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Es geschieht nicht oft, so tief in einen Film einzutauchen, dass man
vergisst im Kino zu sitzen (und das nicht weil man zufällig in der ersten Reihe gelandet ist).
Entre les murs, Die Klasse, der Sieger der Goldenen Palme beim Festival von Cannes 2008, schafft
genau das. Etwas skeptisch war man hineingegangen, 128 Minuten, mehr als zwei Stunden, noch dazu
spielt der ganze Film in einer Schule.
Das Schuljahr beginnt. Eine Schule
im 20. Pariser Arrondissement. Die Lehrer stellen einander vor, der für Mathematik, für
Sport, einige sind neu an der Schule. Ort der Handlung: Ein schnörkelloses Schulgebäude,
wohl in den 70er oder 80er Jahren errichtet. Unspektakulär, schmucklos, aber auch nicht
besonders heruntergekommen. Der Französischlehrer François Marin unterrichtet hier schon seit
vier Jahren und ist Klassenlehrer der vierten Klasse (entspricht der 8.Klasse in Deutschland), die
Schüler sind 13, 14 oder 15 Jahre alt.
Die vierte Klasse ist die letzte
Klasse am Collège, eine Art Gesamtschule. Sie ist Orientierungsstufe für die weitere
schulische Laufbahn. Den Lehrer François Marin verkörpert François Bégaudeau, Autor des
Buches Entre les murs, in dem er seine Erlebnisse an einer Pariser Schule verdichtet hat; er ist
zugleich Ko-Autor des Films.
Die erste Aufgabe des Lehrers ist,
den „imparfait” zu erkennen und den „imparfait subjonctive”, die
Konjunktivform im Imperfekt. Der Lehrer formt einen Beispielsatz, die Schüler protestieren:
„Glauben Sie denn, ich würde jemals mit meiner Mutter so reden?”, mokiert sich
Esmeralda. Ja, das stimmt schon, meint der Lehrer, es sind im Allgemeinen nur relativ wenig Leute,
die so reden, Leute, die etwas manieriert auftreten. Prompt die Zwischenfrage: Reden Homosexuelle
so?
Ein kleines Beispiel für den
Schlagabtausch zwischen Lehrer und Schülern. Wohltuend ist, dass François ein normaler Lehrer
ist, engagiert zwar, aber durchaus mit vielen Fehlern behaftet.
Viele Schüler sind
Einwandererkinder, einige von ihnen müssen erst Französisch lernen. So der Chinese Wey,
dessen starke Seite Mathematik ist. Die Eltern der Schüler lernen wir beim Elternsprechtag
kennen. Hassims Vater will, dass es seinem Sohn einmal besser geht. Suleymans Mutter kommt mit
dessen älterem Bruder, die Frau aus Mali spricht selber kein französisch.
Schön sieht man, dass die
Schüler aus geordneten und teils auch strengen Verhältnissen kommen. Im letzten Drittel
des Films erfahren wir, dass Weys Mutter in Abschiebehaft ist, obwohl sie schon seit drei Jahren im
Land lebt.
In einer Rezension Christine Lecerfs
von François Bégaudeaus Buch erfährt man, dass er jeden Abend nach der Schule die Dinge
aufgeschrieben hat, die ihn beschäftigten, ein Jahr lang. „Ohne verstehen zu wollen, ohne
sich um den Stil zu kümmern.” Diese rohe, teilnehmende Komplexität ist auch im Film
noch spürbar.
François Bégaudeau war schon
bevor er durch sein Buch Entre les murs und nun durch den Film berühmt wurde kein
Durchschnittslehrer. Früh war er Mitglied der Punk-Band Zabriskie Point, er ist Filmkritiker
für die Cahiers du Cinéma und schreibt hin und wieder für den Playboy. Entre les murs
war sein viertes Buch.
Zusammen mit dem Regisseur Laurent
Cantet konnte er durch das Filmprojekt seine drei Leidenschaften bündeln: das Schreiben, das
Unterrichten und der Film.
Nicht nur François, der Lehrer,
spielt sich selbst, auch die Schüler tragen alle ihre eigenen Namen, sie sind Schüler der
Schule, die man im Film sieht. In intensiven Workshops „erarbeiteten” sie gemeinsam mit
dem Regisseur Laurent Cantet den Film und brachten dabei viel Eigenes ein.
Aron Amm zitiert (auf
www.sozialismus.info) den Regisseur: „Ich liebe die Filme von Maurice Pialat, von den
Dardennes-Brüdern, oder Rossellini, also Filme, die tief ins Gesellschaftliche eintauchen, aber
nicht als soziologische oder politische Abhandlungen daherkommen, sondern als Personengemälde.
Sie beobachten nüchtern, ergreifen das Gefühl, ziehen hinein ins innere Drama der
Personen."
Cantet gelingt genau das mit diesem
Film, er zieht den Zuschauer hinein in die Klasse, hinein in das Geschehen. Mit drei Kameras hat er
gedreht, hochauflösenden Videokameras, wobei eine Kamera sich auf den Lehrer richtet, eine auf
den agierenden Schüler und eine auf das, was sonst noch in der Klasse vor sich geht.
In einem Interview mit Le Web
Pédagogique, zu einer Zeit als der Film noch in Arbeit war, das Buch aber bereits in Frankreich
Furore machte, wird François Bégaudeau gefragt, ob der Titel Entre les murs, der im
Französischen so viel heißt wie „im Knast”, die Schule mit einem
Gefängnis gleichsetzt. „Für mich ist die Schule kein Gefängnis”,
antwortet er, „ich beschreibe eine Realität, die sich innerhalb von Mauern abspielt, und
die Einheit des Ortes ist eine Methode, sich auf das zu konzentrieren, was ich zeigen möchte:
der Klassenraum."
Neben dem Klassenraum sieht man hin
und wieder den Pausenhof, das Lehrerzimmer, das Konferenzzimmer und das Büro des Direktors.
Auch wenn François und die anderen Lehrer oft nicht gut wegkommen, scheinen sie doch alle
bemüht zu sein, das Beste aus den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu machen.
Eine große Herausforderung
für die Schüler ist die Aufgabe, ein Selbstporträt zu schreiben. Sie protestieren, es
passiere ja nichts Besonderes in ihrem Leben, nicht so wie bei Anne Frank, dessen Tagebuch die
Klasse gelesen hat und das Ansporn für die Aufgabe ist. Sie stehen ja nur morgens auf, gehen
zur Schule, kommen nach Hause, essen und schlafen. Nach und nach ringen sie sich dazu durch, diese
Porträts zu schreiben. Suleyman macht Fotos von sich und seiner Umgebung, seiner Freundin,
seiner Mutter, den Klassenkameraden im Schulhof. Er kann es fast nicht glauben, als der Lehrer seine
Arbeit als Meisterleistung lobt.
Richtig emotional werden die
Schüler beim Thema Fußball, kurz vor der Afrika-Meisterschaft. Bestürzung und
Gelächter gibt es, als Carl, dessen Familie von den Antillen stammt, sagt, seine
Lieblingsmannschaft sei die französische Nationalmannschaft.
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