SoZ - Sozialistische Zeitung |
2006 wurde in Deutschland ein neues Genossenschaftsgesetz
verabschiedet. Seitdem kommt es wieder vermehrt zu Genossenschaftsgründungen. In Berlin
läuft seit Oktober 2008 in der kommunalen Galerie Neukölln eine Ausstellung
über Genossenschaften in Deutschland und Europa.
Im Jahr 2007 bekam der
Berliner Künstler Andreas Wegner von der EU, der Bundeskulturstiftung und den
Genossenschaftsverbänden in Brüssel 200000 Euro für eine Ausstellung von
Produkten aus europäischen Produktivgenossenschaften in Berlin. Parallel finden in diesem
Jahr ähnliche Veranstaltungen in Budapest, Dunaújváros und Usti nad Labem
statt. Die Berliner Verkaufsausstellung Le Grand Magasin wurde im Oktober 2008 eröffnet.
Sie hat den Charme eines polnischen Ladens aus kommunistischer Zeit und ist mit Eisenwaren,
Spielzeug, Möbel, Galanteriewaren, Textilien, Büchern und Schuhen bestückt.
Bevor es an die Einrichtung
ging, mussten sprachkundige Kontaktpersonen für alle EU-Länder gefunden und ein
Reiseprogramm nach Frankreich, Spanien, Italien, Tschechien usw. organisiert werden, um die
Produktivgenossenschaften dort sozusagen persönlich zu überreden, ihre Produkte zur
Verfügung zu stellen.
Die Genossenschaften bedienen
für gewöhnlich Märkte, auf denen ihre Produkte mit anderen aus
„normalen” Betrieben konkurrieren. Der Gedanke, sie nun auf einmal in einem
Genossenschaftskontext zu präsentieren, leuchtete vielen nicht ein, vor allem den
westeuropäischen Produktivgenossenschaften nicht.
Die im Osten, denen es wegen
der zunehmenden Billigkonkurrenz aus China besonders schlecht geht, waren eher an einer
Teilnahme interessiert, zumal sie bisher nur über wenige Geschäftskontakte in den
Westen verfügen. Sie sind zwar in ideologischer Hinsicht oft sehr antikommunistisch
eingestellt, ihre Produktion ist jedoch noch sehr proletarisch ausgerichtet, während es
in den westeuropäischen Genossenschaften genau umgekehrt ist, zumal im Süden: Hier
ist die Geschäftsführung nicht selten kommunistisch, die Produktion dagegen streng
kapitalistisch organisiert.
Ein weiterer Unterschied
zwischen Ost und West besteht in der Fertigungstiefe: Während z.B. italienische und
französische Genossenschaften oft nur noch halbfertige Produkte zusammenbauen und sich
ansonsten vor allem Gedanken über Design und Marketing machen, produzieren die
osteuropäischen Genossenschaften ihre Produkte nicht selten noch sozusagen von A bis Z.
Die südböhmische
Genossenschaft DUB aus Pelhrimov z.B. stellt Manikürsets her: Sie schmiedet die Scheren,
Nagelfeilen etc. aus Roheisen und hat dafür eine eigene Metallfabrik mit
Galvanisierabteilung, Schweißroboter u.a. sowie eine große Näherei für die
Etuis aus Plastik oder Leder. Sie hat jedoch so gut wie keine Design-, Werbe- und
Vertriebsabteilung.
Die Genossenschaft wurde 1945
gegründet, um den Frauen im Ort und Umgebung, deren Männer im KZ oder im
Gefängnis gewesen waren, eine Verdienstmöglichkeit zu verschaffen. Zu Anfang
bemalten sie Holzobjekte. Heute arbeiten rund 300 Leute bei DUB. Hauptabnehmerin der Produkte
ist nach wie vor die Ukraine.
Ein genossenschaftlicher Anfang ist in gewisser Weise typisch, generell werden
Genossenschaften als „Kinder der Not” bezeichnet. In diesem Zusammenhang muss man
auch die staatlichen Anstrengungen in Deutschland seit 2006 sehen, den Genossenschaftsgedanken
wieder zu beleben: Die Propaganda für Ich-AGs war nicht sehr erfolgreich, deswegen
versucht man es jetzt mit Wir-eGs. In Italien gibt es inzwischen derart viele
„Cooperativen”, dass Linke wie Sergio Bologna daran denken, sie ernsthaft zu
bekämpfen, denn sie sind oft aus outgesourcten Betriebsteilen entstanden und
zuvörderst Ausdruck einer Niederlage der Arbeiterbewegung.
