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Enzo Traverso, der den Leserinnen und Lesern dieser Zeitung kein
Unbekannter ist, hat nach Die Marxisten und die jüdische Frage und Auschwitz denken mit
Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914-1945 sein drittes großes
Werk vorgelegt. Dem Autor geht es nicht darum, der kaum noch überschaubaren Literatur
über die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ein weiteres Geschichtswerk
hinzuzufügen; vielmehr liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf der kritischen Sichtung
und Diskussion der Darstellungen und Interpretationen (von ganz rechts bis ganz links) dieses
„zweiten dreißigjährigen Krieges”
Dabei zeigt Traverso auf, dass
die heute vorherrschende liberale Geschichtsdeutung mit ihrer Theologie, wonach die Geschichte
mit dem vorgeblichen Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft zu ihrer eigentlichen Bestimmung
gelangt sei, kein angemessener Deutungsrahmen für die sozialen Kämpfe der damaligen
Zeit ist. „Man verfällt also in einen perspektivischen Irrtum, wenn man durch die
Brillen eines Jürgen Habermas und John Rawls eine Zeit analysieren will, die einen Ernst
Jünger und einen Antonio Gramsci, einen Carl Schmitt und einen Leo Trotzki hervorgebracht
hat.” Schon Marx hatte sich in der Restaurationsperiode Anfang der 1850er Jahre
über die Liberalen mokiert: „Es hat eine Geschichte gegeben, aber es gibt keine
mehr."
Die Diskussion um die
historische Einordnung der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts und insbesondere des sog.
Dritten Reiches begann in Deutschland Mitte der 80er Jahre mit dem
„Historikerstreit” Ausgelöst wurde er durch Ernst Noltes verquaste These, der
Nationalsozialismus sei nur eine Reaktion auf die Oktoberrevolution und den Bolschewismus
gewesen. Folgerichtig ließ er dann sein Buch über den Europäischen
Bürgerkrieg nicht 1914, sondern 1917 beginnen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks
schwoll die Bücherflut zur Interpretation des vergangenen Jahrhunderts massiv an. Die
anspruchvollsten Entwürfe stammten von dem Konvertiten François Furet (Das Ende einer
Illusion) und E. Hobsbawm (Das Zeitalter der Extreme).
Enzo Traverso verbindet im
ersten Teil des Buches eine europäische Gesamtschau der fraglichen Epoche im Vergleich
zum „langen 19.Jahrhundert” mit einer Darstellung der inneren Verkettung der
zahlreichen Konflikte. Der Zusammenbruch der vier Säulen im Ersten Weltkrieg, die laut
Karl Polányi das Jahrhundert trugen: das Mächtegleichgewicht, die
Vermarktwirtschaftlichung infolge der industriellen Revolution, der Goldstandard und die
Rechtssicherheit, erzeugte bis dahin nicht für möglich gehaltene Exzesse von Gewalt.
Überhaupt wurde der Erste Weltkrieg zu einem Laboratorium technologischer Neuerungen mit
chaotischen Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im zweiten Teil des Buches
geht es ihm mehr um Generationen und Mentalitäten und die psychosozialen und kulturellen
Leitbilder dieser Zeit; ein besonderes lesenswertes Kapitel über die
„Widersprüche des Antifaschismus” rundet das Ganze ab.
Traverso analysiert die Zeit
zwischen dem Beginn des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs als den dritten
„europäischen Bürgerkrieg” (nach dem Dreißigjährigen Krieg und
der Epoche der Französischen Revolution). Dieser Bürgerkrieg war weder ein
„Ereignis” noch eine „Langzeitbewegung”, sondern ein
„Zyklus”, „in dem sich eine katastrophale Ereigniskette — Krisen,
Konflikte, Kriege, Revolutionen — zu einem geschichtlichen Umbruch verdichtete”
Dieses Konzept fand bereits im Umkreis des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution
Anwendung, als eine Reihe von Arbeiten über den Aufstieg und Niedergang von
Zivilisationen erschienen. Zu den bekanntesten Autoren zählen Oswald Spengler, Nikolai
Kondratjew und Leo Trotzki.
Von einem
„Bürgerkrieg” zu sprechen, gebietet der „totale Charakter” dieses
Krieges, in dem zahlreiche Konflikte ineinander verwoben waren: „Kapitalismus gegen
Kollektivismus, Freiheit gegen Gleichheit, Demokratie gegen Diktatur und Universalismus gegen
Rassismus”
Während des
europäische Recht nach dem Dreißigjährigen Krieg Leitlinien entwickelte, um
nach festen Regeln Kriege erklären und führen zu können, wurden diese Regeln im
Ersten Weltkrieg immer mehr geschleift. Der Krieg wurde zu einem „technologischen
Massaker” Auf die Heldenverehrung des für das Vaterland Gefallenen folgte das
Grabmal des unbekannten Soldaten. Die Logik der Kolonialkriege gegen die
„Unzivilisierten und Barbaren”, auf welche das europäische Recht keine
Anwendung gefunden hatte, wurde nun wieder nach Europa importiert: Die Unterscheidung zwischen
Zivilisten und Kombattanten verschwand zunehmend.
Während die Mehrheit der
Intellektuellen den Faschismus in Italien wenig begriffen und seiner „neuen
Ordnung” sogar Beifall zollten, änderte sich dies mit Hitlers Machtergreifung und
besonders im Spanischen Bürgerkrieg: Es entstand eine antifaschistische Kultur mit
Breitenwirkung. Sie war jedoch vor allem Exilkultur zur Verteidigung der bedrohten
Zivilisation. Da sie eine emanzipatorische Hoffnung benötigte, orientierte man sich
größtenteils an der Sowjetunion, was bewirkte, dass die Verbrechen des Stalinismus
kaum wahrgenommen oder sogar völlig verdrängt wurden.
Traversos neues Buch ist eine
äußerst kenntnisreiche und beeindruckende Analyse der Barbarei in der Zivilisation,
die zeigt, welches Ausmaß an menschlichem Leid und Zerstörung das Überleben des
Kapitalismus aufgrund der Niederlagen der Gegenkräfte angenommen hat.
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