig verschärfenden Boykott seitens des Westens. Dieser wird flankiert von mehreren arabischen Staaten, allen voran von Ägypten, und seit Beginn des innerpalästinensischen Konflikts zwischen Fatah und Hamas im Juni 2007, sogar vom Fatah-Regime von Präsident Mahmud Abbas in Ramallah.
Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 50%, die Stromversorgung ist weitgehend zusammengebrochen, und es mangelt an der rudimentärsten medizinischen Versorgung. Die Liste ließe sich beinahe unendlich verlängern. Schon vor dem Beginn des Krieges stand die Bevölkerung im Gazastreifen vor dem Abgrund.

Den Boykott beenden!

Hamas hatte seit ihrer Regierungsübernahme im März 2006 mit allen politischen und diplomatischen Mitteln versucht, den Boykott zu beenden. Zuletzt mit einer Regierung der nationalen Einheit im Anschluss an das Mekka-Abkommen vom März 2007, das Saudi-Arabien gemeinsam mit Hamas und Fatah ausgehandelt hatte. Nach dem Zusammenbruch dieser Regierung hat sich Hamas zusehends in Richtung Widerstand bewegt, da ihr eine aktive und relevante Rolle in Politik und Diplomatie verwehrt wurde — von der Fatah, von der israelischen Besatzungsmacht, von den regionalen Nachbarn sowie von der internationalen Gemeinschaft. Nur Widerstand, so die Argumentation von Hamas, kann nun aus dieser Sackgasse führen. Und dieser ist vor dem Hintergrund der gescheiterten Politik klar militärisch definiert.
Gleichzeitig war Hamas jedoch immer wieder bereit, das Experiment einer Waffenruhe einzugehen — im Interesse der Grenzöffnung, der Menschen in Gaza und in der Hoffnung, doch noch politisch anerkannt zu werden. Die letzte Ruhepause endete im Dezember — wieder ohne die Grenzöffnung oder andere Zugeständnisse von Israel erreicht zu haben.
Was kann eine Widerstandsorganisation im verelendeten Gazastreifen gegen die größte Militärmacht im Nahen Osten erreichen? Ist es nicht selbstmörderisch, es mit einer regionalen Großmacht aufzunehmen? Sollte eine Widerstandsbewegung die Besatzungsmacht nicht eher an deren Schwachstellen angreifen, etwa durch gewaltlose Massenmobilisierung und Massenwiderstand?

Vorbild Hizbollah

Hamas antwortet mit dem Beispiel der Hizbollah im Libanon. Dort, so Hamas, hat die Hizbollah die israelische Besatzungsarmee durch ihren Guerillakampf in die Knie gezwungen, sodass dieser nichts mehr anderes übrig blieb, als bei Nacht und Nebel abzuziehen. Seitdem habe die Hizbollah versucht, eine Art Gleichgewicht des Schreckens aufrechtzuerhalten. Ein Gleichgewicht des Schreckens bedeutet, dass sich Israel bewusst ist, dass die Angriffe der Hizbollah „wehtun” können, ebenso wie Israel der Hizbollah „wehtun” kann. Dies hat bis 2006 funktioniert, als, so die Deutung von Hizbollah- Führer Hassan Nasrallah, die israelische Seite die Spielregeln brach und auf einen lokal beschränkten Hizbollah-Angriff gegen eine israelische Patrouille mit einem Krieg gegen den Libanon antwortete.
Was also will die Hamas mit ihren Qassamgeschossen erreichen? Offensichtlich will sie Israel deutlich machen, dass sie Israel „wehtun” kann, und zwar dort, wo Israel am empfindlichsten ist, nämlich im Innern des Landes — auf dem freien Feld, am Rande einer Stadt oder eines Dorfes bis hin zu den südisraelischen Großstädten Ashdod, Ashkelon und zuletzt auch Beer Sheva (dem ehemals palästinensischen Bir as-Saba).
Die gescheiterte Politik soll also durch militärischen Druck ersetzt werden, um politische Ziele zu erreichen. Das Ziel bleibt dasselbe, wie Hamas in immer neuen Verlautbarungen verkündet (zuletzt vom Chef des Politbüros Khaled Mashaal am Tag vor der Aufnahme des Bodenkriegs durch die israelische Armee): eine Waffenruhe und die permanente Öffnung des Gazastreifens.
In der Theorie klingt das alles sehr schön. Doch zeigt nicht gerade der aktuelle Krieg, in dem die israelische Armee den Gazastreifen regelrecht in Schutt und Asche bombt und gnadenlos Männer, Frauen und immer wieder Kinder massakriert, dass Hamas hier eine völlig verfehlte Strategie verfolgt?

Albtraum Friedensprozess

Die Antwort von Hamas ist Nein. Sie argumentiert, dass ihr die israelische Besatzung keine Alternative lässt, und verweist zudem auf die Verhandlungsstrategie von Abbas‘ Regierung in Ramallah. Israel hat Abbas bis heute nicht die geringsten politischen Zugeständnisse gemacht. Die Siedlungen im Westjordanland werden ausgebaut, die Mauer reicht tief ins palästinensische Westjordanland, beraubt die Palästinenser um Hunderte von Quadratkilometern und schließt gleichzeitig zahllose Dörfer an der Grenze von ihrer Umgebung ab und verwandelt sie in „Gefängnisgemeinden”
In Ostjerusalem werden die jüdischen Enklaven mitten in palästinensischen Wohngebieten ausgeweitet und Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben. Und auch hier kann die Liste beinahe endlos erweitert werden. Eine politische Lösung ist nirgends in Sicht.
Damit ist der Osloer Friedensprozess für die Palästinenser zu einem regelrechten Albtraum geworden — und ganz sicher nicht zum Ausgangspunkt für den Aufbau eines unabhängigen palästinensischen Staates.
Auf die Forderung nach einem gewaltlosen Massenwiderstand verweist Hamas auf die erste Intifada Ende der 80er Jahre, in der sie zusammen mit der Fatah und allen anderen PLO-Organisationen einen gewaltlosen Aufstand gegen die Besatzung angeführt hatte, der unter der Führung von Yitzhak Rabin von der israelischen Armee brutal niedergeschlagen wurde.

Hamas anerkennen

Wie kann also die israelische Besatzung beendet werden, die letztendlich die Ursache für die Gewalt und für das Elend in Gaza ist? Für Hamas ist klar: Der Widerstand muss ausgebaut werden, um der von Israel ausgeübten Gewalt entgegenzutreten. Die Vergangenheit seit der ersten Intifada hat gezeigt, dass das palästinensische Gewaltpotenzial größer geworden ist, und dass die palästinensischen Guerillakämpfer „professioneller” geworden sind. Dies ist eine Konsequenz der Tatsache, dass ihr die politischen Optionen seit je verwehrt wurden.
Doch wie kann nun diese Gewaltspirale durchbrochen werden, und was kann Hamas dazu beitragen? Trotz allen Beharrens auf dem Recht und der Notwendigkeit auf Widerstand hält die Hamas-Führung — sowohl in Gaza als auch in der Diaspora — an der Option der Politik fest. Ihre Umsetzung setzt jedoch voraus, dass Hamas von der israelischen Besatzungsmacht wie auch von den regionalen Mächten und den Mitgliedern des Nahostquartetts (UNO, USA, EU und Russland) als politische Kraft ernst genommen und anerkannt wird. Und zwar als gleichberechtigte Verhandlungspartnerin, die ein Mandat hat, das ihr durch eine freie und demokratische Wahl erteilt wurde.
Der Krieg, der seit dem 27.Dezember den Gazastreifen mit immer schrecklicherer Gewalt überzieht, droht diese politische Option zunichte zu machen. Nur ein Waffenstillstand mit der gleichzeitigen permanenten Öffnung des Gazastreifens kann der politischen Option eine letzte Chance geben. Am Ende dieses neuen politischen Prozesses muss jedoch das Ende der israelischen Besatzung stehen. Und an diesem Prozess müssen alle palästinensischen politischen Kräfte beteiligt sein, von der Fatah bis hin zu Hamas. Die Alternative wäre eine endlose Spirale von Gewalt, die sich bald nicht mehr auf die besetzten palästinensischen Gebiete begrenzen ließe.

Helga Baumgarten lebt in Ostjerusalem und lehrt Politologie an der palästinensischen Universität Bir Zeit. Zuletzt erschien von ihr das Buch Hamas. Der politische Islam in Palästina, München: Diederichs, 2006. Der Artikel erschien zuerst in der Schweizer Wochenzeitung WoZ vom 8.1.2009 ( www.woz.ch).


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