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Die Bundestagsfraktion der LINKEN hat sich am 5.Mai auf ein aktuelles
Positionspapier zu Nahost verständigt; es wurde bei einer Enthaltung (Ulla Jelpke) angenommen.
Das Positionspapier ist zunächst einmal
ein Fortschritt angesichts der starken Zweideutigkeiten, wenn nicht offenen Parteinahme für die
israelische Seite seitens wichtiger Funktions- und Mandatsträger der Partei. Vor allem deshalb, weil es
detaillierte und aktualisierte Forderungen aufstellt: Es benennt die völkerrechtswidrige Besatzung
palästinensischer Gebiete, ihre inhumanen Folgen und ihre Deckung durch die Bundesrepublik, andere
europäische Staaten, die USA und die UNO; es stellt Forderungen an die israelische Seite —
sofortiger Stopp des Siedlungsbaus, der Landkonfiskation, des Mauerbaus und der Angriffe, Freilassung der
politischen Gefangenen, Regelung der Flüchtlingsfrage usw.; es fordert die Einbeziehung der Hamas in
politische Gespräche und die Aufhebung ihres Boykotts sowie eine internationale Untersuchung des
Gazakriegs.
Zu begrüßen ist auch der
Forderungskatalog an die deutsche Bundesregierung unter der Maxime Abkehr von ihrer gescheiterten Politik im
Nahostkonflikt: Parteinahme für das Völkerrecht, Stopp der Waffenlieferungen an Israel und andere
Staaten der Region, Akzeptanz jeder Palästinenserregierung, Aufhebung der Blockade des Gazastreifens
usw.
Das Papier orientiert auf eine
Zweistaatenlösung als „endgültige, gerechte und dauerhafte Lösung” Die
Zweistaatigkeit wird zwar von Teilen der palästinensischen Politik — zumindest als Zwischenetappe
— schon länger gefordert und findet praktische, noch häufiger allerdings nur verbale
Unterstützung in der internationalen Politik.
Diese Forderung ist allerdings immer
problematischer geworden, in dem Maße, wie Israel v.a. die Besetzung des Westjordanlands und der Golan-
Höhen in eine fortschreitende Annexion ausgeweitet hat. Heute eine Zweistaatenlösung zu
realisieren, würde auf ein 80:20-Verhältnis hinauslaufen — 80% des alten Palästina
für Israel und nur noch 20% für die Palästinenser.
Etliche palästinensische und
israelische Analytiker gehen davon aus, dass die Zweistaatenlösung praktisch kaum mehr realisierbar
ist, weil sie mit umfassenden Umsiedlungen (allein im Westjordanland haben sich 350000 israelische Siedler
niedergelassen) verbunden wäre, was bürgerkriegsähnliche Verhältnisse herauf
beschwören würde. Sie argumentieren weiter, dass heute eher schon eine Einstaatensituation
herrsche, und zwar auf der Grundlage von faktischer und juristischer Apartheid zwischen Israelis und
Palästinensern. Aufgrund dessen müsste die Forderung nach einem gemeinsamen, laizistischen Staat
erhoben werden, der allen in Israel und Palästina Lebenden verfassungsmäßige Garantien gibt.
Politisch falsch und regelrecht gefährlich sind allerdings etliche Passagen, die aus der
Eingangsmaxime des Papiers folgen: „Wir sehen uns in einer Doppelverantwortung und sind mit den
Menschen in Israel und Palästina solidarisch. Eine einseitige Parteinahme in diesem Konflikt wird nicht
zu seiner Lösung beitragen."
Ohne Zweifel gibt es eine besondere
Verantwortung für die LINKE und die deutsche Linke im allgemeinen angesichts der Naziverbrechen an den
europäischen Juden. Aber diese Verantwortung kann sich — was Israel betrifft — nur auf eine
großzügige Wiedergutmachung für die Überlebenden, auf systematische Erinnerungsarbeit,
konsequente Strafverfolgung der Mörder, Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus, auf kulturellen,
wissenschaftlichen Austausch und sinnvolle Wirtschaftsbeziehungen erstrecken.
Dagegen muss jeder Versuch, den Holocaust zu
instrumentalisieren, um Völkerrecht und Menschenrechte zu missachten, den Expansionskurs der bisherigen
israelischen Regierungen zu dulden oder zu unterstützen und Kritiker mundtot zu machen, auf die klare
Ablehnung der Linken stoßen. Das folgt nicht nur aus wesentlichen programmatischen Grundlagen linker
Politik allgemein (Menschenrechte, Selbstbestimmungsrecht der Völker usw.).
Jeder Opportunismus gegenüber massivem
Unrecht und seine offene oder faktische Unterstützung wäre auch eine Missachtung der Lehren aus
der Shoah und eine Verhöhnung ihrer Opfer.
Aber genau damit ist die Linke konfrontiert.
Es haben Formulierungen in das Positionspapier Eingang gefunden, die Opfer und Täter auf eine Stufe
stellen. Die Geschichte des Nahostkonflikts erweist eine solche Position aber als historisch und
völkerrechtlich daneben. Bezeichnenderweise fehlen in dem Papier klare Aussagen zur Geschichte des
Nahostkonflikts. Es ist eine Geschichte der Durchsetzung eines kolonialen Siedlerstaats auf Kosten der
Palästinenser.
Parteien und herausragende Vertreter der
israelischen Seite haben immer wieder das Ziel formuliert, ganz Palästina zu erobern und in einen in
seiner demografischen Zusammensetzung zumindest zu 80% jüdischen Staat zu verwandeln.
Offensichtlich sind solche Formulierungen auf das Bemühen eines erheblichen Teils der
Parteiführung (Gregor Gysi u.a.) und namhafter Mandatsträger (Petra Pau u.a.)
zurückzuführen, in der Nahostfrage Kontroversen mit den Dogmen der deutschen Außenpolitik zu
vermeiden bzw. die Partei sogar schrittweise darauf einzuschwören (vgl. Gysis Rede zum 60.Jahrestag
Israels).
Der hier völlig untaugliche Begriff
„Menschen” verunklart, dass es sich um machtpolitische Auseinandersetzungen handelt, in denen
der israelische Staat mit seiner territorialen Expansions-, ethnischen Säuberungs- und gezielten
Einwanderungspolitik gegenüber den Palästinensern der Aggressor ist. Die eindeutige Täter-
Opfer-Konstellation in dem nun über 60 Jahre andauernden Konflikt, der mit der Errichtung des
kolonialen Siedlerstaats Israel auf jahrhundertealtem Palästinensergebiet begann und zu neun Kriegen
führte, die die israelische Seite mit überlegener Bewaffnung bisher alle für sich entschied,
wird damit verwischt. Ebenfalls nicht klar benannt wird die maßgebliche Verantwortung der israelischen
Seite dafür, dass alle Schritte zu einer Friedenslösung unter Beteiligung der UN oder der
Großmächte gescheitert sind.
Warum hier — ganz im Sinne des
Völkerrechts — eine „einseitige Parteinahme” ausscheidet, ist logisch nicht
begründbar und bleibt ein Rätsel. Denn im Papier heißt es: „Für uns ist der
Maßstab das internationale Völker- und Menschenrecht, das für alle Staaten und
Konfliktparteien zu gelten hat.” Doch sogleich folgt eine Einschränkung, die dazu im Widerspruch
steht: „Jegliche Gewaltanwendung der beteiligten Parteien wird von uns verurteilt."
Nun brauchen wir nicht darüber
streiten, dass die früheren Selbstmordanschläge der Hamas oder der militärisch ohnehin
vollkommen wirkungslose, mit dem Völkerrecht unvereinbare, weil wahllose und auf Zivilisten gerichtete
Raketenbeschuss israelischer Grenzregionen durch Gruppen wie den islamischen Jihad abzulehnen sind. Der
israelischen Regierungspropaganda, den Hardlinern in der Armee und ihren internationalen Lobbyisten kam der
Raketenbeschuss übrigens immer gelegen.
Das Völkerrecht erkennt indessen das
Recht des bewaffneten Widerstands für Völker an, die unter Besatzung stehen, wenn er sich gegen
eine völkerrechtswidrige Besetzungspraxis richtet. Der Widerstand gegen die Besatzer hat sich dann
allerdings auch an die Regeln der Völkerrechts zu halten. Gregor Gysi selbst hat noch Mitte 2008 in
einem Interview über die Kurdenfrage die Ansicht vertreten: „Wer es in einer Demokratie nicht
schafft, Mehrheiten zu organisieren, hat kein Recht zum gewaltsamen Widerstand. Wer aber diktatorisch
unterdrückt wird, hat notfalls das Recht, sich auch bewaffnet zu wehren."
Es bleibt zu hoffen, dass sich in der LINKEN
in der anstehenden Programmdiskussion Mehrheiten für konsequent linke Positionen entwickeln. Auch in
der Nahostfrage.
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