SoZ - Sozialistische Zeitung |
Im Jahr 1845/46 verfassten Marx und Engels Die deutsche Ideologie, die
erste reife Ausformulierung ihrer später als historischer Materialismus bekannten Theorie. Auf
einer der ersten Seiten fand sich folgende Passage: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft,
die Wissenschaft der Geschichte. Die Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die
Geschichte der Natur und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden. Beide Seiten sind indes nicht
zu trennen; solange Menschen existieren, bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der
Menschen gegenseitig. Die Geschichte der Natur, die sogenannte Naturwissenschaft, geht uns hier
nicht an..."
Im letzten Moment strichen sie
diesen Abschnitt aus der endgültigen Version. Sie beschlossen, ein Thema nicht zu
erwähnen, das zu untersuchen und adäquat zu diskutieren sie nicht die Zeit hatten.
Was die Begründer des
wissenschaftlichen Sozialismus nicht wissen konnten: Ein englischer Gentleman, der keinerlei
Sympathie für den Sozialismus hegte, hatte bereits eine überzeugende materialistische
Erklärung der Naturgeschichte verfasst. Sie konnten diese Darlegung nicht lesen, weil ihr
Autor, Charles Darwin, derart geschockt war von den Konsequenzen seiner eigenen Ideen, dass er sie
zwanzig Jahre unter Verschluss hielt.
Darwins Auffassungen über die
Evolution waren 1838 bereits voll entwickelt, und er schrieb 1844 einen 50000 Wörter langen
Essay. Aber er veröffentlichte sein „epochemachendes Werk” (Marx) erst 1859.
Andere hatten bereits vor Darwin Spekulationen zur Evolution angestellt, aber die in
Wissenschaftskreisen und in der Gesellschaft herrschende Auffassung war, dass die verschiedenen
Typen der Pflanzen und Tiere von Gott geschaffen und die verschiedenen Arten für immer
festgelegt seien. Die wenigen, die glaubten, dass die Arten sich mit der Zeit verändert hatten,
konnten diese Veränderungen nicht erklären, ohne Zuflucht zum Übernatürlichen zu
nehmen, wonach die Evolution ein langfristiger Plan Gottes war oder irgendeine Kraft (Gott) die
Natur veranlasste, der Vollkommenheit zuzustreben.
Was Darwins Werk einzigartig machte
war nicht seine Behauptung, dass die Evolution eine Tatsache war, sondern seine ganz und gar
materialistische Erklärung dafür, wie all die wunderbaren Variationen und Muster des
Lebens entstanden waren. Er zeigte, dass der Hauptfaktor der Evolution die „natürliche
Auslese” ist, ein Prozess, der sich einfach zusammenfassen lässt:
1. Alle Organismen produzieren mehr
Nachkommen, als möglicherweise überleben können.
2. Es gibt viele Unterschiede unter
den Individuen einer Art.
3. Variationen, die die Chancen des
Individuums zu überleben, und somit sich fortzupflanzen, erhöhen, werden wahrscheinlich an
die nächste Generation weitergegeben.
4. Über lange Zeitspannen
werden sich als Resultat solche günstigen Eigenschaften in der gesamten Population verbreiten,
während schädliche Eigenschaften zurückgehen werden, sodass die Population insgesamt
zunehmend besser an die Umwelt angepasst sein wird.
5. Wenn sich die Umwelt für
einen Teil der Population ändert, wird sich diese auf unterschiedliche Weise verändern,
und diese in verschiedene Richtungen verlaufenden Änderungen können schließlich zur
Entwicklung getrennter Arten führen.
Dieses einfache und elegante Konzept
griff das am häufigsten zur Verteidigung des Kreationismus gebrauchte Beweismittel — das
anscheinend perfekte Design der Pflanzen und Tiere — auf und erklärte es durch
natürliche Prozesse. In den Worten des Evolutionstheoretikers Ernst Mayr (1904—2005):
„Darwin ersetzte die theologische oder übernatürliche Wissenschaft durch die
weltliche Wissenschaft ... Darwins Erklärung, dass alle Dinge eine natürliche Ursache
haben, machte den Glauben an einen höheren Schöpfergeist ganz und gar
überflüssig."
Darwins Theorie war völlig materialistisch zu einer Zeit, als der Materialismus in
respektablen Kreisen nicht bloß unpopulär war, sondern als subversiv und politisch
gefährlich betrachtet wurde. Von 1838 bis 1848 — Darwin arbeitete gerade seine Ideen aus
— wurde England von einer beispiellosen Welle von Massenaktionen, politischer Proteste und
Streiks erschüttert. Radikale — materialistische, atheistische — Ideen infizierten
die Arbeiterklasse, sodass viele einen revolutionäre Veränderung erwarteten (oder
fürchteten).
Darwin war niemals politisch aktiv,
aber er war ein privilegiertes Mitglied der reichen Mittelklasse, und diese Klasse wurde
angegriffen. „Darwin hatte einen starken Glauben an die bürgerliche Ordnung. Seine
Wissenschaft war revolutionär, aber Darwin war es nicht” (John Bellamy Foster).
Statt zu riskieren, mit den
Radikalen identifiziert zu werden, legte Darwin die Evolution beiseite und widmete sich in den
folgenden Jahren einer populären Darstellung seiner Reise um die Welt, zwei wissenschaftlichen
Büchern über Korallenriffe und vulkanische Inseln sowie einer umfassenden
vierbändigen Studie über Rankenfüßer (Cirripedia). Erst Mitte der 50er Jahre,
als sein Ruf als Wissenschaftler gesichert und die sozialen Unruhen der 40er Jahre eindeutig
überwunden waren, kehrte er zu dem Thema zurück, das ihn berühmt machen sollte.
Selbst jetzt hätte er noch bis
zum folgenden Jahrzehnt mit einer Veröffentlichung gezögert , wenn ihm nicht im Juni 1858
ein junger Naturforscher, Alfred Russell Wallace, einen Essay zugeschickt hätte, der Ideen
enthielt, die mit seinen nahezu identisch waren. Von Freunden gedrängt, als erster zu
veröffentlichten, schrieb Darwin On the Origin of Species by Means of Natural Selection
[Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese], das im November 1859 erschien.
Brillant argumentierend und auch
für Laien verständlich geschrieben, war es sofort ein Bestseller. Der Verlag druckte 1250
Exemplare, aber er erhielt bereits am ersten Tag Bestellungen für 1500 Exemplare. Eine zweite
Auflage von 3000 Exemplaren folgte nach wenigen Wochen und in den nächsten zehn Jahren vier
weitere Ausgaben: Gegen Ende des Jahrhunderts waren etwa 110000 Exemplare in England verkauft
worden.
Während Darwins Ideen von
vielen, besonders jüngeren Wissenschaftlern schnell akzeptiert wurden, wurden sie vom
wissenschaftlichen Establishment und von religiösen Führern rundheraus verurteilt. Wieder
und wieder führten die Kritiker zwei miteinander verbundene Argumente an: Die natürliche
Auslese schloss Gott von jeder Rolle aus; und, obwohl Darwin das Thema vorsichtigerweise vermieden
hatte, die Menschen müssten dann auch Produkte der natürlichen Auslese sein. Beide Ideen
waren blasphemisch; beide untergruben die bestehende soziale Ordnung.
Selbst unter Wissenschaftlern, die
eine wörtliche Auslegung der Bibel ablehnten und weitgehend mit Darwins Argument
übereinstimmten, gab es viele, die darauf bestanden, dass Gott Teil der Erklärung sein
musste, als lenkende Kraft der Evolution oder als die göttliche Quelle der menschlichen Seele
und Intelligenz. Manche benutzten diese Auffassung, um ihre eigenen reaktionären und
rassistischen Vorurteile zu verteidigen: z.B. dass Gott Schwarze und Weiße als verschiedene
Arten geschaffen hätte.
Die Diskussion von Darwins Buch war nicht auf Wissenschaftler und Geistliche beschränkt. Bei
einem Preis von 15 Shilling — dafür musste ein gelernter Arbeiter mehrere Tage arbeiten
— war The Origin für die meisten Arbeiterhaushalte zwar zu teuer, aber in manchen
Städten führten Gruppen radikaler Arbeiter Sammlungen durch, um ein Exemplar zu kaufen,
das dann reihum gelesen wurde.
Darwins enger Mitarbeiter Thomas
Huxley organisierte eine gutbesuchte Vortragsreihe für Arbeiter in London. Bei diesen
Vorträgen, die später als populäre Broschüre erschienen, zögerte Huxley
nicht, einen entscheidenden Punkt zu verteidigen, den Darwin in seinem Buch nur angedeutet hatte
— dass auch der Mensch ein Produkt der natürlichen Auslese ist und mit anderen gemeinsame
Vorfahren hat: „Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Menschheit ihren Ursprung von
einem einzigen Paar hat; ich muss sagen, dass ich überhaupt keinen guten Grund dafür sehen
kann zu glauben, dass es mehr als eine Menschenart gibt."
Karl Marx besuchte mehrere
Vorträge Huxleys und empfahl sie auch seinen politischen Freunden. Wilhelm Liebknecht erinnerte
sich später: „...als Darwin die Konsequenzen seiner Forschung zog und sie der
Öffentlichkeit vorlegte, da war bei uns monatelang von nichts anderem die Rede als von Darwin
und der umwälzenden Gewalt seiner wissenschaftlichen Eroberungen” [Karl Marx zum
Gedächtnis, 1896].
Friedrich Engels erwarb ein Exemplar
der Erstauflage von The Origin und schrieb an Marx, dass es „ganz famos” sei. Marx
stimmte zu, aber dies bedeutet nicht, dass sie unkritisch waren. Sie missbilligten Darwins
„plumpe englische Methode” und machten sich über seine positiven Bezug auf Malthus
lustig. Da sie selbst keine Biologen waren, ergriffen sie nicht Partei in der hitzigen Debatte
darüber, ob die natürliche Auslese oder ein anderer natürlicher Prozess die
Haupttriebkraft der Evolution sei.
Bei seiner entschiedenen
Verteidigung Darwins im Anti-Dühring (1877) schrieb Engels (und Darwin hätte sicher
zugestimmt): „Die Entwicklungstheorie selbst ist aber noch sehr jung, und es ist daher
unzweifelhaft, dass die weitere Forschung, die heutigen, auch die streng darwinistischen
Vorstellungen von dem Hergang der Artenentwicklung sehr bedeutend modifizieren wird."
Was er und Marx am meisten an Darwin
bewunderten war, dass er gezeigt hatte, dass die Natur eine Geschichte hat. So schreibt Engels in
Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, „dass es in der Natur, in
letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht, dass sie sich nicht im ewigen Einerlei
eines stets wiederholten Kreises bewegt, sondern eine wirkliche Geschichte durchmacht. Hier ist vor
allem Darwin zu nennen, der der metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Stoß versetzt
hat durch seinen Nachweis, dass die ganze heutige organische Natur, Pflanzen und Tiere und damit
auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre festgesetzten Entwicklungsprozesses
ist."
Die Erkenntnis, die Marx und Engels
1846 niedergeschrieben und dann durchgestrichen hatten — dass die Geschichte der Natur und die
Geschichte des Menschen untrennbar sind und von einander abhängen —, wurde durch The
Origin bestätigt. In diesem Werk fanden sie eine materialistische Erklärung der
Naturgeschichte, um ihre materialistische Erklärung der menschlichen Geschichte zu
ergänzen. Darwins Werk war, wie Marx 1861 schrieb, „die naturhistorische Grundlage
unserer Anschauung”
Es zeugt von Darwins Hingabe an die wissenschaftliche Wahrheit, dass er, nachdem er sein
Zögern bei der Veröffentlichung seiner Ideen überwunden hatte, den Rest seines Lebens
ihrer Verteidigung gegen einige der einflussreichsten Meinungsführer seiner Zeit widmete. Als
er 1882 starb, war die Tatsache der Evolution in der Wissenschaftsgemeinde nahezu einhellig
akzeptiert.
Weitere Forschungen haben unser
Verständnis der Evolution vertieft. Sie haben auch Darwins Überzeugung bestätigt,
dass die natürliche Auslese eine Schlüsselrolle spielt. Vor allem hat Darwins Beharren auf
eine materialistische Erklärung von Naturphänomenen triumphiert. Kein moderner
Wissenschaftler, nicht einmal einer mit tiefen religiösen Überzeugungen, würde
vorschlagen, dass „Und dann geschah ein Wunder...” eine akzeptable Erklärung
für irgendein Naturphänomen ist, darunter den Ursprung, die gewaltige Vielfalt und die
ständig wechselnde Natur des Lebens auf unserem Planeten.
Dieser Sieg des Materialismus in der
Wissenschaft ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit. Allein aus diesem Grund
verdient Charles Darwin trotz seines Zauderns und seiner bürgerlichen Vorurteile die
Anerkennung all jener, die ein Ende von Aberglauben und Unwissenheit in allen Aspekten des Lebens
anstreben.
Die Idee, wonach „die Natur
ebenfalls ihre Geschichte in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Artungen der Organismen ...
entstehn und vergehn” (Engels), ist ebenso revolutionär und ebenso wichtig für das
sozialistische Denken wie die Idee, dass der Kapitalismus endlich ist, d.h. zu einer bestimmten Zeit
entstand und auch wieder verschwinden wird.
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