SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2009, Seite 07

Straßburg

"Ich will keine Demonstranten sehen"

Am Vorabend der internationalen Demonstration schärft Nicolas Sarkozy der CRS, der für ihre Knüppelorgien berüchtigten Bereitschaftspolizei, ein, was das oberste Ziel ihres Einsatzes zu sein hat.Den Häuptern der reichsten und wichtigsten Länder der Welt präsentiert er eine Stadt im Ausnahmezustand. Sie verbarrikadieren sich hinter drei Meter hohen Metallgitterzäunen in einer roten und einer orange Zone, die am Samstag nicht einmal mehr von denen passiert werden durfte, die dafür einen Ausweis hatten. „Bleiben Sie zu Hause”, lautet der Rat der Behörden. Die Schulen sind schon die ganze Woche geschlossen; viele Menschen haben die Stadt verlassen. Am Freitag werden die Autobahnen rund um Straßburg gesperrt, der Zugverkehr nach Kehl eingestellt; Samstag früh ist auch der gesamte öffentliche Nahverkehr in der Stadt eingestellt; Geschäfte und Restaurants haben geschlossen zu bleiben. Straßburg gleicht einer belagerten Stadt.

In seiner Bilanz des Polizeieinsatzes hält sich der Präfekt des Département Oberrhein, Jean-Marc Rebière, zugute, dass „die Demonstranten nicht in die Stadt gekommen sind und dass es wenig Verletzte und keine Toten gegeben hat” Das ist wohl wahr, aber es ist an diesem Samstag auch das Demonstrationsrecht auf der Strecke geblieben. Denn die Demonstration konnte sich zu keinem Zeitpunkt vollständig sammeln; die vereinbarte Demoroute wurde von der Polizei mehrfach versperrt; ständig wurden Teil von ihr mit Tränengas, Blendschockgranaten und Gummigeschossen angegriffen und zerrieben.
Tatsächlich hätte man die Route nicht akzeptieren dürfen, denn sie führte über eine Insel, die von drei Brücken begrenzt war. Mit einer Verzögerung von eineinhalb Stunden wurden die Demonstranten zum Kundgebungsort durchgelassen; danach wurden alle drei Brücken gesperrt. Mehrere tausend Demonstranten, die später dazu stießen, wurden nicht mehr durchgelassen und sammelten sich am gegenüberliegenden Ufer des Kanals, von wo sie aber bald mit Tränengas verscheucht wurden. Es war eher ein Freiluftgefängnis als eine Route. Und selbst auf dieser Insel konnten die Demonstranten nicht einmal im Viereck laufen, weil die vierte Seite, die an der Europabrücke vorbeiführte, gesperrt war.
Die Polizei brachte damit das gesamte Demonstrationskonzept durcheinander, stiftete Chaos und schuf ideale Voraussetzungen für das Werk der Brandstifter. Diese wiederum ließ sie so offensichtlich gewähren, dass der Bürgermeister von Straßburg, die Regionalpresse und die örtliche Bevölkerung später übereinstimmend kritisierten, der Präfekt habe es unterlassen, die Straßburger zu schützen und zugesehen, wie ein ganzer Stadtteil niedergebrannt wird.

Port du Rhin ist eines der ärmsten Stadtviertel von Straßburg; lange Zeit wurde es von der Stadtverwaltung vernachlässigt. Die Bevölkerung in dem kleinen Hafenviertel, inmitten von einem ausgedehnten Gewerbegebiet, ist sehr jung — Elsässer und maghrebinische Familien, Leute der Banlieue. Sie sind erschüttert über den Zynismus der Ordnungskräfte. Sie sind nicht gegen die Demonstration, aber: Warum führt sie nicht durch die sog. besseren Viertel?
Sie berichten groteske Situationen: Als erstes brennt das Zollhäuschen auf der Brücke, sechs Wasserwerfer stehen drum herum, keinem fällt es ein zu löschen.
Nachdem die hohen Herren ins Kongresszentrum gebracht sind, zieht die Polizei an der Brücke wieder ab. Kleinere Gruppen schwarz Gekleideter rücken an und lassen sich erst einmal in der Lobby des Ibis-Hotels nieder, wo sie nach dem Whisky greifen. Im Hotel sind der Direktor und eine Angestellte sowie einige Gäste. Nachdem sich die Schwarzen gütlich getan haben, werfen sie die Möbel auf die Straße und entzünden ein Feuer. Danach setzen sie mit ein paar Brandbomben das ganze Hotel in Brand. Die ganze Zeit kreisen sechs Hubschrauber über dem Gelände, aber es braucht über eine Stunde, bis Polizei anrückt. Die ersten Löscharbeiten und Evakuierungsmaßnahmen müssen die Bewohner selber erledigen. Als die Feuerwehr kommt, beschränkt sie sich darauf, ein Übergreifen des Brandes auf benachbarte Häuser zu verhindern. Das achtstöckige Hotel brennt aus, ebenso die Touristeninformation und die Apotheke.
Besonders empfindlich trifft die Bewohner der Verlust der Apotheke. Darüber sind sie untröstlich, denn jetzt müssen sie in die Stadt fahren, um sich zu versorgen, und das geht nur mit dem Bus, der unregelmäßig fährt. Definitiv: Wenn unter den Brandstiftern einer ist, der meint, eine Wut auf das System zu haben, hat sie mit dem gemeinsamen Kampf an der Seite der Ausgegrenzten und Entrechteten nichts zu tun. Jedenfalls hatten sich die Brandstifter hervorragend vorbereitet, ihr Werk hatte nichts von einer spontanen Revolte, die wenigstens von ihnen kamen aus Straßburg und aus diesem Stadtteil schon gar nicht. „Unsere Jugendlichen haben sich schützend vor die Schule gestellt, damit die nicht auch noch angesteckt wird."
Die Brandstifter wurden bis heute nicht gefasst; an dem Samstag gab es trotz der zahlreichen Zerstörungen und der großen Übermacht der Polizeikräfte gerade mal 33 Verhaftungen. Hingegen nahm die Polizei zwei Tage vorher bei einem Angriff auf das Camp 300 Menschen fest, von denen sie die meisten wieder freilassen musste — nachdem sie in die Polizeiakte eingetragen waren.

Die Grünen haben eine parlamentarische Untersuchungskommission gefordert, viele fordern den Präfekten zur Rechenschaft; der hat Vorsorge getragen und zwei Tage nach der Demonstration um seine Versetzung gebeten, die ihm prompt gewährt wurde. Der sozialdemokratische Bürgermeister von Straßburg fordert eine „Überprüfung der Kommandostruktur”, Absprachen seien nicht eingehalten worden. Die Stadt fordert Schadenersatz von der Zentralregierung für die entstandenen Schäden. Sie hatte bei den Entscheidungen über den Umgang mit dem Gipfel und den Gegenaktivitäten nichts mitzureden.


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