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Sie kennen das Historische
Archiv Köln sehr gut, wie kommt das?
Für meine Dissertation verbrachte ich vier Monate ununterbrochen im Historischen
Archiv, wobei ich vermutlich als letzter die Archivalien über die Stadt Kalk studiert
habe, die heute wohl vollkommen zerstört sind und auch nicht mehr rekonstruiert werden
können. Die lagen ziemlich weit unten, je tiefer die Archivalien sich im Bauschutt
befinden, desto größer ist der Druck und die Gefahr, dass Grundwasser reinkommt.
Abgesehen davon frequentiere
ich das Archiv seit zwanzig Jahren. Ich bin in der Geschichtswerkstättenbewegung aktiv
und ging mit Arbeitern da hin, um ihnen die Scheu vor den alten Dokumenten zu nehmen. Sie
dachten immer, da darf nicht jeder rein. Vollkommener Unsinn, jeder Bürger darf da rein
und bekommt die alten Archivalien in die Hand. Die Arbeiter waren vollkommen überrascht,
dass sie solche Dinge in die Hand bekamen und stöberten voll Begeisterung in den alten
Dokumenten herum. Es war schön, ihnen zu zeigen, dass dort auch ihre Geschichte
archiviert ist und die ihrer Eltern oder Großeltern.
Bis es eingestürzt ist, war das Archiv ja im Bewusstsein vieler Kölner gar
nicht präsent. Warum?
Der Bau war unscheinbar, sechsgeschossig, 1971 errichtet, eine Betonfassade mit einem
Fenster neben dem anderen, nicht schön. Daran ging man achtlos vorbei. Nicht in
großen Schildern, sondern in kleinen Lettern an der Glastür war es als das
Historische Archiv der Stadt Köln gekennzeichnet. Das zeigt, wie Köln mit seiner
Geschichte umgegangen ist. 1971 gab es dort 65 Beschäftigte, nachher waren es nur noch
30. Köln war die wichtigste Stadt des Mittelalters nördlich der Alpen, trotzdem gibt
es hier keinen Lehrstuhl für kölnische oder rheinische Geschichte, dafür gibt
es einen in Bonn und einen in Düsseldorf.
Seit 1971 wurde nichts mehr am
Archivgebäude gemacht, z.B. konnte man die Temperatur nicht mehr optimal regulieren. Im
Sommer stieg sie auf 30 Grad, im Winter lag sie bei 10 Grad. Alte Wachssiegel, zum Teil
tausend Jahre alt, machen das nicht lange mit. Es gab zwar eine Klimaanlage, die war aber so
schlecht, und das Haus war so schlecht isoliert, dass die Temperaturdifferenz überhaupt
nicht ausgeglichen werden konnte. Zudem war das Archiv bereits viel zu klein, viele Sachen
wurden ausgelagert, z.B. gegenüber in den Keller des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums oder in
andere Archivräume.
Immer, wenn einer ausschied,
wurde die Stelle nicht mehr besetzt. Man ging sogar so weit, dass man sagte: Was sollen wir
eigentlich mit diesen Nachlässen? Die kosten doch nur Geld. Das wurde sogar im Rat der
Stadt Köln debattiert. Gottseidank gab es eine öffentliche Diskussion in Verbindung
mit bekannten Namen wie Heinrich Böll, Dieter Wellershoff, Irmgard Keun. Das gesamte
Archiv der Schriftstellerin Irmgard Keun ist weg, ebenso das größte Jacques-
Offenbach-Archiv auf der gesamten Welt. Viele dieser Nachlässe waren noch nicht
katalogisiert, dafür braucht man ja Personal.
Was lagerte denn alles im
Archiv, und was wurde bislang gerettet?
Da lagen Schreinskarten und
Schreinsbücher, das sind die Grundbücher des Mittelalters und der frühen
Neuzeit, von 1130 bis 1894. Davon hat man wohl einen Teil gerettet. Vom sog. Buch Weinsberg
wurden wohl 80% in einem halbwegs vernünftigen Zustand gefunden. Ein Kaufmann, Hermann
von Weinsberg, hat im 16.Jahrhundert eine Art Tagebuch geschrieben: 40, 50 Jahre lang hat er
den Alltag geschildert, eine sagenhafte Quelle von über 6000 Seiten ist das.
Im Archiv lagern 65000
Urkunden von 922 bis heute, dann die Ratsprotokolle von 1396 bis heute, Pläne von
Köln und Umgebung, 104000 Karten. Die Nachlässe von Stiftern und Klöstern
— bei der Säkularisierung, als die Franzosen kirchliches Eigentum enteigneten,
wurden sie aufgelöst und ihre Urkunden geborgen, eine ungeheure Quelle. Dazu die 780
privaten Nachlässe, ein paar habe ich genannt, dazu Konrad Adenauer, Hans Mayer, die
Architektenfamilie Böhm, der Fotograf Gruber, der Architekt Unger, der Schriftsteller
Dieter Wellershoff — das ist nur einiges, was da drin war.
Wie kommt es, dass bei allem Kölner Stadtpatriotismus das Historische Archiv so
gering geachtet wird?
Das eine ist die Stadt Köln, die Institution, die Verwaltung und der Rat. Das andere
sind Initiativen von Einzelpersonen, und nicht der Stadt Köln. Die Stadt Köln hat
jetzt erst, nicht selber, sondern initiiert durch einen Verein, eine ausführliche
Geschichtsschreibung über die Stadt angeregt. Es gibt zwar einzelne Bücher
darüber, aber nun soll das in 15 oder 18 Bänden geschehen. Ich behaupte, diese
Geschichte wird nie mehr erscheinen können, weil die Hauptquelle fehlt. Es werden jetzt
nur noch einzelne Bände erscheinen können, der Band zu Köln im
Nationalsozialismus ist fast fertig. Auch Köln im Mittelalter ist fertig. Es gibt ganz
viele Privatleute und die Geschichtswerkstätten, wozu ich gehöre, die über ihr
Viertel, ihren Stadtteil viel erforschen möchten; von offizieller Seite ist nicht viel
gemacht worden.
Gab es in den letzten zwanzig Jahren Verschlechterungen? Die Archivare sind ja wohl
sehr qualifiziert.
Sie sind hochmotiviert und von großer Hilfsbereitschaft, trotz der
Beschränkungen. Ich kenne sie alle persönlich, mit manchen duze ich mich auch.
Natürlich merkt man den Personalabbau. Was die Schäden der letzten Monate anbelangt,
weiß ich das nur aus Schilderungen. Es gab Risse; einmal mussten sie das Haus evakuieren,
weil durch den U-Bahn-Bau an einem Rohr eine undichte Stelle entstanden war bzw. ein Rohr
gerissen ist.
Anlässlich des U-Bahnbaus hätte man ja das Archiv vorsichtshalber auslagern
können, zumindest einzelne Bestände?
Die KVB, wie auch die Stadt Köln, haben immer signalisiert, das ist sicher.
Entlang der Bonner Strasse und
der Severinstrasse hatten alle Häuser Risse, alle. Die Leute hatten Angst. Dann kamen
Sachverständige. Und jetzt kommt das Problem. Der Sachverständige hatte einen
eingeschränkten Auftrag, nämlich herauszufinden, ob der Riss so gefährlich ist,
dass das Haus zusammenbricht. Ich bin selber Statiker, wenn Risse in der Wand sind, heißt
das noch lang nicht, dass das Haus zusammenbricht.
Wichtig ist zu beurteilen, ob
der Riss ein Setzriss ist oder andere Ursachen hat. Bei der U-Bahn hängen die Setzrisse
— die für sich genommen ungefährlich sind — damit zusammen, dass beim
Abpumpen des Grundwassers Materie aus dem Boden verloren geht, der Kies sinkt zusammen, und
dann setzt sich was. Ein Problem entsteht, wenn man Grundwasserabsenkungen im großen Stil
durchführt. Um das zu verhindern, ergreifen andere Städte ganz andere
Maßnahmen: In München wurde an sensiblen Stellen den Boden vereist. Das kostet
natürlich Geld. In Leipzig wird auch eine U-Bahn gebaut, der Auerbachkeller hat keinen
einzigen Riss. Was haben sie da gemacht? Sie haben überall vorher Zementmilch in den
Boden gespritzt. Wenn sie irgendwo Wasser heraus genommen haben, haben sie dafür
Zementmilch reingespritzt. Wenn die mit Kiesbeton verhärtet, wird das steinhart, es kann
nichts passieren.
Das hätte man in
Köln auch machen können, man hat es sich aber gespart, weil die KVB und die
Gutachter meinten, das sei nicht nötig.
Köln hat zwei Handicaps,
die andere Städte nicht haben. Wegen seines Alters von 2000 Jahren hat es eine bis zu
neun Meter hohe Kulturschuttschicht, immer wieder wurden Bauten abgerissen, kamen neue drauf,
wurden wieder abgerissen, kamen neue drauf usw. In diesem Kulturschutt gibt es alte
Gewölbe, die kennt man überhaupt nicht mehr, es gibt Hohlräume, man weiß
gar nicht, wo die sind. Das ist stabil, man darf nur nicht anfangen, über eine
längere Zeit daran zu rütteln — so wie beim Tunnelvortrieb.
Da arbeitet sich unter der
Erde eine Riesenfräse vor, direkt dahinter werden die Röhren betoniert. Da vibriert
der ganze Boden. Und wenn Hohlräume lange vibriert werden, sacken sie zusammen.
Das zweite Kölner Problem
ist der sehr hohe Grundwasserspiegel, zum Teil reicht er bis 10 Meter unter dem Erdboden. Wenn
man da 35 oder 37 Meter tief ausschachten muss, muss man viel Grundwasser absenken. Noch dazu
liefert der Rhein, der das Grundwasser speist, eine Riesenwassermenge, man muss unheimlich
viel rauspumpen. Dafür werden Grundwasserbrunnen gebaut — davon wurden viel mehr
gegraben als angegeben, was möglicherweise die Unglücksursache darstellt.
Alle glauben nun, dem
Ingeniör ist nix zu schwör, alle Probleme sind lösbar. Das stimmt nicht. Ich
warne vor dieser Fortschrittsgläubigkeit. Es gibt immer Unwägbarkeiten, wir kennen
das aus der Atomindustrie. Die Injektionen mit Zementmilch hätten die Sicherheit
erhöht, aber eine absolute Sicherheit hätte es nie gegeben. An den erwähnten
ortsspezifischen Problemen, wie die Hohlräume im Kulturschutt, hätte sich nichts
geändert.
Entlang der Trasse der neuen U-Bahn-Linie liegt wohl viel Kulturschutt?
Richtig. Ich bin gefragt worden: Können Sie ausschließen, dass in Zukunft so was
nochmal passiert? Nein. Wer Ihnen das sagt, der lügt. Sie können nur möglichst
viel tun, um die Wahrscheinlichkeit eines Unglücks zu verringern. Es muss erst einmal
einen Baustopp geben, und zwar einen kompletten Baustopp. Alle Möglichkeiten müssen
ausgeschöpft werden, egal was das kostet. Jeden Meter muss eine Bohrung gemacht werden um
zu sehen, wie ist der Untergrund? Das kostet Unsummen, aber das muss uns die Sicherheit wert
sein.
Was ist mit der U-Bahn? Ist sie gefährdet?
Die U-Bahn ist wie eingeschlossen, da gibt es riesige dicke Betonwände. Von oben
lastet der gesamte Druck drauf, dafür gibt es Sensoren. Alle soundsoviel Meter gibt es
eine Dehnungsfuge. Vielleicht kann ein bisschen Flüssigkeit eindringen, aber dafür
gibt es Sensoren. Fast alle U-Bahn-Linien liegen bereits im Grundwasserbereich, weil der
Grundwasserspiegel so hoch ist.
Das wird jetzt ein großes
Problem, wenn sie jetzt nicht weiter abpumpen, schwimmt die U-Bahn obenauf. Denn dieser Trog,
diese Röhren sind ohne Verfüllung da oben zu leicht. Die Schwerkraft ist geringer
als die Auftriebskraft und dann geht das hoch. Darum pumpen die jetzt, sie haben Angst. Es
müsste auch die Bodenplatte betoniert werden, damit von unten nicht wieder Kies oder
Wasser hochkommt.
Aber alles andere muss so
lange gestoppt werden, bis wirklich alle an Sicherungsmaßnahmen durchgeführt worden
ist. Hundert Prozent Sicherheit wird es jedoch nie geben.
Ist die U-Bahn verkehrspolitisch von gestern?
Ich halte die U-Bahn verkehrspolitisch für ein veraltetes Konzept. Ursprünglich
wurde sie bei uns nach dem Krieg gebaut, um oben für den motorisierten Individualverkehr
mehr Raum zu haben. Straßenbahnen wurden unter die Erde gelegt, damit oben die Autos
fahren können.
Die Landesregierung von NRW
hat schon Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre gesagt, dass U-Bahn-Bauten keine Zuschüsse
mehr kriegen, weil sie ein veraltetes Konzept sind. Trotzdem haben sich die beiden großen
Parteien hier in Köln 1992 gegen die Grünen durchgesetzt — die kritisierten
das und zeigten eine oberirdische Alternative auf. Ich habe mir die Ratsprotokolle angeschaut,
die Grünen wurden hämisch beschimpft als Bimmelbahnvertreter, Pferdebahnfraktion
usw.
1995 gab es in NRW eine rot-
grüne Koalition, und die Grünen setzten durch, dass die U-Bahn-Planung in Köln
nochmal überdacht wird. Dann hat die Ingenieurgesellschaft Schüßler Plan zehn
Alternativen erarbeitet, fünf rein oberirdische, vier halb oberirdische/halb
unterirdische und eine ganz unterirdische. Das war die teuerste. Die Grünen ließen
sich als Kompromiss auf eine halb unterirdische/halb oberirdische Bahn ein, die wäre bis
zum Heumarkt gegangen: unterirdisch vom Breslauer Platz, hinter dem Dom, langsam zum Rhein
hinauf, dann oberirdisch weiter bis zum Ubierring. Da hätte man auch den Rheinauhafen mit
den vielen Leuten, die da hinziehen, anbinden können; durch die jetzige Lösung sind
sie gar nicht angebunden, das war damals schon bekannt.
SPD und CDU setzten das
teuerste Projekt durch. Dieselbe Firma Schüßler Plan, die die Alternativen entwarf,
hat die Generalbauleitung für das Ganze, sie hat die teuerste Variante als die optimale
dargestellt.
Man hätte diese U-Bahn
nicht gebraucht. Es gibt ja schon eine, die Linie 16, die vom Ebertplatz über
Hauptbahnhof, Neumarkt, Poststraße zum Barbarossaplatz fährt, damit haben wir schon
eine Nordsüdverbindung.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
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