SoZ - Sozialistische Zeitung |
Vor 400 Jahren, im Jahre 1609, haben Galileo Galilei und andere Gelehrte
erstmals ein Teleskop für astronomische Beobachtungen eingesetzt. Johannes Kepler legte mit seinem Werk
Astronomia Nova die Grundlagen zum Verständnis der physikalischen Gesetzmäßigkeiten, denen
die Himmelskörper gehorchen. Am 25.September 1608 reiste Hans Lipperhey, ein junger Mann aus
Middelburg, nach Den Haag, um eine seiner Erfindungen, das Fernrohr, der holländischen Regierung
vorzuführen. Obwohl ihm das Patent nicht zuerkannt wurde, hörte Galileo Galilei von dieser
Geschichte und entschied sich dafür, das „holländische Perspektivglas” zu verwenden
und es zum Himmel zu richten.
Den Emscherschnellweg entlang ziehen sich
zwei Halbbögen, die jedem Besucher die Grundlagen der ältesten Wissenschaft der Welt, der
Astronomie, näher bringen.
Wer regelmäßig auf der A2 von Oberhausen nach Dortmund unterwegs ist, kennt schon immer bei
Herten die markanten Fördertürme der stillgelegten Zeche Ewald. Seit einiger Zeit kommen auf der
nahen Halde zwei auffallende Bögen in Sicht, die als Kontrast zur Industriearchitektur des Reviers
besonders ins Auge fallen. Sie ziehen von weit her den Blick an und verleiten zum Aufstieg, um dem neuesten
„Haldenereignis” des Ruhrgebiets womöglich auf den Grund zu kommen.
Der Kommunalverband, der die Halden des
Bergbaus übernimmt, wenn Schüttung und Sicherung abgeschlossen sind, hat seit Jahren auf den
Halden entlang des „Emscherschnellwegs”, der A42 zwischen Dortmund und Duisburg, Neues schaffen
lassen — Kunstwerke, Aussichtspunkte, Wallfahrtswege, eine Skihalle, ein Windrad, Mountainbikestrecken
und Wanderwege. Und nun also: Halbbögen, deren Gleichmaß und Kunstfertigkeit auf Anhieb mehr
vermuten lässt als ein „Nur-Kunstwerk”
Wer die mehreren hundert Stufen auf die 160
Meter hohe Halde geklettert ist oder den Serpentinenweg — womöglich mit einem guten Fahrrad
— gemeistert hat, und über eine völlig ebene Fläche in eine runde Vertiefung tritt,
steht mit Fernblick nach allen Seiten unter zwei riesigen Halbbögen. Die beiden an einer Stelle
zusammenhängenden Bögen stellen den weithin sichtbaren Teil eines Horizontobservatoriums dar, ein
modernes „Stonehenge”, das einen neuen Blick auf Sonne und Sterne ermöglicht und versucht,
lange Zeiträume etwas anschaulicher zu machen. Optisch „kreist die Sonne um die Erde”
— auf immer gleichen Bahnen seit „ewigen” Zeiten — und wird hier für den Blick
„eingefangen”
Dank der Ideen und Hartnäckigkeit der
Mitarbeiter der Sternwarte Recklinghausen und dank des Geldes vom Kommunalverband gibt es nun einen Ort, der
den langen Zeiträumen und Entfernungen, den fast unveränderlichen Bewegungen von Sonne und Sternen
gewidmet ist — eine „Landmarke”, wie es sie so noch nicht gegeben hat.
Mit „Ewigkeiten” kennt man sich
im Ruhrrevier aus. Die Kohle, die hier auf nur noch fünf Bergwerken gefördert wird, ist vor rund
300 Millionen Jahren entstanden. Und die Sandschichten, die damals die riesigen Urwälder bedeckten, aus
denen die Kohle entstand, wurden zu Gestein gepresst, das in großen Mengen mit der Kohle ans Tageslicht
kommt und aufgehaldet wird. Die Hinterlassenschaften der Kohleförderung sind — nachdem man sich
um den blauen Himmel an der Ruhr nicht mehr sorgen muss — nicht nur der Klimawandel durch
Kohlendioxid, sondern die Halden zwischen Ruhr, Emscher und Lippe. Auch diese Steine sind „ewig”
— so alt wie die Kohle — und erst in den letzten Jahren sichtbar geworden.
300 Millionen Jahre sind eine Ewigkeit
für das normale Menschenleben — fußt doch die bekanntere Menschengeschichte auf den letzten
20000 Jahren, die frühen Spuren werden auf 2 Millionen Jahre datiert. Das Sonnensystem und die Sterne,
für die das Observatorium auf der Halde entstanden ist, sind zwanzigmal älter als die Kohle.
Schon in frühen Zeiten war der regelmäßige Lauf der Sterne und Sternbilder wie auch der
wiederkehrende Sonnenlauf durch das Jahr das Maß der menschlichen Zeit. Die Tages- und Jahreszeiten,
Winter- und Sommerhalbjahre, Sonnenauf- und -untergangspunkte waren Gegenstand der ersten Berechnungen und
Zeitmesser, der ersten „Kulturtechniken” und astronomischen Forschungen.
Auf diesen für die frühere
Menschengeschichte wesentlichen Kenntnissen baut das neue Observatorium auf, und es lässt sie neu
fassbar werden. Wer navigiert noch nach Sternenhimmel, wer sät noch nach Sonnenphasen, wen
interessieren Sternbilder und dauerhafte (nach menschlichem Lebensmaß: „ewige")
Orientierungspunkte? Am Himmel über der Ruhr ist tagsüber der Staub feiner und damit fast
unsichtbar — dafür ist er in der Nacht für die Beobachtung umso unzugänglicher: Die
„Lichtverschmutzung” nimmt zu und macht den Astronomen der Sternwarte die Arbeit schwer. Daher
die Idee, in großem Maßstab eine Einrichtung zu schaffen, die den beobachtenden Menschen
ermöglicht und erfordert, ihm (erneut) Wissen und kulturelle Leistungen der Vorfahren zugänglich
macht.
So ist diese Idee verwirklicht worden: Der
eine Halbbogen steht genau in Nord-Süd-Richtung und ist damit ein Modell oder Teilausschnitt des
Längengrades, er teilt den sichtbaren Himmel in eine West- und Osthälfte. Hinter diesem Bogen
verschwindet die Sonne jeden Tag genau um 12 Uhr wahrer Ortszeit. Mit der Nordhälfte des Bogens wird
nachts der Polarstern verdeckt — er ist mit einem Symbol am Rohr gekennzeichnet — um den sich
der Sternhimmel scheinbar dreht. Der andere Halbbogen verläuft genau parallel zum Erdäquator, und
diese beiden Halbkreisförmigen Rohrbogen sind damit ein „Modell” der gedachten Erde, auf
der die Beobachtungen stattfinden.
Beobachtungen sind von einem kleinen Podest
genau in der Mitte des Platzes unter dem „Zenit” des Nord-Süd-Bogens möglich. Von hier
aus verschwindet die Sonne mittags hinter dem Südbogen. Von hier aus sieht man nachts den Polarstern
nicht (nur sein Symbol auf dem Bogen). Von hier aus blickt man über den Plateauhorizont der Halde genau
geradeaus „ins Unendliche” Von hier aus sieht man Sonnenauf- und -untergangspunkte im
Jahresverlauf.
Mit Markierungsblenden hervorgehoben sind
diejenigen Stellen, an denen die Sonne zu den Sonnenwenden im Juni und Dezember, den Tag- und Nachtgleichen
im März und September sowie an den zeitlich dazwischen liegenden Tagen auf- bzw. untergeht. Der
Äquatorbogen verdeckt den Sonnenstand bei Frühlings- und Herbstanfang den ganzen Tag: sie
verläuft für den Beobachter in der Mitte genau „dahinter” Aber um die Mittagszeit,
wenn sie genau im Süden steht, scheint sie durch die Verbindungsstelle der beiden Bögen, die als
offenes Rohr ein „Sonnenloch” ergibt.
Weitere Marken mit Erklärungstafeln
machen auf bestimmte Sternereignisse aufmerksam, eine Einrichtung erläutert die bekannte Taumelbewegung
der Erde im Raum (Präzession), wie bei einem Kreisel, dessen Achse nicht senkrecht stehenbleibt. Um das
anschaulich zu machen, hat man ein Guckloch geschaffen, in dem mehrere Zinken den Verlauf der Arkturbahn
verdecken. In 10, 20 und 30 Jahren werden immer einer weniger dieser Zinken verdeckt — und in mehreren
hundert Jahren wird der Polarstern nicht mehr von dem Nordbogen verdeckt sein.
Ein weiteres Element der Erfahrungen
über die Erde, die gewusst, aber nicht bewusst wahrgenommen werden: Auf dem Plateau macht ein
Beobachtungskanal die Erdkrümmung sichtbar, denn nur durch die Vertiefung kann man den Gasometer in
Oberhausen sehen, dessen Dach genau die gleiche Höhe wie die Halde hat.
Die Halde ist schon Standort einer großen Sonnenuhr, eines Obelisken auf einem gepflasterten Platz,
auf dem die Tages- und Monatsangaben des Sonnenschattens eingraviert sind. Wanderwege, Fahrradwege, Routen
der Industriekultur führen vorbei oder darüber. Seit Baubeginn pilgern Tausende Menschen auf die
Halde. Weitere Erklärungstafeln sind nötig, geplant ist eine Informationshalle.
Vor zehn Jahren, als die Idee des
Observatoriums entstand, gab es in Recklinghausen und Herten noch fördernde Schachtanlagen, die die
Halde bedienten, und bei den dort arbeitenden Bergleuten hätte wohl keiner gedacht, dass auf den
Bergehalden, die früher mit Staub und grauem Stein die Sonne für die Anwohner verdeckten, so etwas
entstehen könnte.
Mitten zwischen Müllverbrennungsanlage,
Steinkohlekraftwerk und ehemaligen Zechen, über die der Mensch auf der Halde hinweg bis Dortmund,
Oberhausen und zu den Ruhrbergen schaut, steht eine einmalige Anlage, die mit der Messlatte der bisherigen
„Kulturförderung”, „Ersatzindustrieansiedlung”,
„Tourismusankurbelung” nicht zu erfassen ist. Das Observatorium ragt nicht nur optisch aus dem
Ruhrgebiet heraus — es ragt auch aus den sonstigen Haldengipfelbauten heraus als anderes Element der
Verschönerung der Region. Es birgt (hinter dem Rücken der Kulturhauptstadt-Vorbereitungen) die
Möglichkeit, menschliches Maß an dem langer Zeiträume und großer Entfernungen zu
erkennen, Erkenntnisse und Möglichkeiten wiederzuentdecken, die fast nur noch Spezialisten vorbehalten
waren.
Der Aufstieg lohnt sich!
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |