SoZ - Sozialistische Zeitung |
Über eine Million Menschen ist in Deutschland heute auf
Armenspeisungen angewiesen, um satt zu werden.
Fünfzehn Jahre nach der
Gründung der ersten Tafel in Deutschland ist die Tafelbewegung in der Mitte der
Gesellschaft angekommen. Schirmherrin von der Leyen ließ in ihrem Grußwort zur
Ehrung 15 großer Unternehmen am 1.12.2008 an die Vertreter von Coca-Cola, Daimler AG,
Kirchhoff Consult AG, Lidl, Metro, Rewe, u.a. ausrichten: „Die Tafeln sind ein gutes
Beispiel dafür, dass sich immer mehr Unternehmen langfristig für gemeinnützige
Projekte einsetzen wollen, die nicht nur zu ihrem Geschäft, sondern auch zu ihrer
Firmenkultur passen."
Tafeln sammeln
überschüssige Lebensmittel, die nach den gesetzlichen Bestimmungen noch verwertbar
sind, und geben diese an Bedürftige und soziale Einrichtungen ab. Ein echtes
„Erfolgsmodell”, denn nachweislich steigt die Zahl der „Kunden”
genannten Tafelnutzer kontinuierlich. Nach dem 3.Armuts- und Reichtumsberichts der
Bundesregierung von 2008 gelten 26% der Bundesbürger als arm oder trotz staatlicher
Leistungen von Armut bedroht. Seit Einführung der Hartz-Gesetze 2003 ist parallel dazu
die Zahl der Tafeln von damals 320 auf heute über 800 mit mehr als 2000 Ausgabestellen
gestiegen, sie werden mittlerweile von über eine Million Menschen genutzt.
An dieser Erfolgsgeschichte
sind viele beteiligt: McKinsey berät die Tafeln, die Metro-Gruppe (Extra, real, die
Cash&Carry-Märkte) hat den strukturellen Aufbau finanziell unterstützt, Daimler
bisher fast 300 Fahrzeuge gestiftet, Gruner+Jahr schaltet kostenlos Anzeigen, General
Overnight versendet Pakete, D+S europe übernimmt Callcenter-Leistungen, Vodafone stiftet
Handys, und Kirchhoff Consult AG hilft bei der Erstellung der Tafel-Zeitschrift Feedback.
Lebensmittelspenden kommen unter anderem von Galeria Kaufhof, Kaufland, Lidl. Zu den Sponsoren
gehören Bahlsen, Bofrost, Burda, Bosch...
Das prominente Engagement
rechnet sich. So profitieren die Lebensmittel-Großspender auch finanziell, und dies
gleich doppelt: Die Supermärkte, die ihre abgelaufenen Waren von den Tafeln abholen
lassen, sparen nicht nur teure Entsorgungskosten, sondern können das Ganze auch noch
steuerlich geltend machen. Weit höher anzusetzen dürfte das erwartbare symbolische
Kapital für die Großspender sein: Die Sponsoren können sich als Wohltäter
gegenüber den Armen und sozial verantwortungsbewusste Unternehmen präsentieren
— und sich kostengünstig gegen Kritik an ihrer „gesellschaftlichen
Verantwortung” panzern.
Deutlich anders sind die Effekte für die Menschen, die zu den Tafeln kommen: Viele
schämen sich für die Tafelbesuche, die Schlange auf der Straße macht ihre Armut
sichtbar und die Menschen fühlen sich als Empfänger von Almosen gedemütigt.
Auch erheben sich stundenlanges Warten, Berechtigungskontrolle und bürokratische
Erfassung als Hürde vor die Almosenerteilung an die „Kunden” Tafeln sind ein
gesellschaftlicher Mechanismus zur Disziplinierung des Elends. Sie beugen der möglichen
öffentlichen Empörung über die explodierende Spaltung in Arm und Reich vor und
erzeugen Mitleid mit den Betroffenen — das ist der vielleicht gefährlichste Effekt
der Tafeln.
So formulierte deren
Bundesvorstandsvorsitzender Gerd Häuser durchaus selbstkritisch: „Manche meinen
auch, Vereine wie die Tafeln helfen dem Staat, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Es gibt
Leute, die sagen, wir verhindern den Aufstand von unten.” Der Staat kann die
Regelsätze niedrig halten und seine soziale Verantwortung an die bürgerliche
karitative Wohltätigkeit, vor allem an Frauen, abschieben: Die ehrenamtlichen Helferinnen
und Helfer sind zu über 70% Frauen — und auch die Armut ist bekanntlich
überdurchschnittlich weiblich.
Eine politische Kritik an den
Tafeln sollte sich nicht gegen die engagierte Arbeit richten, die die Helfer dort tun, sie
kann auch kaum die sofortige Schließung der Tafeln fordern — viel zu viele Menschen
sind aktuell auf die dort erhältlichen Lebensmittel angewiesen. Aber die zum Sozial-
Großunternehmen mutierte „größte soziale Bewegung der 90er Jahre”
muss sich ihren gesellschaftlichen Effekten stellen — und dem was dort politisch nicht
getan wird.
Die Tafeln „erzeugen ...
Armut und zementieren den Status quo” Sie „erzeugen” Armut, weil
sie statt zu einer Änderung der Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit ein System des
Umgangs mit sozialer Ungerechtigkeit etablieren und manifestieren.
Eine linke Kritik an der
„Vertafelung der Gesellschaft” muss nicht nur deren Instrumentalisierung für
eine reaktionäre Wohltätigkeitsideologie aufzeigen; sie muss mit einem Konzept
sozialer Rechte arbeiten, das Gleichheit (universelle Achtung und gleiche Rechte) und
Differenz (individuelle Bedürftigkeit und Lebenssituation) konsequent zusammendenkt.
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