SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2009, Seite 06

Mit der Armenspeisung stiehlt sich der Staat aus der Verantwortung

Eine Kritik der Tafeln

von Dieter Hartmann

Über eine Million Menschen ist in Deutschland heute auf Armenspeisungen angewiesen, um satt zu werden.
Fünfzehn Jahre nach der Gründung der ersten Tafel in Deutschland ist die Tafelbewegung in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Schirmherrin von der Leyen ließ in ihrem Grußwort zur Ehrung 15 großer Unternehmen am 1.12.2008 an die Vertreter von Coca-Cola, Daimler AG, Kirchhoff Consult AG, Lidl, Metro, Rewe, u.a. ausrichten: „Die Tafeln sind ein gutes Beispiel dafür, dass sich immer mehr Unternehmen langfristig für gemeinnützige Projekte einsetzen wollen, die nicht nur zu ihrem Geschäft, sondern auch zu ihrer Firmenkultur passen."
Tafeln sammeln überschüssige Lebensmittel, die nach den gesetzlichen Bestimmungen noch verwertbar sind, und geben diese an Bedürftige und soziale Einrichtungen ab. Ein echtes „Erfolgsmodell”, denn nachweislich steigt die Zahl der „Kunden” genannten Tafelnutzer kontinuierlich. Nach dem 3.Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung von 2008 gelten 26% der Bundesbürger als arm oder trotz staatlicher Leistungen von Armut bedroht. Seit Einführung der Hartz-Gesetze 2003 ist parallel dazu die Zahl der Tafeln von damals 320 auf heute über 800 mit mehr als 2000 Ausgabestellen gestiegen, sie werden mittlerweile von über eine Million Menschen genutzt.
An dieser Erfolgsgeschichte sind viele beteiligt: McKinsey berät die Tafeln, die Metro-Gruppe (Extra, real, die Cash&Carry-Märkte) hat den strukturellen Aufbau finanziell unterstützt, Daimler bisher fast 300 Fahrzeuge gestiftet, Gruner+Jahr schaltet kostenlos Anzeigen, General Overnight versendet Pakete, D+S europe übernimmt Callcenter-Leistungen, Vodafone stiftet Handys, und Kirchhoff Consult AG hilft bei der Erstellung der Tafel-Zeitschrift Feedback. Lebensmittelspenden kommen unter anderem von Galeria Kaufhof, Kaufland, Lidl. Zu den Sponsoren gehören Bahlsen, Bofrost, Burda, Bosch...
Das prominente Engagement rechnet sich. So profitieren die Lebensmittel-Großspender auch finanziell, und dies gleich doppelt: Die Supermärkte, die ihre abgelaufenen Waren von den Tafeln abholen lassen, sparen nicht nur teure Entsorgungskosten, sondern können das Ganze auch noch steuerlich geltend machen. Weit höher anzusetzen dürfte das erwartbare symbolische Kapital für die Großspender sein: Die Sponsoren können sich als Wohltäter gegenüber den Armen und sozial verantwortungsbewusste Unternehmen präsentieren — und sich kostengünstig gegen Kritik an ihrer „gesellschaftlichen Verantwortung” panzern.

Almosen statt Menschenwürde

Deutlich anders sind die Effekte für die Menschen, die zu den Tafeln kommen: Viele schämen sich für die Tafelbesuche, die Schlange auf der Straße macht ihre Armut sichtbar und die Menschen fühlen sich als Empfänger von Almosen gedemütigt. Auch erheben sich stundenlanges Warten, Berechtigungskontrolle und bürokratische Erfassung als Hürde vor die Almosenerteilung an die „Kunden” Tafeln sind ein gesellschaftlicher Mechanismus zur Disziplinierung des Elends. Sie beugen der möglichen öffentlichen Empörung über die explodierende Spaltung in Arm und Reich vor und erzeugen Mitleid mit den Betroffenen — das ist der vielleicht gefährlichste Effekt der Tafeln.
So formulierte deren Bundesvorstandsvorsitzender Gerd Häuser durchaus selbstkritisch: „Manche meinen auch, Vereine wie die Tafeln helfen dem Staat, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Es gibt Leute, die sagen, wir verhindern den Aufstand von unten.” Der Staat kann die Regelsätze niedrig halten und seine soziale Verantwortung an die bürgerliche karitative Wohltätigkeit, vor allem an Frauen, abschieben: Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer sind zu über 70% Frauen — und auch die Armut ist bekanntlich überdurchschnittlich weiblich.
Eine politische Kritik an den Tafeln sollte sich nicht gegen die engagierte Arbeit richten, die die Helfer dort tun, sie kann auch kaum die sofortige Schließung der Tafeln fordern — viel zu viele Menschen sind aktuell auf die dort erhältlichen Lebensmittel angewiesen. Aber die zum Sozial- Großunternehmen mutierte „größte soziale Bewegung der 90er Jahre” muss sich ihren gesellschaftlichen Effekten stellen — und dem was dort politisch nicht getan wird.
Die Tafeln „erzeugen ... Armut und ‘zementieren‘ den Status quo” Sie „erzeugen” Armut, weil sie statt zu einer Änderung der Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit ein System des Umgangs mit sozialer Ungerechtigkeit etablieren und manifestieren.
Eine linke Kritik an der „Vertafelung der Gesellschaft” muss nicht nur deren Instrumentalisierung für eine reaktionäre Wohltätigkeitsideologie aufzeigen; sie muss mit einem Konzept sozialer Rechte arbeiten, das Gleichheit (universelle Achtung und gleiche Rechte) und Differenz (individuelle Bedürftigkeit und Lebenssituation) konsequent zusammendenkt.

Eine ausführliche Fassung dieses Artikels findet sich im Band: Tafeln in Deutschland. Wie man in Deutschland satt wird. Theoretische und praktische Aspekte einer sozialen Bewegung (Hg. S.Selke), Vs-Verlag, 2009, 24,90 Euro.


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang