SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2009, Seite 15

Israel kämpft gegen eine unbesiegbare Idee

Israels Krieg aus der Sicht eines Muslims in Deutschland

von Yavuz Özoguz

Die Demonstrationen, die seit Anfang Januar in zahlreichen deutschen Städten gegen Israels Krieg in Gaza organisiert werden, werden hauptsächlich von arabischen Gemeinden und solche islamischen Glaubens getragen, während die medienwirksamsten Proteste von Juden vorgetragen werden. Die deutsche Linke ist beschämend abwesend und ist vielfach ängstlich darum besorgt, die Verantwortung für den Krieg möglichst paritätisch auf beide Seiten abzuladen. Wir dokumentieren deshalb an dieser Stelle einen Beitrag von einer muslimischen Webseite.
Die nunmehr in die dritte Woche gehende Schlacht um Gaza hat bereits eines bewirkt. Unabhängig davon, wie es zu einem Waffenstillstand kommt und wie viele Menschen noch von Israel ermordet werden, Israel ist im Bewusstsein der ganzen muslimischen Welt besiegbar geworden; und allein das kann bereits als Sieg der mutigen Bevölkerung in Gaza bewertet werden!
Israel [versucht], seine angebliche Unbesiegbarkeit gegen den Gazastreifen zu demonstrieren. Dazu muss man sich einmal die realen Kräfteverhältnisse anschauen:
— Israel verfügt über rund 1000 Flugzeuge, rund 300 Hubschrauber und 34000 Personen in den Luftstreitkräften. Gaza hat dem nichts entgegenzusetzen.
— Israel hat eine Marine mit rund 70 Wasserfahrzeugen, die von insgesamt 20000 Mann bedient werden. Gaza verfügt über einige Fischerboote, die nicht mehr funktionieren dürften, weil sie schon lange nicht mehr benutzt werden können.
— Israel verfügt über rund 4000 Panzer. Gaza hat keinen einzigen.
— Israel verfügt über weitere 7000 bewaffnete Fahrzeuge, Gaza hat immerhin 50 Jeeps, die derzeit mit Krankentransporten überlastet sind und zudem über keinen Treibstoff verfügen.
— Israel verfügt über rund 2500 Artilleriegeschosse modernster Bauart, Gaza hat einige selbst gebastelte Geschosse. Israel verfügt über eine reguläre Armee von 150000 Soldaten und weiteren 350000 Reservisten. Die Kämpfer im Gaza dürften bei 5000—10000 liegen, von denen allerdings inzwischen wohl 300 Märtyrer geworden sind.
— Dass Israel nebenbei auch noch über Atomwaffen, biologische Waffen, Chemiewaffen, Satelliten usw. verfügen dürfte und Gaza dem nur den Mut der Bevölkerung entgegen zu setzen hat, bleibe hier unberücksichtigt. Goliath war ein Winzling im Vergleich zu Israel.
Jene oben genannte Armee hat es also nach drei Wochen immer noch nicht geschafft, den Widerstand gegen den Besatzer zu beenden. Was sich im Gaza derzeit abspielt, ist mit menschlichen Worten kaum noch zu beschreiben. Es gleicht einer Treibjagd auf Menschen, die in einem Gefangenenlager festgesetzt sind zwischen Stacheldraht, brennenden Gebäuen und unberechenbaren Geschossen. Es gibt kein sicheres Gebäude, nicht einmal für die Vereinten Nationen. Und die gesamte westliche Führungselite schaut schweigend und duldsam zu!
Aber Israel kämpft nicht mehr gegen besiegbare Armeen. Es kämpft gegen eine unbesiegbare Idee, die ihm selbst einstmals geholfen hat zu siegen: Es ist die Idee der Freiheit. Die westliche Welt hat jene Idee verloren und missbraucht sie nur noch, um Unfreiheit zu verbreiten.
Aber die Zunahme an Unfreiheit in der muslimischen Welt durch westliche Marionettenregime hat den neuerlichen Ruf nach Freiheit aufgebaut. Und jetzt ist er nicht mehr zum Verstummen zu bekommen, selbst mit den lautesten Waffen nicht. [...]

