SoZ - Sozialistische Zeitung |
Zu ihrem Begräbnis kamen 60000 Menschen, dann fiel sie
durch das „Sieb der Geschichte.
Nur ein einziges Bild ist von
ihr erhalten geblieben, und weil nur aus zweiter Hand einsehbar, ist es an dieser Stelle nicht
tauglich. Allein das sagt viel aus darüber, wie wichtig den Zeitchronisten diese Frau
war. Sie ist „als scheinbare Lokalgröße durch das Sieb der Geschichte
gefallen, weil die allgemeine Erforschung der Aktivistinnen der Emanzipation derart spät
einsetzte, dass viele der ohnehin nur wenigen Spuren bereits verwischt waren”, vermutet
Klaus Kühnel, der das Buch Freiheit du siegst. Leben und Sterben der Agnes Wabnitz
geschrieben hat.
Dabei hat diese mutige Frau
wirklich Geschichte gemacht. Zu ihrer Beerdigung am 1.September 1894 auf dem Friedhof der
freireligiösen Gemeinde in Berlin kamen mehr als 60000 Menschen. Die Straßen waren
verstopft, keine Kutsche kam mehr durch. 630 Kränze wurden an ihrem Grab niedergelegt,
weit mehr als am Grab von Kaiser Wilhelm I., der wenige Jahre vorher gestorben war. Die
Menschen kamen nicht nur aus Berlin, sondern aus Frankfurt, Dresden und Magdeburg und
ließen sich auch durch das ausgesprochene Demonstrationsverbot nicht davon abhalten, der
freireligiösen Sozialdemokratin die letzte Ehre zu erweisen. Warum diese Verehrung und
Solidarität?
Agnes Wabnitz wurde 1842 als
Tochter eines Gastwirts in Gleiwitz geboren und musste nach dem Ruin des elterlichen Gasthofs
ihr eigenes Geld verdienen. Wohl bedingt durch die politische Prägung der Familie —
der Großvater gehörte zu den schlesischen Maschinenstürmern und der Vater hatte
auf den Barrikaden von 1848 gekämpft — erhielt sie im Gegensatz zum Zeitgeist auch
als Tochter eine gute Schulbildung und bekam eine Gouvernantenstelle in einer herrschaftlichen
Familie. Doch weil sie sich dort nicht unterordnen und anpassen wollte, und sich auch bei
nachfolgenden Stellen mit den Dienstboten solidarisierte, verlor sie immer wieder ihre Arbeit.
Bedingt durch die Aufgabe, die inzwischen gelähmte Mutter zu pflegen, zog sie Anfang der
70er Jahre nach Berlin und begann dort mit Heimarbeit für das Konfektionsgewerbe —
Berlin war damals das absolute Produktionszentrum für die „Mode von der
Stange” Durch ihren Bruder bekam sie in dieser Zeit Kontakt zur Sozialdemokratie. Als
dieser aufgrund der Sozialistengesetze aus Berlin verwiesen wurde, übernahm sie seine
Parteiaufgaben und gründete 1885 zusammen mit anderen Heimarbeiterinnen den Berliner
Mantelnäherinnenverein.
Die neuberliner Heimarbeiterin
hatte schnell begriffen, dass die Frauen ihre Situation nur verändern können, wenn
sie sich zu eigenen Organisationen zusammenschließen, in denen nicht die Männer,
sondern sie selbst das Sagen haben. Obwohl dies eine gewerkschaftliche Organisation war, wurde
sie nach wenigen Monaten unter Berufung auf das „Politikverbot für Frauen”
aufgelöst. Als die Arbeiterinnen darauf mit der Gründung neuer Vereine reagierten,
antworte der preußische Staat mit drastischen Geld- und Haftstrafen. Das nach der
gescheiterten Revolution 1848 erlassene Vereinsrecht verbot Frauen, sich politischen Parteien
anzuschließen und an politischen Versammlungen teilzunehmen. Es verbot ihnen sogar
öffentliche Reden über politische Fragen. Was politisch war, entschieden Polizei und
Justiz rein willkürlich.
Doch Wabnitz, die sich unter
Tag bei Wohlhabenden als Schneiderin verdingte, besuchte abends Veranstaltungen und hielt dort
Vorträge. In den Gewerkschaften kämpfte sie — so ihre damalige Freundin Bertha
Glogau — „redend für die Männer, als Scharen der Letzteren unter dem
Druck des Sozialistengesetzes bangend zusammenbrachen” Das blieb nicht ohne Folgen. Der
„sozialdemokratischen Agitatorin Frl. Wabnitz” wurde der Prozess gemacht, sie
wurde wegen „Schmähung der christlichen Religion” und
„Majestätsbeleidigung” verurteilt. Im Laufe ihres Arbeitslebens wurde sie
viermal inhaftiert und verbüßte insgesamt elf Monate Haftstrafe. Während ihrer
Haft 1892 trat sie in den Hungerstreik und kam zur Zwangsernährung in die Charité,
um anschließend nach Dalldorf/Wittenau überwiesen zu werden, damals Berlins
berühmteste „Irrenanstalt” Weil sie sich nicht
„frauengemäß” verhielt, sollte sie für verrückt erklärt
werden. Erst nach einem Selbstmordversuch und massiven Protesten ihrer Freundinnen und Freunde
wurde sie freigelassen.
Als Agnes Wabnitz 1892 erneut
zu zehn Monaten Haft verurteilt wurde, nahm sie sich auf dem Berliner „Friedhof der
Märzgefallenen”, an dem sich die Demokraten zum Gedenken des 18.März
alljährlich trafen, das Leben.
Nach ihrem Tod entwickelte die
Arbeiterinnenbewegung ein neues Organisationsprinzip. Statt Vereine zu gründen,
wählten sie Vertrauensfrauen, in deren Händen die Fäden zusammenliefen. Sie
wurden zwar auch hier weiter bespitzelt und drangsaliert, konnten jedoch nicht mehr wegen
Verstoßes gegen das Vereinsrecht belangt werden. 1908 war dann auch dieses Gesetz nicht
mehr zu halten.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |