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Im Juni 2004 rettete die „Cap Anamur”, das Schiff der
gleichnamigen Hilfsorganisation, 80 Meilen vor der Mittelmeerinsel Lampedusa 37 Flüchtlinge vor dem
sicheren Tod. Die italienische Regierung verweigerte — in Übereinkunft mit der deutschen
Regierung — dem Schiff die Einfahrt in den sizilianischen Hafen Porto Empedocle. Nach einer
zweiwöchigen Irrfahrt auf See wurden die 37 Schiffbrüchigen in Abschiebehaft genommen und kurz
darauf abgeschoben. Der Kapitän, der Erste Offizier und Elias Bierdel (bis Oktober 2004 Leiter von Cap
Anamur) wurden wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung” verhaftet. Der Prozess läuft
derzeit noch, das Urteil wird für Anfang Mai erwartet.
JUDITH GLEITZE war langjährige
Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Brandenburg und Vorstandsmitglied von Pro Asyl; sie ist
Mitgründerin von borderline-europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V. und borderline-sicilia. Sie
beschäftigt sich vor allem mit der Situation der Flüchtlinge in Italien. Mit ihr sprach Angela
Huemer.
Nehmen wir mal die Blockade der Cap Anamur vor fünf Jahren zum Anlass für eine
Bestandsaufnahme. Wie hat sich die Situation seither verändert? Damals entstanden ja einige neue Ideen
— z.B. die, Erstaufnahmelager und Asylverfahren in Nordafrika zu schaffen. Was ist daraus
geworden?
Das ist eine sehr umfassende Frage. Die Idee der Lager in Nordafrika hat damals große Empörung
bei Menschenrechtsorganisationen ausgelöst. Dann sprach man nicht mehr davon — und dennoch
existieren sie längst. Schauen wir uns z.B. Libyen an: Die Libyer werden von der EU umgarnt, damit sie
bei der Abschottung Europas mithelfen. Längst haben sie abgeschobene und aufgegriffene Migranten
inhaftiert, z.B. im Lager Misratha, in dem seit fast drei Jahren an die 600 Eritreer festsitzen. Auch die 21
Überlebenden des Schiffbruchs Ende März 2009 vor der libyschen Küste wurden nach ihrer
Rettung schlicht inhaftiert, wann und wie sie aus dem Lager wieder rauskommen, ist völlig ungewiss. Die
Lageridee wird also längst umgesetzt, auch wenn man sie nicht, wie damals geplant, Lager für die
Prüfung von Asylanträgen noch vor der Einreise in die EU nennen kann — diese Chance besteht
dort nicht.
In demselben Jahr, als die Blockade der Cap Anamur stattfand, wurde auch die EU-Grenzschutzagentur
Frontex gegründet.
Was Frontex betrifft: Diese Agentur wurde eingerichtet und hat ihre Arbeit aufgenommen. Im Mittelmeer
leitete erst Italien, dann Malta die Einsätze der Operationen Nautilus. Die Erfolgsberichte der Agentur
widersprechen sich: Einmal behauptet ihr Leiter, der Finne Ilkka Laitinen, im Mittelmeer sei eine große
Zahl von Migranten und Flüchtlingen aufgehalten worden, dann wieder sprechen die italienischen
Behörden von mäßigem Erfolg. Fakt ist, dass die Menschen weiterhin fliehen, die Fluchtrouten
sich aber ändern, je nach dem, wo die Einsätze gefahren werden.
Am 15.Mai 2009 sollen gemeinsame
italienisch-libysche Patrouillen starten, um die Flüchtlinge direkt vor der libyschen Küste
abzufangen. Diese Zusammenarbeit basiert auf einem „Freundschaftsvertrag” zwischen den beiden
Ländern, der letzen Sommer geschlossen wurden. Libyen erhält sehr viel Geld — angeblich
Reparationszahlungen für die Kolonialisierungszeit. Doch letztendlich zahlt der italienische Staat,
damit Libyen das Spiel der Abschottung mitspielt. Italien hat auch mehrere Lager in Libyen finanziert, damit
die Migranten und Flüchtlinge dort festgehalten werden und nicht nach Europa gelangen.
Ein dritter, wichtiger Punkt der Abschottung
ist die Angst der Fischer und Seefahrer, Flüchtlinge auf See zu retten. Nach dem Debakel um die Cap
Anamur hat diese Angst massiv zugenommen. Rettet dann doch mal jemand, wie es im Jahre 2007 zwei tunesische
Fischerboote getan haben, müssen die Retter mit einem Prozess ähnlich dem gegen die Cap Anamur
rechnen. Sie verlieren ihren Fang, ihre Boote und damit ihre Lebensgrundlage. Ergebnis ist: Viele schauen
weg und retten aus Angst nicht.
Seit 2004 hat die Abschottung also massiv
zugenommen, immer im Namen des Kampfes gegen die illegale Migration und mit dem perfiden Unterton, man
müsse die Menschen schließlich vor der todbringenden Überfahrt bewahren.
Sagen Sie doch etwas über Ihren eigenen Hintergrund: Wie kam es zur Idee, borderline-europe zu
gründen? Wie sieht Ihre Arbeit konkret aus?
