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Die Transformation der Ökonomien Mittel- und Osteuropas hat
Volkswirtschaften hinterlassen, die erneut in vollständige wirtschaftliche Abhängigkeit von
Westeuropa und seinen Banken geraten sind. In der Krise fällt der EU diese Art „Abwicklung des
Kommunismus” jetzt auf die Füße.
Von Ende der 90er Jahre bis 2008 schien die
Entwicklung in Osteuropa eine Erfolgsgeschichte zu sein. Dies wurde zugleich illustriert und verstärkt
durch die Integration von zehn Ländern dieser Region in die Europäische Union (EU) 2004 und 2007.
Der Höhenflug der Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) stand im krassen Gegensatz zu dem
schwachen durchschnittlichen Wachstum in Westeuropa und galt als „Aufholjagd” (im
Lebensstandard). Dabei wurde ignoriert, dass das BIP kein Indikator für Wohlstand ist und dass der
Preis für die „große kapitalistische Transformation” Osteuropas ab dem Jahr 2000 eine
hohe Verschuldung und die finanzielle Abhängigkeit von westeuropäischen Banken war — die
hatte es seit der Entkolonialisierung nicht mehr gegeben.
Am 15.November 2006 kommentierte Ernst
Berglof, Chefökonom der Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, die
schwerpunktmäßig an Osteuropa arbeitete, die Transformationen in Osteuropa so: „Acht Jahre,
nachdem die Rubelkrise 1998 Schockwellen durch ganz Osteuropa geschickt hat, sind die Banken der Region
größer, stärker, besser reguliert, rentabler und wettbewerbsfähiger als je zu
vor.” Er fügte hinzu: „Das zeigt mehr als jede andere Entwicklung im Bereich der
Wirtschaft, die Kräfte des Marktes ihren Einfluss in den alten Kommandowirtschaften fest verankert
haben. Die meisten dieser Transformationsländer florieren, und die Unterstützung der Banken ist
eine große Stütze für die aktuellen Wachstumsraten..."
Es ist wahr, vor allem nach der
Beitrittswelle zur EU wuchs die Wirtschaft in den Ländern Mitteleuropas um 5—8%, in den
baltischen Staaten noch mehr; Lettland erreichte 2007 ein Wachstumsplus von mehr als 12%.
Weniger als zwei Jahre später rufen die
Ukraine, Ungarn, Lettland Rumänien, Polen und Serbien den Internationalen Währungsfonds um
Hilfe... Sie sind konfrontiert mit einem Einbruch des Wachstums und der Wechselkurse, mit Kapitalflucht und
einer Bankenkrise. Die vom, IWF und der EU geforderte Sparpolitik führt zu Regierungskrisen. Der
Gouverneur der lettischen Zentralbank erklärt, die Wirtschaft des Landes sei „klinisch
tot”, nachdem das BIP im vierten Quartal 2008 um 10,5% gefallen ist und im Januar 2009 nochmal soviel.
Die Bevölkerung ist wütend auf das Parlament und den Finanzminister; eine Demonstration von
über 10000 Menschen im Februar dieses Jahres verwandelt sich in einen Aufstand, der die Regierung zu
Fall bringt. Ungarn, das für 2009 einen Rückgang des BIP von 6% erwartet, hat — zusammen mit
Österreich — die EU um einen Notfallplan für Osteuropa gebeten — vergeblich.
Sicher, die weltweite Rezession trifft
besonders die EU, in der die neuen Mitglieder das Gros ihres Warenaustauschs tätigen; deren Exporte
schrumpfen nun, ebenso die Arbeitsplätze der Auswanderer. Der Kern des Problems liegt jedoch im
Charakter des vorherigen Wachstums und im Bankensystem, das dort etabliert wurde.
Osteuropa erlebt eine Variante der
Bankenkrise, die sich in den USA abgespielt hat — allerdings vor dem Hintergrund der besonderen
Bedingungen der kapitalistischen Restauration im Osten im Rahmen seiner Integration in die EU.
Die kapitalistische Restauration war mit der Tatsache konfrontiert, dass nationales Kapital, mit dem die
zu privatisierenden Produktionsmittel hätten gekauft werden sollen, nicht vorhanden ist. Im alten
System diente das Geld nicht als Kapital, es war nicht dazu da, Profit zu machen, die Produktionsmittel
waren größtenteils keine Waren und es gab keinen Kapitalmarkt. Das hat die kapitalistische
Restauration radikal geändert.
Die Verallgemeinerung der Warenproduktion
griff als erstes (durch Privatisierung) die Unternehmen an. Damit wurden alle alten Formen des
Sozialschutzes der Arbeitskraft aufgehoben — darunter der größte Teil der in Naturalien
entrichteten „Sozialeinkommen” (soziale Vorteile, die im allgemeinen mit einer Anstellung in
einem Großbetrieb verbunden waren).
Wie aber sollten diese Unternehmen
privatisiert werden ohne eigenes Kapital? Wenn ihre Privatisierung zugleich die Voraussetzung für den
Zugang zu Krediten und globalen Institutionen war?
In den 90er Jahren gab es zwei Antworten auf
diese Frage. Ungarn und Estland waren die einzigen Staaten, die beschlossen, ihre besten Unternehmen an
ausländisches Kapital zu verkaufen; Ungarn, um seine Schulden zu tilgen, Estland, um sich so schnell
wie möglich von der UdSSR zu lösen. In der großen Mehrzahl der anderen Staaten wurde die
„Massenprivatisierung” erfunden, ohne Zuschuss von Kapital.
Diese bestand darin, die Unternehmen
rechtlich in Aktiengesellschaften zu verwandeln. Die auszugebenden Aktien konnten auf verschiedenen Wegen
gestreut werden: Arbeitern wurden sie fast gratis überlassen, andere wurden versteigert, der Rest wurde
vom Staat erworben. Dieser konnte regelrecht Eigentümer werden, der seine Anteile weiter verkaufen
konnte, das Unternehmen damit wieder flott machen, es aber auch (nach Siechtum) auseinander nehmen konnte.
Eine Zeit lang hat die Aufrechterhaltung
eines (schlechteren) „Naturallohns” (Wohnung, Dienstleistungen) zusammen mit dem Besitz eines
kleinen Stücken Lands die soziale Explosion abgefedert. Insgesamt aber ist die Arbeitslosigkeit
deutlich gestiegen (in Polen zur Zeit seines EU-Beitritts um 20%), Armut und Ungleichheit haben in einem
Maße zugenommen, das die Weltbank als weltweit einzigartig bezeichnete — verglichen mit den
geringen Einkommensunterschieden im alten System.
Die Entscheidung für eine Osterweiterung traf die EU 1999, sie wollte damit der zunehmenden
Desillusionierung in der Bevölkerung entgegentreten (zu der noch die Auswirkungen des NATO-Kriegs auf
dem Balkan kam). Das Versprechen der Integration sollte die Stimmung befrieden und es der Bevölkerung
leichter machen, die bittere Pille des unpopulären sozialen Kahlschlags zu schlucken.
Keinesfalls stand eine Finanzierung der
„Wiedervereinigung des Kontinents” durch eine Aufstockung des EU-Haushalts zur Debatte —
im Gegensatz zu den Maßnahmen, die bei der Süderweiterung ... und bei der deutschen
Wiedervereinigung ergriffen worden waren. Die nötigen Finanzmittel sollten durch den freien
Kapitalverkehr in einer großen Freihandelszone bereitgestellt werden.
Die meisten Regierungen der
osteuropäischen Beitrittskandidaten — mit Ausnahme Sloweniens — betrachteten die
Privatisierung ihres Bankensystems (das vorher vollkommen verstaatlicht war) durch deren Verkauf an
westeuropäische Banken im Rahmen der Liberalisierung der Dienstleistungen (GATS) als einen
Glücksfall. Die westeuropäischen Banken wiederum sahen im EU-Beitritt der osteuropäischen
Länder eine Garantie für einträgliche Geschäfte. Ab 2001 kontrollierten sie das
Bankensystem der Beitrittsländer (ermutigt durch die EU-Kommission und die internationalen
Finanzinstitutionen) zu über 60% — mit Ausnahme Sloweniens (rund 35%).
Die Direktinvestitionen sind mit dem
Beitritt zur EU besonders im Finanzsektor gestiegen. Die lettischen und anderen baltischen Banken, werden
nun zu über 90% von nordischen Finanzinstituten kontrolliert.
Das einzige Land, das sich diesem Szenarien
immer noch entzieht (trotz des Drucks der EU-Kommission) ist Slowenien.
Ausländisch oder nicht, die
Privatbanken bleiben privilegierter Ort für rentablen Anlagen und streichen den direkten Gewinn aus der
freien Kapitalzirkulation ein. Sie haben vorwiegend öffentliche Anleihen aufgelegt, Konsumentenkredite,
die den großen multinationalen Konzernen den Marktzugang erleichtern, oder Immobilienkredite. Das war
die Grundlage für den Wachstumsschub, der jedoch zutiefst unausgeglichen war. Die multinationalen
Konzerne sind einerseits die größten Exporteure, andererseits (im Vertrieb, in der Autoindustrie,
in der Telefonsparte) bündeln sie in wachsendem Maße die Importe und repatriieren ihre Profite.
Das Wachstum basiert auf einem Höhenflug der Kredite und einer unausgeglichenen Handelsbilanz.
Der explosionsartige Charakter dieses
„Wachstums” wird verstärkt durch die Zunahme der Ungleichheit. Wie in den USA fröhnen
die Neureichen einem verrückten Konsum, besonders an Immobilien, aber auch die Bevölkerung
insgesamt wird ermutigt, auf Kredit zu leben.
Ein osteuropäischer
„Subprime"-Mechanismus hat die Verschuldung angekurbelt: (Vorwiegend österreichische) Banken
haben ihre Kreditfinanzierung in Schweizer Franken getätigt; dies wurde anfangs gerechtfertigt durch
die sehr niedrigen Zinsen und den niedrigen Kurs des Schweizer Franken gegenüber dem Euro. Fast 90% der
ungarischen Hypotheken werden seit 2006 in Schweizer Franken gehalten; schätzungsweise 45% des
ungarischen Immobilienmarkts und 40% aller Konsumentenkredite werden in Schweizer Franken statt in der
nationalen Währung Forint abgewickelt!
Aber die Zinsen auf den Schweizer Franken
sind in weniger als fünf Jahren aber um mehr als 3% gestiegen, was mitteleuropäischen Schuldnern
die Rückzahlung erschwert. Der ungarische Forint ist im Laufe weniger Wochen um nahezu 10%
gegenüber dem Schweizer Franken gefallen; im selben Umfang haben sich die Schulden der Ungarn
vergrößert, deren Einnahmen natürlich in Forint erfolgen.
Die Höhe der ausgegebenen Kredite ist
überall beträchtlich: Allein gegenüber den österreichischen und schwedischen Banken sind
Tschechien, Ungarn und die Slowakei mit 20% des Bruttoinlandsprodukts verschuldet, die baltischen Staaten
mit 90%. Der österreichische Finanzminister hat Anfang Februar hektische Maßnahmen ergriffen, um
einen Rettungsplan von 150 Milliarden Euro für die Länder des ehemaligen Ostblocks aufzustellen.
Die österreichischen Banken machen 35% ihres Profits in den Ländern Mitteleuropas und auf dem
Balkan; sie haben in dieser Region Kredite für 230 Milliarden Euro stehen — das entspricht 70%
des österreichischen Bruttoinlandsprodukts.
Fast die Gesamtheit der osteuropäischen
Kredite (1700 Milliarden Dollar) wird von westeuropäischen Banken gehalten (Österreich, Italien,
Frankreich, Belgien, Deutschland, Schweden konzentrieren 84% davon auf sich). Der Anteil an kurzfristigen
Schulden ist hoch: Diese Länder müssen allein 2009 den Gegenwert von 400 Milliarden Dollar
zurückzahlen bzw. refinanzieren — das entspricht einem Drittel des BIP der Region (und der
Anhebung der Zahlungen an den IWF, die die G20 gerade beschlossen haben).
Die Länder Mittel- und Osteuropas, die
der EU beigetreten sind, sind zugleich in der abhängigen Position und das Herzstück der
neoliberalen EU. Sie haben sich davon einigen Schutz und Solidarität versprochen, gerade im Angesicht
der Krise. Aber die EU hat sie gerade an den IWF verwiesen, wie die anderen Länder der Peripherie auch.
Die EU läuft Gefahr, dass dieser Bumerang in Form eines neuen Banken-Tsunamis zu ihr zurückkehrt,
dessen Epizentrum diesmal in ihrer Mitte sein wird.
(Übersetzung: Angela Huemer)
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