SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2009, Seite 21

Im Profil: Agnes Wabnitz (1842—1894)

"Sozialdemokratische Agitatorin” und Kämpferin gegen das reaktionäre Vereinsrecht

von Jochen Gester

Zu ihrem Begräbnis kamen 60000 Menschen, dann fiel sie durch das „Sieb der Geschichte.
Nur ein einziges Bild ist von ihr erhalten geblieben, und weil nur aus zweiter Hand einsehbar, ist es an dieser Stelle nicht tauglich. Allein das sagt viel aus darüber, wie wichtig den Zeitchronisten diese Frau war. Sie ist „als scheinbare Lokalgröße durch das Sieb der Geschichte gefallen, weil die allgemeine Erforschung der Aktivistinnen der Emanzipation derart spät einsetzte, dass viele der ohnehin nur wenigen Spuren bereits verwischt waren”, vermutet Klaus Kühnel, der das Buch Freiheit du siegst. Leben und Sterben der Agnes Wabnitz geschrieben hat.
Dabei hat diese mutige Frau wirklich Geschichte gemacht. Zu ihrer Beerdigung am 1.September 1894 auf dem Friedhof der freireligiösen Gemeinde in Berlin kamen mehr als 60000 Menschen. Die Straßen waren verstopft, keine Kutsche kam mehr durch. 630 Kränze wurden an ihrem Grab niedergelegt, weit mehr als am Grab von Kaiser Wilhelm I., der wenige Jahre vorher gestorben war. Die Menschen kamen nicht nur aus Berlin, sondern aus Frankfurt, Dresden und Magdeburg und ließen sich auch durch das ausgesprochene Demonstrationsverbot nicht davon abhalten, der freireligiösen Sozialdemokratin die letzte Ehre zu erweisen. Warum diese Verehrung und Solidarität?
Agnes Wabnitz wurde 1842 als Tochter eines Gastwirts in Gleiwitz geboren und musste nach dem Ruin des elterlichen Gasthofs ihr eigenes Geld verdienen. Wohl bedingt durch die politische Prägung der Familie — der Großvater gehörte zu den schlesischen Maschinenstürmern und der Vater hatte auf den Barrikaden von 1848 gekämpft — erhielt sie im Gegensatz zum Zeitgeist auch als Tochter eine gute Schulbildung und bekam eine Gouvernantenstelle in einer herrschaftlichen Familie. Doch weil sie sich dort nicht unterordnen und anpassen wollte, und sich auch bei nachfolgenden Stellen mit den Dienstboten solidarisierte, verlor sie immer wieder ihre Arbeit. Bedingt durch die Aufgabe, die inzwischen gelähmte Mutter zu pflegen, zog sie Anfang der 70er Jahre nach Berlin und begann dort mit Heimarbeit für das Konfektionsgewerbe — Berlin war damals das absolute Produktionszentrum für die „Mode von der Stange” Durch ihren Bruder bekam sie in dieser Zeit Kontakt zur Sozialdemokratie. Als dieser aufgrund der Sozialistengesetze aus Berlin verwiesen wurde, übernahm sie seine Parteiaufgaben und gründete 1885 zusammen mit anderen Heimarbeiterinnen den Berliner Mantelnäherinnenverein.
Die neuberliner Heimarbeiterin hatte schnell begriffen, dass die Frauen ihre Situation nur verändern können, wenn sie sich zu eigenen Organisationen zusammenschließen, in denen nicht die Männer, sondern sie selbst das Sagen haben. Obwohl dies eine gewerkschaftliche Organisation war, wurde sie nach wenigen Monaten unter Berufung auf das „Politikverbot für Frauen” aufgelöst. Als die Arbeiterinnen darauf mit der Gründung neuer Vereine reagierten, antworte der preußische Staat mit drastischen Geld- und Haftstrafen. Das nach der gescheiterten Revolution 1848 erlassene Vereinsrecht verbot Frauen, sich politischen Parteien anzuschließen und an politischen Versammlungen teilzunehmen. Es verbot ihnen sogar öffentliche Reden über politische Fragen. Was politisch war, entschieden Polizei und Justiz rein willkürlich.
Doch Wabnitz, die sich unter Tag bei Wohlhabenden als Schneiderin verdingte, besuchte abends Veranstaltungen und hielt dort Vorträge. In den Gewerkschaften kämpfte sie — so ihre damalige Freundin Bertha Glogau — „redend für die Männer, als Scharen der Letzteren unter dem Druck des Sozialistengesetzes bangend zusammenbrachen” Das blieb nicht ohne Folgen. Der „sozialdemokratischen Agitatorin Frl. Wabnitz” wurde der Prozess gemacht, sie wurde wegen „Schmähung der christlichen Religion” und „Majestätsbeleidigung” verurteilt. Im Laufe ihres Arbeitslebens wurde sie viermal inhaftiert und verbüßte insgesamt elf Monate Haftstrafe. Während ihrer Haft 1892 trat sie in den Hungerstreik und kam zur Zwangsernährung in die Charité, um anschließend nach Dalldorf/Wittenau überwiesen zu werden, damals Berlins berühmteste „Irrenanstalt” Weil sie sich nicht „frauengemäß” verhielt, sollte sie für verrückt erklärt werden. Erst nach einem Selbstmordversuch und massiven Protesten ihrer Freundinnen und Freunde wurde sie freigelassen.
Als Agnes Wabnitz 1892 erneut zu zehn Monaten Haft verurteilt wurde, nahm sie sich auf dem Berliner „Friedhof der Märzgefallenen”, an dem sich die Demokraten zum Gedenken des 18.März alljährlich trafen, das Leben.
Nach ihrem Tod entwickelte die Arbeiterinnenbewegung ein neues Organisationsprinzip. Statt Vereine zu gründen, wählten sie Vertrauensfrauen, in deren Händen die Fäden zusammenliefen. Sie wurden zwar auch hier weiter bespitzelt und drangsaliert, konnten jedoch nicht mehr wegen Verstoßes gegen das Vereinsrecht belangt werden. 1908 war dann auch dieses Gesetz nicht mehr zu halten.


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