Borderline-europe entstand im Jahre 2007 aus der Idee heraus, dieser Abschottung Europas endlich etwas
entgegenzusetzen. Aufhänger für die Gründung des Vereins war das Drama um die Cap Anamur und
die Rettung der 37 Flüchtlinge, die den Kapitän, den Ersten Offizier und den Leiter der
Organisation Cap Anamur schließlich in Italien wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise” vor
Gericht brachte. Der Prozess begann im November 2006 auf Sizilien. Die Cap Anamur war zwar nicht der erste
Fall dieser Art in Italien, aber doch der emblematischste. Den Angeklagten drohen bis zu zwölf Jahren
Haft, die Flüchtlinge sind bis auf einen alle abgeschoben worden und zum Teil zu Tode gekommen.
Doch auch an den europäischen
Ostgrenzen spielen sich gerade mit tschetschenischen Flüchtlingen immer wieder dramatische Szenen ab.
Einige von uns kommen aus der politischen Flüchtlingsarbeit, und wegen dieses täglichen Dramas,
das sich da vor unseren Türen abspielt, von dem aber keiner etwas hören will, haben wir
beschlossen: Das Thema muss in die Öffentlichkeit! Nur wenn wir darüber reden, es sichtbar machen,
begreifen die Menschen, denen in den Medien immer nur gesagt wird: „Das Boot ist voll”,
„Es gibt einen Massenansturm”, worum es wirklich geht.
Borderline-europe leistet derzeit vor allem
Öffentlichkeitsarbeit: Wir betreiben eine Homepage, auf die wir täglich Meldungen und
Hintergrundberichte zu Fluchtrouten, zu den Opfern und den Abschiebungen aus allen möglichen
Ländern einstellen. Zudem werden wir zu Veranstaltungen eingeladen, um zu berichten, was an den
jeweiligen „Frontabschnitten” los ist. Unsere Schwerpunkte sind derzeit Griechenland, die
Ostgrenzen und Italien, ehrenamtliche Mitarbeiter werten die arabische Presse aus. In Italien haben wir eine
kleine Außenstelle auf Sizilien gegründet. Eine weitere Außenstelle befindet sich in
Österreich.
Gibt es tatsächlich einen Massenansturm in die EU?
Das wird immer wieder gern behauptet. Auch der italienische Innenminister Maroni ist sich nicht zu
schade, dieses populistische „Geschwafel” anzuheizen. Angeblich sitzen 2 Millionen Menschen in
Libyen und warten auf die Überfahrt. Das stimmt einfach nicht. In Libyen leben wohl an die 1-2
Millionen nicht registrierte Ausländer, aber die wollen doch nicht alle nach Europa! Wir haben mit
Flüchtlingen gesprochen, die diese Reise auf sich genommen haben. Viele von ihnen haben uns
erzählt, dass sie nicht aus Afrika weg wollten, dann aber durch den massiven Rassismus in Libyen dazu
gezwungen wurden. Zurück ging es nicht mehr, es blieb nur noch der Weg nach vorn.
Aber den Traum von Europa träumen nicht
alle! Im letzten Jahr sind 36000 Menschen über das Meer — also meist von Libyen — nach
Italien gekommen. Vergleichen wir das doch mal mit den Zahlen der vom UNHCR weltweit betreuten
Flüchtlinge: 32,9 Millionen. Können wir da wirklich von einem Massenansturm sprechen?
Um die Jahrtausendwende hat eine massive Veränderung stattgefunden: Waren zuvor noch rund 40000
Menschen pro Jahr über die Adria nach Italien gekommen, landen nun sehr viele Flüchtlingen im
Süden des Landes, in Sizilien und auf Lampedusa. Gibt es Gründe dafür?
Flüchtlingsrouten ändern sich laufend. Das liegt an den politischen Ereignissen und an der Art
der Abschottung. Währen des Bosnien- und des Kosovokriegs sind sehr viele Menschen über Albanien
nach Italien gekommen. Doch die Situation in diesen Ländern hat sich verändert, so auch die Routen
der Flüchtlinge. Derzeit ist Libyen im Mittelmeerraum das Land, aus dem die meisten losfahren.
Lampedusa liegt geografisch am günstigsten, weil Libyen am nächsten. Aus diesem Grunde landen so
viele Flüchtlinge dort an. Die Menschen, die nach Italien kommen, kommen sehr oft vom Horn vom Afrika,
also aus absoluten Krisengebieten. Geografisch ist für sie die Route Sudan—Libyen—Italien
die nächste.
Doch viele haben auch unendlich viel weitere
Routen hinter sich. Weil auch das Mittelmeer immer überwachter und damit gefährlicher wird, wird
seit zwei Jahren die Route Türkei—Griechenland und die Route Algerien—Sardinien
stärker befahren.
Noch eine Frage zum Schiffbruch Ende März nahe Libyen. Gibt es in der Zwischenzeit genauere
Informationen? Was wurde aus den Überlebenden?
Die einzige Information, die uns erreicht hat, ist, dass die 21 Überlebenden in einem
Gefängnis nahe Tripolis sitzen. Dort wurden einige von Angestellten ihrer Botschaften besucht, um sie
herauszuholen. Auch Vertreter der IOM (International Organization of Migration) waren dort, konnten aber
letztendlich nichts für die Menschen tun. Die Häftlinge, die aus Gambia und Kamerun kommen, haben
faktisch keine Chance auf Freilassung, denn ihre Länder unterhalten keine konsularische Vertretung in
Libyen. Sie müssen damit rechnen, Monate in diesem Gefängnis zuzubringen.
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