Wenn man Bologna glauben darf,
arbeiten heute viele Beschäftigte im Transportbereich, die eine Genossenschaft
gegründet haben, täglich doppelt so lange wie früher, verdienen aber nur halb
so viel.
Diese Einschätzung deckt
sich nur z.T. mit unseren Beobachtungen: Wir fanden die Arbeitsatmosphäre in den
Produktivgenossenschaften durchweg gelassener als in normalen Betrieben, auch da, wo
kapitalistische Maschinen den Arbeitstakt vorgaben. Allerdings liegen die Löhne auch
meist unter Tarif.
Ich kann da aus
langjähriger eigener Erfahrung in den zwei größten Berliner
Produktivgenossenschaften sprechen — der Westberliner Taz und der Ostberliner Jungen
Welt: Die Gehälter und Honorare sind hier sehr niedrig, dafür ähnelt jedoch das
Arbeitsklima einem Kinderladen.
Als in der Taz neulich ein
Redakteur von Selbstausbeutung sprach, wurde er laut ausgelacht. Diese beiden linken
„Projekte sind aber eher untypische Genossenschaften, ein Überhang aus den 70er
Jahren gewissermaßen — die wichtigsten Abteilungen sind hier die „Geno-
Abteilungen”, die Leser mit zu viel Geld überreden, Genosse (seit 2006 spricht man
von „Mitglied") zu werden. Bei der Taz sind das reiche junge Erben aus
Süddeutschland, bei der Jungen Welt arme alte Kommunisten, die noch ein bißchen
Rentengeld über haben. Hier wie dort wird dies von Redakteuren verballert, die ihnen
dafür täglich eine Ideologie liefern, die in etwa ihrer eigenen entspricht: Bei der
Taz ist das eine ökologisch-konsumistische, bei der Jungen Welt eine staatssozialistisch-
proletarische. Genau genommen handelt es sich bei diesen Zeitungen um zwei
Konsumgenossenschaften, in die jeweils eine Produktivgenossenschaft eingewickelt ist.
In Deutschland haben es Kollektivbetriebe in der Vergangenheit meist vorgezogen, eine
andere juristische Form zu wählen: die des Vereins, der GmbH usw., weil ihnen die
jährliche Genossenschaftsprüfung bis 2006 zu aufwendig und teuer war. CECOP, einer
der zwei Dachverbände in Brüssel, trägt dem Rechnung, indem er für
Produktiv- und Sozialgenossenschaften sowie für „Partizipative Unternehmen”
offen ist. In Berlin spricht man von „sozialer und solidarischer Ökonomie”
und meint damit ein noch breiteres Spektrum nichtprofitorientierter Betrieben, genauer: eine
wirtschaftliche Selbsthilfe in Form eines Kollektivunternehmens, das sozialen oder anderen
gemeinwesenbezogenen Zwecken dient und dessen Gewinne nicht privat angeeignet, sondern
reinvestiert werden. Wird an dieser Ökonomie das „Soziale” betont, dann geht
es in der Regel darum, Was gemacht wird, während beim „solidarischen”
Wirtschaften nach dem Wie gefragt wird.
Allein in Ostberlin gibt es
inzwischen 988 soziale Unternehmen, wovon allein die gemeinnützige GmbH Pfefferwerk 594
Arbeitsplätze geschaffen hat. Sie ist damit der drittgrößte Betrieb im Bezirk.
Dort gibt es ferner eine Entwicklungsagentur für soziale Unternehmen und
Stadtteilökonomie, BEST genannt, die bis Mitte 2007 aus dem „Europäischen
Fonds für Regionale Entwicklung” finanziert wurde. Daneben existieren über die
Stadt verteilt 33 aus dem Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt” finanzierte
„Quartiers-Managements”, zu deren Aufgaben auch die Förderung von
„lokaler Ökonomie” gehört, obwohl sie damit in der Regel
überfordert sind, weshalb es häufig bei dem Versuch einer „Quartiers-
Aufwertung” ohne nachhaltige ökonomische Effekte bleibt.
Der Deutsche Genossenschafts-
und Raiffeisenverband (DGRV), der sich als eine mittelständische Interessenvertretung
versteht, will mit dieser „Bewegung” nichts zu tun haben — noch nicht, wie
mir Karl Birkhölzer verriet, man sei jedoch im Gespräch. Birkhölzer
gründete 1983 eine „Arbeitslosen-Selbsthilfe-Initiative” an der Freien
Universität. Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler verlor damals seine (befristete)
Assistenzprofessorenstelle, während gleichzeitig die Mehrzahl der von ihm betreuten
Absolventen auf Grund eines Einstellungsstopps für Lehrer die Perspektive akademischer
Arbeitslosigkeit vor sich hatte.
Obwohl ihre Zahl schon damals
nicht unbeträchtlich war, war Arbeitslosigkeit — und vor allem die Frage, was
dagegen getan werden könnte — kein Thema in der akademischen Forschung und Lehre.
So entstand das Projekt PAULA
e.V. — das „Projekt für Arbeitslose und Lehrer der Arbeits- und
Berufspädagogik”, mit dem Ziel, in selbst organisierter Forschung „Strategien
gegen Arbeitslosigkeit” zu entwickeln. Zuerst in frei gewordenen Räumen der FU in
Dahlem und Lankwitz, seit 1989 in der leerstehenden Rotaprint-Fabrik im Wedding. Dort befindet
sich das Projekt immer noch. Das Gebäude wird demnächst jedoch von einer
Künstler-Genossenschaft übernommen, die Miete verlangt.
In der Zwischenzeit sind aus
der Initiative neben dem Verein PAULA eine Reihe weiterer „sozialer Unternehmen”
hervorgegangen, wie das Technologie-Netzwerk Berlin e.V., die PAULA Werke Gesellschaft
für sozial und ökologisch nützliche Arbeit mbH, und das Kommunale Forum
Wedding, aus dem wiederum die dortige Stadtteil-Genossenschaft hervorging. Nach der Wende
kamen in Ostberlin eine Projektentwicklungsagentur, die Kiezküche Hellersdorf, der
Stadtteiltreff im „Labyrinth” und andere Ausgründungen dazu. Jüngstes
Projekt ist die „Berliner Entwicklungsagentur für soziale Unternehmen und
Stadtteilökonomie/ BEST”
All das gehört zum sog.
„Paula-Verbund": „Wir sind ein sozialer Wirtschaftsverbund”, sagt Karl
Birkhölzer. „Soziale Unternehmen entstehen vor allem dort, wo Markt und Staat die
Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Gütern und Dienstleistungen nicht (oder
nicht mehr) gewährleisten.” „Normale” Menschen sind da sehr
erfindungsreich. „Wenn irgendwo ein solches Problem entsteht, bildet sich früher
oder später eine Initiative oder soziale Bewegung, die auf Abhilfe drängt. Die
Geschichte der Ökonomie der letzten 150 Jahre könnte auch als Geschichte der
Alternativ-Ökonomie geschrieben werden. Irgendwann nach der Protest-Phase folgt die
Erkenntnis: Wir müssen die Ökonomie selbst in die Hand nehmen —
zumindest auf lokaler Ebene."
Aus solchen Initiativen ist inzwischen eine weltweite Bewegung geworden, mit ganz
unterschiedlichen Ansätzen und kulturellen Rahmenbedingungen, die sich untereinander
austauscht und zu verständigen sucht, was nicht immer leicht ist. „Wir dürfen
nicht in den Fehler verfallen, alles, was in diesem Bereich geschieht, unkritisch zu
akzeptieren. Es gibt da auch jede Menge Widersprüche und Fehlentwicklungen."
Beispielsweise in der von
einem Jesuiten 1946 gegründeten Genossenschaft Mondragon im Baskenland, die sich heute
als die erste globale bezeichnet und 102000 Leute beschäftigt. Dort ist es bisher noch zu
keiner Kündigung gekommen: Bei Auftragsmangel weichen die Mitarbeiter in andere
Mondragon-Betriebe aus. Vor einiger Zeit übernahm die Mondragon-Untergenossenschaft Fagor
jedoch das französische Haushaltsgerätewerk Brandt und kündigte dort sofort
etlichen Mitarbeitern; die Verbliebenen meinen, sie werden von Mondragon wie ein
Subunternehmen behandelt.
In der Neuköllner
Verkaufsausstellung sahen wir uns zu diesem Konflikt einen Film von Anne Argouse und Hugues
Peyret an: „Les Fagor et les Brandt” Die Kunstprojektgruppe von Andreas Wegner,
die sich in eine Konsumgenossenschaft umwandeln will, versteht sich als Teil der
„sozialen und solidarischen Ökonomie” in Berlin. Dazu zählt ferner die
im Kreuzberger Mehringhof tagende Gruppe Anders Arbeiten, das Netz für Selbstverwaltung
und Kooperation, eine Pankower Genossenschaftsinitiative von Wolfgang Fabricius, der Berliner
Büchertisch, „Visions of Labor — Perspektiven solidarischer
Organisation” und die Neuköllner Künstlerinitiative Salon Petra, um nur die zu
nennen, mit denen das Ausstellungsprojekt bisher in Kontakt gekommen ist.
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