Der Westen hat die Idee der Freiheit verloren

Wir aber, wir Bürger in der westlichen Welt, insbesondere in Deutschland, haben alle zusammen verloren. Kein Land der Erde wird mehr auf ein Gefasel von Menschenrechten durch einen Bundeskanzler reagieren, unterstützt doch die Bundesregierung das größte Menschenrechtsverbrechen unserer Zeit. Unser eigenes Rechtssystem wird massiv geschwächt: Wie soll man irgendjemanden erklären, dass er ein Verbrechen begangen hat, wenn diejenigen, die die größten Verbrechen unserer Zeit ganz offen und ohne jegliche Scham mittragen, in den höchsten Etagen des Staates sitzen?
Und wie ist es mit den Muslimen in Deutschland? Haben sie wirklich dem Hilferuf aus Gaza geantwortet? Ja — Gott sei Dank — nach mehreren Wochen haben sich endlich alle Dachverbände geeinigt, die Last der Großdemonstrationen, die zuvor fast nur von einem der Verbände und vielen kleinen Organisationen getragen wurde, endlich mitzutragen.
Aber wo sind die legitimen Forderungen nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel? Bolivien und Venezuela haben es vorgemacht! Sind jene Länder mächtiger oder unabhängiger als Deutschland? Was spricht dagegen, es zumindest zu fordern? Wovor habt Ihr Angst? Ist die Audienz bei Schäuble wichtiger als der Hilferuf aus Gaza?
Und wo sind die Stimmen, die nach der Bestrafung von Kriegsverbrechern und Massenmördern rufen? Warum kann man das nicht zumindest rufen? Ist es nicht eine Schande für die gesamte Bundesrepublik Deutschland, dass niemand es wagt, solch eine Forderung zu stellen; nicht einmal die „offiziellen” Muslime?
Wen wollen solche Muslime denn vertreten? Ist es denn ein Wunder, dass die Jugend in Scharen zu Milli Görüs läuft, wenn jene von der ersten Stunde an auf der Seite ihrer Geschwister in Gaza standen, während die anderen erst noch an den Formulierungen bastelten, um ja keine Herrschaftsperson in Deutschland zu erschrecken oder gar aufzuwecken? Selbst die „gemäßigten” und kaum praktizierenden Muslime hatten mehr Mitgefühl und ein deutlich vernehmbareres Herz, als so manche Moschee, die sich damit herausredete, dass sie zunächst in irgendeiner Zentrale nachfragen müsse. Glaubt Ihr ernsthaft, dass Euch irgendein Politiker dieses Landes dafür mehr achten wird?
Aber die Schweigsamkeit von nichtmuslimischen Intellektuellen übertrifft alles, was Muslime an Unzulänglichkeiten gezeigt haben. Wo sind eigentlich die Intellektuellen in Deutschland? Inzwischen haben sich doch mehr prominente Juden in Deutschland offen gegen Israel gewandt als Nichtjuden! Sind antizionistische Juden in Deutschland mutiger als Nichtjuden? Oder bekennt sich neuerdings die Mehrheit der deutschen Intellektuellen zum Zionismus? Wo sind diejenigen, die gestern noch die Satanischen Verse in einer Moschee vortragen wollten? Warum machen sie jetzt nicht den Vorschlag, irgendetwas in einer Moschee in Gaza vorzutragen?
Oder wo sind die Intellektuellen, die gestern noch gegen jeden Moscheebau in Deutschland wetterten? Treten sie jetzt auch für den Abriss der Moscheen im Gaza ein und die kirchlichen Einrichtungen dazu? Oder wo sind die intellektuellen Hofnarren, die sich darüber lustig gemacht haben, dass Muslime Weihnachtsgeld bekommen? Mit solchen Intellektuellen kann jedes Volk nur verlieren! [...]
Möglicherweise haben wir nicht nur verloren, sondern auch etwas gewonnen. Denn wenn es immer mehr werden, die das erkennen, und sei es aus Scham über die eigene Tatenlosigkeit heraus, dann wäre es ein Gewinn, um gemeinsam und solidarisch eine System anzustreben, in dem wirklich Demokratie herrscht und auch antizionistische und damit antirassistische Stimmen Gehör finden.

Quelle: www.muslim-markt.de/forum


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang