SoZ - Sozialistische Zeitung |
Fast 100000 eingeschriebene Teilnehmer, eine beeindruckende,
laute, fröhliche, fantasievolle Auftaktdemonstration und eine Woche mit fast 2000
Workshops und Veranstaltungen — das Weltsozialforum, das dieses Jahr im Nordosten
Brasiliens in der Millionenstadt Belém stattfand, war wieder einmal ein großer Markt
der Möglichkeiten.
Hinter den Kulissen wurde
allerdings wie immer geschoben und gezogen. Die brasilianische Regierung bzw. die
Regionalregierung des Bundesstaates Pará hatten angeblich 50 Millionen Euro für das
Forum ausgegeben und übten im Gegenzug Druck aus, damit die Abschlusserklärungen
nicht zu radikal ausfielen.
Doch dann geschah etwas, das
weder die Organisatoren noch die zahlreich vertretenen linksradikalen Organisationen
vorausgesagt hätten: Das Forum entwickelte sich stellenweise zu einem Tribunal über
zwanzig Jahre neoliberaler Wirtschaftspolitik und stellte das Gesellschaftssystem an den
Pranger, das für die derzeitige tiefe ökologische wie ökonomische Krise
verantwortlich ist. Die Krise stand im Zentrum der Debatten — das zeigte die
Abschlussveranstaltung deutlich.
Geprägt wurde das Forum
in erster Linie durch die brasilianischen Teilnehmer, an erster Stelle die Umwelt- und
Indigenenorganisationen aus Amazonien. Aus dem Bundesstaat Pará, dessen Hauptstadt
Belém ist, kamen etwa 55000 Teilnehmer, aus dem restlichen Brasilien etwa 30000, die
restlichen etwa 10000 kamen aus Lateinamerika, Nordamerika, Europa und Asien.
Die abschließende
„asamblea de las asambleas” — Versammlung der Versammlungen — fand am
Sonntagnachmittag im unvermeidlichen täglichen Regen Nordostbrasiliens statt, das am
Äquator liegt. Sie war zwar nur noch sehr mager besucht, aber sie hatte es in sich:
Nacheinander traten die Vertreter der einzelnen themenbezogenen Versammlungen des Vormittags
vor und stellten ihre Erklärungen vor. Darin spielte der Neoliberalismus — der
Sack, auf den in den letzten Jahren kräftig eingedroschen worden war — keine
wesentliche Rolle mehr. Diesmal traf es den Esel selbst, und der wurde klar und deutlich beim
Namen genannt: In fast allen der über zehn Abschlusserklärungen wurde die Krise als
Systemkrise des Kapitalismus ausgemacht, entsprechend radikal waren die Schlussfolgerungen.
Am weitesten ging die
Versammlung der sozialen Bewegungen. Unter dem Titel: „Wir zahlen nicht für die
Krise — die Reichen sollen zahlen” kam sie zum Schluss, dass eine Lösung auf
der Basis des herrschenden Systems nicht möglich ist, und forderte: „Für eine
Front gegen die Krise sind antikapitalistische, antirassistische, antiimperialistische,
feministische, ökologische und sozialistische Alternativen notwendig.” Sogar der
Sprecher der brasilianischen Landlosenbewegung MST, Joćo Pedro Stédile, befürwortete
die Erklärung, obwohl die MST sonst aufgrund ihrer Beziehungen zur Regierung Lula eher im
Bremserhäuschen sitzt.
Und die Versammlung der Frauen
formulierte: „Wir werden alle, auf der ganzen Welt, am 8.März und in der globalen
Aktionswoche, Front gegen das patriarchalische und kapitalistische System machen, das uns
unterdrückt und ausbeutet."
Die Abschlussversammlung rief
zu einer internationalen Aktionswoche vom 28.März bis zum 4.April auf. Dann sollen
weltweit Proteste und Aktionen gegen die Abwälzung der Krisenfolgen auf die
Bevölkerung stattfinden.
Relativ neu war, dass es
für Parteien problemlos möglich war, im Rahmen des Forums Räume zu bekommen und
Veranstaltungen durchzuführen. So trat die Sprecherin der PSoL (Partei für
Sozialismus und Freiheit), Heloļsa Helena — Ex-Senatorin der Regierungspartei PT und
schärfste Kritikerin der Regierung Lula — vor über tausend Menschen auf dem
Gelände des Forums auf; auch andere politische Gruppierungen nutzten das Forum als
Tribüne.
Zwei neue Netzwerke wurden
gebildet:
— Ein internationales
Netzwerk antikapitalistischer Parteien, das von Vertretern radikaler Parteien und Gruppen aus
fast zwanzig Ländern aus der Taufe gehoben wurde. Die Initiative dazu hatten die
brasilianische PSoL und die französische LCR gemeinsam ergriffen (letztere löste
sich kurz nach dem Forum in die neugegründete antikapitalistische Partei NPA auf —
siehe S.15). Zwar hatte es auch bei früheren Sozialforen derartige Treffen gegeben, aber
diesmal wurde eine kontinuierliche Zusammenarbeit und ein Informationsnetzwerk beschlossen.
Auf dem Treffen anwesend waren Vertreter von Organisationen und Parteien aus Argentinien,
Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Ecuador, Frankreich, Griechenland, Katalonien,
Norwegen, Österreich, Pakistan, den Philippinen, Portugal, Spanien, Südkorea,
Uruguay, USA, Venezuela.
— Ein
ökosozialistisches Netzwerk, das zuvor als lockerer Zusammenhang bestanden hatte. Es traf
sich im Anschluss an das Forum einen vollen Tag lang. Auch dieses Treffen war sehr
erfolgreich, nicht nur, weil mit fast hundert Teilnehmenden die Erwartungen weit
übertroffen wurden, sondern auch, weil mehrere Vertreter von indigenen Gruppen aus Peru
dazu gekommen waren, darunter auch der unermüdliche Aktivist Hugo Blanco. Auch dieses
Netzwerk tat einen Schritt vorwärts, es wählte ein Koordinationskomitee von 15
Personen und verabschiedete das „Internationale Manifest — die Erklärung von
Belém”, die inhaltliche Basis des Zusammenschlusses. Es war in hoher Stückzahl
auf dem Forum verteilt worden und wurde in den Grundzügen allgemein begrüßt. In
der nächsten Zeit wird das Koordinationskomitee eine etwas umfangreichere Erklärung
erarbeiten, auf deren Basis das Netzwerk erweitert werden soll; dazu eine Kurzfassung für
die Öffentlichkeitsarbeit.
Auf dem Forum gab es ein
Ereignis, das die besondere Aufmerksamkeit der Teilnehmenden wie der Presse auf sich zog. Auf
Einladung der MST kamen die Staatspräsidenten von Bolivien, Ecuador, Paraguay und
Venezuela (Evo Morales, Rafael Correa, Fernando Lugo und Hugo Chávez) nach Belém und
traten gemeinsam auf einer Großveranstaltung auf. Über die Verteilung der
Eintrittskarten bestimmte die MST, die natürlich in erster Linie die eigenen Mitglieder
bediente.
Die Veranstaltung selbst war
nicht besonders erhellend, aber drei Dinge waren doch bemerkenswert:
— zum einen, dass
Brasiliens Präsident Lula nicht eingeladen worden war (der machte dann aus Trotz eine
Konkurrenzveranstaltung);
— zum zweiten, dass
Fernando Lugo in seiner Rede auf den Vertrag über das Wasserkraftwerk von Itaipu einging,
der noch unter der Militärdiktatur mit Brasilien geschlossen worden war und der für
Paraguay, vorsichtig gesagt, ziemlich unvorteilhaft ist; er kündigte an, er werde auf
keinen Fall mit dem alten Vertrag wieder nach Hause fahren;
— zum dritten, dass die
ecuadorianische Dachorganisation der Indígenas, CONAIE, einen geharnischten Protestbrief
gegen die Anwesenheit Correas auf dem WSF losließ, weil dieser die Polizei auf sie
gehetzt hatte, um ein Minenprojekt durchzusetzen, was mit dreißig Verhaftungen und
mehreren Verletzten endete.
Es gab aber auch noch andere
Prominente, die das WSF besuchten: Die französische Ex-Präsidentschaftskandidatin
Ségolène Royal saß eines Tages ganz allein in einem Café am Hafen. Als sie
von einem französischen Aktivisten der LCR, mit dem ich unterwegs war und der sie
erkannte, angesprochen wurde, zeigte sie sich empört, dass Lula zur Veranstaltung der
Präsidenten nicht eingeladen worden war. Das fand sie schlicht unhöflich...
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