SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2009, Seite 16

Mauern und Sweatshops

Wie ein zukünftiger palästinensischer Staat aussehen könnte.

Ein Bericht aus dem Westjordanland von Julia Bartal

Wer sich in den palästinensischen Gebieten aufhält und die Rhetorik der westlichen Medien liest, kann nicht anders als staunen.
Die Liste der Verwunderlichkeiten ist lang. Zum Beispiel die „Machtübernahme der Hamas” in Gaza. In der Westbank, wie auch in Gaza, sprechen die Menschen von der Machtübernahme der Palästinensischen Autorität (PA), Abu Mazens und seines korrupten Machtapparats. Überall in den palästinensischen Städten steht die „Sicherheit”, an allen Ecken neu ausgerüstete Polizisten und Sicherheitsleute in militärischem Outfit, das dem der israelischen Besatzungssoldaten erschreckend ähnlich sieht.
Die grausigen Nachrichten häufen sich: Von Hunderten Verhafteten, Gefolterten und gar Ermordeten durch die PA in der Westbank ist die Rede, hauptsächlich unter der Kontrolle der inzwischen zum innerpalästinesischen Liebling des Westens gewordenen Fatah. Auch die Hamas-Führung lässt Menschen aus den Reihen ihrer politischen Gegner verhaften, foltern und gar ermorden. Den Vorwurf der Korruption, Konfiszierung von Hilfelieferungen und Unterdrückung von Meinungsfreiheit und Journalisten hat nicht nur eine der beiden Parteien gepachtet.
Die entmenschlichte Darstellung der Bevölkerung durch die Medien funktioniert. Bilder von gewaltbereit wirkenden „Islamisten” prägen das Bild. Sichtbar sind fast nur erwachsene Männer obwohl die Mehrzahl der Bevölkerung Kinder sind und natürlich von den Erwachsenen gut die Hälfte Frauen, die durchaus etwas zu sagen haben. Ganz abgesehen davon gehören die wenigsten Männer gewaltbereiten Gruppen an.
Innerpalästinensische Gewalt in Gaza kommt leichter in die Medien als die in der Westbank oder die der israelischen Besatzung. Doch auch wenn die Schreckensbilder von Hinrichtungen in Gaza wahr sind, so trägt diese Wahrheit nicht nur den Namen Hamas. In dem 10 mal 40 km kleinen Landstrich, der im Chaos versunken ist, lange bevor Hamas gewählt wurde, herrschen und kämpfen inzwischen Clans und Gangs. Die Bombardierung der öffentlichen Einrichtungen hat diese Situation nur noch verschärft.

Fatah ist Teil der Besatzung

Als die Bombardierung Gazas begann, strömten die Menschen in der Westbank auf die Strassen. Massenproteste wurden erwartet und begannen. Doch ihnen stellte sich zu allererst nicht die israelische Armee entgegen, sondern palästinensische Sicherheitskräfte. In der derzeitigen politischen Lage, in der die Wut der Bevölkerung über die andauernde Besatzung sich nun ausgeweitet hat zu einer Wut auch auf ihre Führung, die seit Oslo ihre Rechte ausverkauft, nur daran interessiert, ihre eigene Machtposition auszubauen, fürchten diese Führer jeden Anlass für einen neuen Aufstand.
Ein Aufstand gegen die Besatzung wäre gleichzeitig ein Aufstand gegen die Palästinensische Autorität von Abbas. Eine dritte Intifada könnte die ehemals aus dem tunesischen Exil Zurückgekehrten entmachten.
Die Fatah wird inzwischen von großen Teilen der Bevölkerung als Teil der Besatzung gesehen. Nicht die Fatah war es, die den zivilen Widerstand der ersten Intifada anführte, den starken Widerstand, den sozialen. Die Fatah kam mit Oslo, mit den angeblichen „großzügigen Angeboten für die Palästinenser” kamen, und ihnen der massive weitere Ausbau von Besatzung, Siedlungen, Repression und Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft.
Die innerpalästinensische Spaltung, von der gesprochen wird, ist komplexer als nur eine Spaltung zwischen Hamas und Fatah. So kämpfen zum Beispiel in Gaza die Fatah-Kämpfer der Al-Aqsa-Brigaden gemeinsam mit allen anderen Teilen des bewaffneten Widerstands und umgekehrt.
Nicht die bloße Mitgliedschaft in einer der beiden Parteien entzweit die Menschen oder macht sie mitverantwortlich für die Vergehen, die diese Parteien oder ihrer Führungen begehen. In der Westbank und in Gaza sind Mitglieder aller Parteien Teil des Widerstands, des bewaffneten und des gewaltfreien. Die Mitgliedschaft in einer der Parteien beschreibt nicht vollständig ihre Einstellung oder Position, nicht einmal ihre Vision von einem zukünftigen Palästina.
Doch der Westen bezieht klar Position. War es vor nicht einmal sieben Jahren die von Arafat geführte Fatah-PA, die es zu bombardieren und auszuräuchern galt, so ist es nun die Hamas. Und wie immer zahlt nicht sie, sondern die palästinensische Bevölkerung den Preis dafür. Komplett umzingelt von der israelischen Besatzung und unter dem Schirm der herrschenden Palästinensischen Autorität werden ihr Leben, ihre Gesellschaft, ihr Widerstand und ihre Rechte zermalmt.
Der Vorwurf Europas und der USA, der Iran finanziere und beliefere Hamas, deckt sich mit der Realität, dass die USA und Europa der anderen Seite im innerpalästinensischen Konflikts enorme Summen in Geldern und Waffenlieferungen zukommen lassen — oft in der Form der Wiederaufbauhilfe nach israelischen Zerstörungen, ganz abgesehen von der immensen Unterstützung für die israelische Besatzung.

Der zivile Widerstand lebt noch

Allein der Stadt Nablus sponserten die USA 50 Millionen für den Aufbau ihres Sicherheitsapparats. Heute joggen die palästinensischen Soldaten wie Marines im Pulk durch die Stadt, um sicherzustellen, dass auch der letzte Geist eines basiszivilen Widerstands und Ungehorsams aus der ersten Intifada erlischt. Doch obwohl von den Straßen verbannt, regt er sich. Die Dörfer um die Stadt herum schließen sich zusammen, es bilden sich wieder Volkskomitees, oft organisiert von Frauen, die sich gegen den Landraub durch den Mauerbau wehren — sie arbeiten mit Unterstützung und zum Teil unter dem Schutz von israelischen und internationalen Aktivisten. Sie geben nicht auf, ihre Felder zu bearbeiten, auf denen sie tagtäglich Angriffen von gewalttätigen Siedlern und Soldaten ausgesetzt sind. Eine immer ärmere Bevölkerung, eine immer kaputtere Gesellschaft zwischen staubigen Trümmern, Müllbergen und Entrechtung, wehrt sich immerhin noch ein wenig. Und dafür wird sie bestraft; es gibt keine Institution und keinen starken Partner, an den sie sich wenden könnte.
Ganz gleich, was geschieht: Ob der 21-jährige Ala, neben seinem schlafenden Bruder an seinem Computer sitzend, von eindringenden israelischen Soldaten nicht verhaftet, nein mit mehreren Schüssen in Kopf und Körper hingerichtet wird, seine Familie danach aus dem Haus gezerrt und das Haus mit drei Sprengsätzen zerstört wird, wie es im Dorf Qabatiya am 7.2.2009 geschah. Ob Dörfer, die den gewaltfreien Widerstand nicht aufgeben wollen und deren Kinder in Knäste verschleppt werden, täglich mit dem Einmarsch von Besatzungssoldaten zu tun haben, die alle Bewohner wahllos mit Tränengas, Gummi-Stahl-Geschossen und scharfer Munition beschießen. Oder ob die Sicherheitskräfte der PA in der Westbank oder Hamasleute in Gaza Mitglieder oppositioneller Parteien, Gruppen oder Einzelpersonen in Kerker verschleppen: Dies sind die Gerichte, zwischen denen sich die palästinensische Bevölkerung zu bewegen hat, zwischen Mauern, Checkpoints und Straßen der Apartheid, die sie nicht betreten dürfen. Gerichte für Soldaten, Siedler oder Folterknechte gibt es nicht. In diesem allumfassenden Apartheidregime ist palästinensisches Leben billig.
Obama ist im Amt, die Welt spricht und erwartet neue alte Lösungen. Die Roadmap und die Konferenz von Annapolis sollen wieder auf den Weg gebracht werden. Schon jetzt ist klar, dass keine dieser Initiativen die Mauer, den Siedlungsbau und den Landraub rückgängig machen werden.
Wie ein zukünftiger lebensfähiger palästinensischer Staat aussehen könnte, wird klar, wenn man die bereits existierenden Freihandelsabkommen zwischen Israel, Ägypten und Jordanien betrachtet. Schon ballen sich an den Grenzregionen gefüllt riesige Fabriken der Textilindustrie, Sweatshops „ernähren” viele der ärmsten Bewohner dieser Gegend, darunter viele palästinensische Flüchtlinge.
Auch in den von Israel geraubten Teilen der Westbank floriert eine wuchernde Industrialisierung mit rechtlosen Billiglohnarbeitern. Die Produkte werden zu einem großen Teil jetzt schon unter dem Assoziationsabkommen EU—Israel auf unserem Markt verkauft. Ganz offen wird von diesen Ausbeutungsfabriken als zukünftiges „großzügiges Angebot” für einen lebensfähigen Staat gesprochen. Die Palästinenser werden ihn bekommen, ohne eigene Grenze. Eingeschlossen in ihre Städte können sie sich dann ihren Lohn erarbeiten und die Steuern für ihren Freiluftknast bezahlen.
Die internationalen sozialen Bewegungen schlagen schon lange eine Boykott- und Sanktionskampagne als Druckmittel gegen Israel vor; in vielen Ländern wird sie „nach Gaza” verstärkt umgesetzt. Sie wendet sich gegen einen israelischen Staat, der Menschen unter Bomben, weißem Phosphor und Streumunition begräbt — Menschen die eingeschlossen hinter Mauern und Zäunen keine Möglichkeit haben, sich zu schützen oder zu fliehen.
Es ist inakzeptabel angesichts dieser Menschenrechtsverletzungen und der umfassenden Missachtung internationalen Rechts ein EU- Assoziationsabkommen mit Israel aufrechtzuerhalten und somit grünes Licht für weitere Verbrechen zu geben. Lösungsansätze wie die diversen internationalen „Friedensbemühungen”, die die Rechte der Bevölkerung beschneiden und ihre Versklavung weiter vorantreiben, sind indiskutabel.
Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung kann und darf nicht gebunden sein an eine der Parteien, Gruppierungen, Nationen oder Landstriche. Solidarität muss sich zwischen diesen Linien bewegen, sie gehört den Bauern, Frauen, Kindern, Journalisten, Ärzteteams und Menschen in dieser Bevölkerung.

ie Autorin hält sich derzeit in der Westbank auf.


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