SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2009, Seite 13

Thesen zum bGE

Außen Hui und innen Pfui

Was ist der Stoff, der die Gesellschaft im Innersten zusammenhält?

von Wolfgang Ratzel

Jede Gesellschaft wird erst möglich durch eine Praxis des Gebens — Nehmens — Erwiderns: Ich gebe der Gesellschaft meine Lebens- und Arbeitskraft — die Gesellschaft nimmt sie an und gibt mir Erziehung, Bildung, Lebensmittel, Einkommen, vor allem aber eine Stelle! Denn die Einzelnen können der Gesellschaft nur zugehören, wenn auf sie dort eine Stelle wartet; wenn sie wissen, dass für sie „ein Platz am Lagerfeuer und am Herd” reserviert ist. Gesellschaft wird möglich durch eine Struktur der Herausforderung, Anerkennung und gegenseitigen Verpflichtung: Man muss wissen, woraufhin man erzieht und ausbildet; dass es sinnvoll ist, zu lernen und zu arbeiten; dass man bekommt, wenn man gibt, und dass man gibt, wenn man bekommt.
Gretchen hätte das bedingungslose Grundeinkommen (bGE) so gefragt:
Gretchen: „Nun sag, wie hast du‘s mit dem Geben-und-Nehmen? Nun sag, wie hast du‘s mit Arbeit und Stelle? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon."
bGE: „Lass das, mein Kind! — Ich bin ein Einkommen, das von einem politischen Gemeinwesen an alle seine Mitglieder ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Gegenleistung individuell ausgezahlt wird — du fühlst, ich bin dir gut."

Warum ohne Gegenleistung?

Man behauptet, uns würde „die Arbeit ausgehen” Die Diagnose lautet: Wir leben in einer „Drittel-Arbeitsgesellschaft” — „Arbeit wird zur Ausnahme” Weil dem so ist, muss die eherne Koppelung des Lohns an Arbeit gelöst werden.
Der Weg von der Entkoppelung zur Verachtung der Arbeit ist kurz: „Der Sündenfall hat uns zur Arbeit verdammt.” Aber dank Rationalisierung und Automatisierung „haben wir nun endlich den Hintereingang zum Paradies gefunden” Auf Pro-bGE-Demos klingt das so: „Mein Freund ist Roboter” — „Arbeit bäh” — „Für den totalen Sonntag!” — „Auch du könntest arbeitslos sein” — „Abwrackprämie für Arbeitsplätze” Wer aber die Arbeit verachtet, verachtet — hinter vorgehaltener Hand — bald auch die Arbeitenden: „Arbeiter? — Die sind doch alle arbeitskrank."

Von wegen „Arbeit geht aus”!


Mehrwertproduktion entspringt immer aus zwei Springquellen: Bevor der Kapitalist eine Arbeitskraft ausbeuten kann, muss er sich eine „fertige” Arbeitskraft aneignen, und zwar entgeltfrei. Wieviel unbezahlte Arbeit steckt in einem Heranwachsenden, bis er seine Arbeitskraft dem Kapitalisten anbieten kann? Ginge es „gerecht” zu, müsste der Kapitalist für jede Arbeitskraft eine Ablösesumme an die Eltern und den Staat bezahlen, und die wäre immens: Eine ältere Untersuchung kommt zum Ergebnis, dass in unseren 36 Millionen privaten Haushalten allein 77 Mrd. unbezahlte Stunden Hauswirtschaftsarbeit geleistet wird. Gesamtwert: 327 Mrd. Euro. Dem stehen 47 Mrd. Stunden Lohnarbeit gegenüber. — Soweit zur Haushaltsarbeit.
Sicherlich: Die tariflich- und gesetzlich geschützte Lohnarbeit geht zurück; sie wurde im Konkurrenzdruck der Standorte schlicht zu teuer. Die ungeschützte Niedriglohnarbeit nimmt jedoch zu, und sprunghaft nimmt die Arbeit zu, die liegen bleibt, weil sie niemand in Auftrag gibt und niemand an ihr verdienen kann: Arbeit in den notleidenden Bereichen Erziehung, Bildung und Ausbildung, Gesundheitsversorgung und Pflege. Arbeit im weiten Bereich der verwahrlosenden materiellen Infrastruktur: Renovierung und Instandhaltung einstürzender Neu- und Altbauten, Kirchen, maroder Brücken, Verkehrswege, Leitungs- und Abwassersysteme; dazu Kultur- und Denkmalpflege, Museen; liegen bleiben innovative Projekte; vor allem aber Umweltarbeiten wie Renaturierungsprojekte, Tierreservate, Biotopschutz, Baum- und Waldschutz, Feuerwacht, Hochwasserschutz usw.usf.
Summa summarum: Es gibt Arbeit im Überfluss — aber keine regulär bezahlten Stellen!
Die Systemträger quälen andere Probleme: Wir produzieren Kapital! — was geht uns das allgemeine Wohl an? Weg mit Unternehmensteuern und Sozialabgaben. Die Last sozialer Verantwortung sollen andere tragen — oder niemand! So wie immer schon in den Ländern der Peripherie. Aber halt! Man kann die Entlassenen und „Überflüssigen” — wie immer schon in der Peripherie — nicht einfach verhungern lassen! Noch gibt es zu starke Gewerkschaften, zu viel verinnerlichte Kultur des Sozialen, zuviel christliche Nächstenliebe — noch.

Also muss eine Zwischenlösung her, und dafür taugt das bGE!

Denn es befreit Kapital und Staat von jeglicher Verantwortung für die Altersvorsorge und die soziale Integration. Weg mit der Sozialstaatsverwaltung und Trägerlandschaft! Alles Soziale soll Markt werden! Alles soll kosten! Gut — zum Einstieg kostenneutrale 600 Euro netto für alles; das zwingt zum Zuverdienst (später kann man dann ja kürzen!). Dazu vielleicht noch etwas Grundversorgung im Krankheitsfall, alles in allem unter Hartz-IV-Niveau; auf jeden Fall aber Rundfunkgebührenbefreiung, kostenloser Zugang zum Internet und zur Spaßgesellschaft — das reicht. Früher hieß das „Brot und Spiele” — heute „tittytainment”

Unterm Strich

Die bGE-Idee eignet sich als Modell hervorragend zur kostengünstigen Aufbewahrung des für überflüssig erklärten Teils der Bevölkerung. Und deshalb ist die bGE-Perspektive nicht einfach nur falsch, sondern lebensgefährlich für alle, die wegrationalisiert werden oder bereits sind. Wollen wir online im Abseits verdämmern? Und was, wenn wir alt und ernsthaft krank werden? Mit 600 Euro ins Armenpflegeheim vierter Klasse?
Die Alternative lautet: Bedarfsgerechte Grundsicherung und eine gesetzliche Arbeits- und Stellengarantie für alle, die arbeiten wollen. Aber das ist eine andere Geschichte.


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