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Das „offizielle Deutschland” hat in jüngster Zeit eine starke
Neigung, sich selbst zu feiern, in mancherlei Events herauszustellen, wie wohlgelungen doch dieses
Gemeinwesen dasteht. So wurde auch die sechzigjährige Existenz des Grundgesetzes zur Festivität,
zur Gelegenheit für politische Selbstbestätigung. Warum gerade der 60.Geburtstag der Verfassung so
heftig gefeiert wird, ist auf den ersten Blick nicht erklärbar — hätte man nicht, altem
Brauch folgend, auf den fünfundsiebzigsten warten können?
Dem zweiten Blick eröffnet sich ein
Hintergrund für die Jahreswahl: Wer weiß schon, mögen die Festveranstalter gedacht haben,
welchen Belastungen diese Republik in den nächsten fünfzehn Jahren ausgesetzt sein wird —
und was dann von den vielversprechenden Grundsätzen des guten alten Verfassungswerkes noch übrig
bleibt? Besser, man terminiert die Feier so, dass der Jubilar noch einigermaßen adrett ausschaut...
Bei Jubiläen kommt üblicherweise
Fragwürdiges nicht zur Sprache. So ging es ganz überwiegend auch beim Sechzigsten des
Grundgesetzes zu. Deutschland, so der Tenor, hat seit 1949 eine überzeugende, nie beschädigte und
gut funktionierende Verfassung, die — wie Bundesinnenminister Schäuble jetzt formulierte —
„dem gesellschaftlichen Zusammenhalt einen verlässlichen Rahmen gibt” So darf sich auch der
drangsalisierteste Hartz-IV-Bezieher trösten: Im Grundgesetz steht, gleich als erster Satz: „Die
Würde des Menschen ist unantastbar.” Noch viele andere Annehmlichkeiten sind in der Verfassung zu
finden, auch diese: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus."
Die „Väter” und (wenigen) „Mütter” des Grundgesetzes hatten
offensichtlich Schwierigkeiten damit, Sollen und Sein zu unterscheiden, sprachlich jedenfalls. Erkennbar
wird damit ein Kernproblem solcher Verfassungsdokumente: Es werden Normen gesetzt, die nicht ohne weiteres
gesellschaftliche Realität bedeuten. Außerdem sind diese, gerade wenn sie grundsätzlich sein
wollen, interpretationsbedürftig. Dafür haben wir, ist dann zu hören, das
Bundesverfassungsgericht.
Aber die Richter dort sind keine
Außerirdischen, sie sind einbezogen in die Konflikte gesellschaftlicher Interessen und Ideen.
„Neutral” sind sie nicht. Und vor allem: Das Verfassungsgericht reagiert, keineswegs ergreifen
die Verfassungsrichter selbst die Initiative, um zum Beispiel dem Satz, die Würde des Menschen sei
unantastbar, zu einem Stück mehr Verfassungswirklichkeit zu verhelfen. Sie nehmen also dem Volk, von
dem ja alle Gewalt ausgehen soll, nicht die Mühe des politischen Engagements ab. Sie greifen auch nicht
die im Grundgesetz verschwiegene, demokratisch nicht legitimierte Gewalt an, die sich bei den
wirtschaftlichen Machteliten und ihren Hilfstruppen immer mehr angesammelt hat.
"Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch
besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.” So
steht es im Grundgesetz.
Wahlen — in zunehmendem Ausmaß
setzt ein Teil des Volkes in die Wirksamkeit seines Wahlrechtes kein Vertrauen mehr, selbst unter den
aktiven Wählerinnen und Wählern ist der Glaube an die gestaltende Kraft ihrer Stimmabgabe nicht
sehr verbreitet. „Die da oben machen doch, was sie wollen”, — lautet eine gängige
Volksweisheit. Wer sind „die da oben"? So richtig weiß man das im Volke nicht, aber weithin
bewusst ist: Da handelt es sich nicht nur um die gewählten Spitzenvertreter in der Politik, da sind
andere mit im Machtspiel.
Abstimmungen — das Grundgesetz nennt
sie gleichrangig neben Wahlen. Aber für die gesellschaftspolitischen Weichenstellungen in der
Bundesrepublik sind sie gar nicht existent. Nicht einmal der Entwurf für eine Verfassung der
Europäischen Union, mit der in der Praxis die Geltung des Grundgesetzes massiv reduziert wird, wurde
dem Volk zur Abstimmung gestellt.
Das Grundgesetz enthält eine Reihe von
Grundrechten, unter anderem das auf Gleichberechtigung, auf freie Meinungsäußerung und
Pressefreiheit, auf Versammlungsfreiheit, auf das Brief-, Post und Fernmeldegeheimnis —
Errungenschaften eines langen geschichtlichen Kampfes demokratischer Bewegungen. Diese Grundrechte, so will
es die Verfassung, dürfen „in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden”
Aber seit langem sind regierende Politiker,
nur zu häufig mit Unterstützung parlamentarischer Mehrheiten, damit beschäftigt, diese
Grundrechte einzuschränken.
Zu den Grundrechten gehört auch eines, das die Inhaber privater Wirtschaftsmacht gern als nicht
vorhanden behandeln und Profipolitikern eher peinlich ist: In Artikel 15 GG heißt es, dass „Grund
und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel ... in Gemeineigentum oder in andere Formen der
Gemeinwirtschaft überführt werden können”
Die Formulierung war 1949 ein Kompromiss,
ein Zugeständnis an die viel weitergehenden Forderungen nach Sozialisierung, die in den Jahren nach
1945 auch in den Westzonen Deutschlands ihre Mehrheit im Volke hatten. Ein Erinnerungsposten daran ist der
Artikel 27 in der (1950!) beschlossenen Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen, der solche
Vergesellschaftungen nicht als „Kann"-, sondern als „Sollvorschrift” enthält.
Immerhin — entgegen weit verbreiteter Legende legt auch das Grundgesetz die kapitalistische
Ökonomie nicht als allein verfassungsmäßige Wirtschaftsform fest. Verfassungsnormativ ist der
Weg zum Gemeineigentum offen gehalten, und gemeint ist im Grundgesetz damit keineswegs jene Sozialisierung
von Verlusten, wie sie jetzt der Staat mit seinen „Rettungsschirmen” für private Banken und
Unternehmen betreibt.
Man darf gespannt sein, wann Reformpolitiker
zum systematischen Angriff auf den Artikel 15 des Grundgesetzes übergehen, um ihn
„zeitgemäß” neu zu fassen; erste Vorstöße in diese Richtung gab es schon.
Bei den Jubiläumsfeiern und Medienbeiträgen zum „Sechzigsten” ist ein
hochinteressantes Thema durchweg vernachlässigt worden: Der andauernde Prozess der
„Modernisierung” des Grundgesetzes, angetrieben von der „normativen Kraft des
Faktischen” Der Substanz der Verfassung ist das zumeist schlecht bekommen, so in Sachen
Militärpolitik, Notstandsgesetzgebung und „Kampf gegen den Terrorismus”
Besonders drastisch waren die Umdeutungen im
Zuge der „Enttabuisierung des Militärischen": Zwar sind laut Artikel 26 GG „Handlungen,
die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu
stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten” immer noch
„verfassungswidrig” und „unter Strafe zu stellen” Aber der Begriff
„Verteidigung” wurde inzwischen so umgedeutet, dass er der Rechtfertigung von kriegerischen
Aggressionen zu Diensten steht — die Bundesrepublik wird bekanntlich am Hindukusch und gegebenenfalls
sonst irgendwo in der weiten Welt „verteidigt”
Antimilitaristen und überhaupt
Demokraten haben also keinen Grund, über die sechzigjährige Geschichte zu jubeln. Dennoch —
die Verfassung ist nicht etwa ein Stück Papier, das soziale und politische Bewegungen als wertlos
betrachten und beiseite legen könnten. Verfassungsnormen sind nicht die Erzeuger gesellschaftlicher
Kräfteverhältnisse, sondern von diesen geprägt, aber gesellschaftliche Konflikte spielen sich
auch ab als Auseinandersetzung um Verfassungspositionen. Deshalb empfiehlt sich Aufmerksamkeit —
für die Geschichte des Grundgesetzes und für die Frage, was aus dieser Verfassung wird. Ein
für allemal entschieden ist das nicht.
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