SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2009, Seite 17

Sri Lanka:

Ferne Stimmen, verzweifeltes Leben

John Pilger über den brutalen Krieg gegen die Tamilen

In den frühen 60er Jahren waren es Iren aus Derry, die spät in der Nacht anriefen und mit atemloser Stimme Geschichten von Diskriminierung und Ungerechtigkeit erzählten. Wer hat ihnen zugehört, bevor die Gewalt losbrach? Bengalis aus dem damaligen Ostpakistan taten dasselbe. Sie beschrieben schreckliche staatliche Verbrechen, die die Medien ignorierten und beschworen uns Reporter, die Welt darüber zu unterrichten. Doch für mich waren die Tamilen Sri Lankas die hartnäckigsten der fernen Stimmen, auf die wir schon vor langer Zeit hätten hören sollen.
Erst jetzt, wo die Verfolgung ihrer Landsleute einen Höhepunkt erreicht, hören wir zu, aber nicht genug, um zu begreifen und zu handeln. Die Regierung Sri Lankas hat, wie ich vermute, eine alte Lektion von einem modernen Lehrer — Israel — gelernt: Um ein Massaker zu begehen, stellt die Regierung sicher, dass Ausländer und ihre Kameras aus tamilischen Städten verbannt werden — so in Mullivaaykaal, das kürzlich von der Armee bombardiert wurde. Man verbreitet die Lüge, die 75 Menschen, die in einem Krankenhaus getötet wurden, seien absichtlich von einem tamilischen Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt worden. Man besorgt Reportern einen Ausflug in den Dschungel — im Nachrichtengeschäft nennt man das ein dateline — was einen Augenzeugenbericht suggeriert, und ermutigt die Leichtgläubigen, nur die eigene Version zu verbreiten. Gaza ist das Modell.
In derselben Schule hat man gelernt, Terrorismus als „universale Bedrohung” zu definieren, um sich bei der „internationalen Gemeinschaft” (in Washington) als nobler souveräner Staat einzuschmeicheln, den eine „Rebellion” verrückter Fanatiker zerstören will. Die Wahrheit und die Lehren aus der Vergangenheit sind irrelevant. Nachdem man die USA und Großbritannien davon überzeugt hat, die Aufständischen als Terroristen zu ächten, behauptet man, man steht auf der richtigen Seite der Geschichte, trotzdem die eigene Regierung hinsichtlich der Menschenrechte eine der weltweit schlechtesten Bilanzen aufweist und Terrorismus unter anderem Namen praktiziert. Dies alles gilt für Sri Lanka.
Das soll nicht heißen, dass diejenigen, die sich gegen den Versuch wehren, sie kulturell, wenn nicht gar real auszulöschen, in der Wahl ihrer Methoden unschuldig sind. Die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) haben ihren Anteil am Blutvergießen und sie haben eigene Scheußlichkeiten begangen. Aber sie sind das Produkt, nicht die Ursache, von Ungerechtigkeit und Krieg, die ihnen lange vorausgingen.
Zudem ist Sri Lankas interner Konflikt nicht so unverständlich, wie er oft dargestellt wird: als alte, religiös-ethnische Rivalität zwischen hinduistischen Tamilen und buddhistischen Singhalesen, die beide seit Jahrtausenden auf der Insel leben.
Die britische Kolonie Ceylon wurde einer klassischen Politik des „Teile und herrsche” unterworfen. Die Briten brachten Tamilen aus Indien als Sklavenarbeiter ins Land, während sie eine gebildete tamilische Mittelschicht aufbauten, die die Kolonie verwalten sollte. Als das Land 1948 als Sri Lanka unabhängig wurde, kultivierte die neu an die Macht gekommene politische Elite die ethnische Unterstützung, statt sich auf die Ausrottung der Armut zu konzentrieren. Die Sprache wurde zum auslösenden Faktor. Die Entscheidung der Regierung, das Englische, die lingua franca, durch das Singhalesische (die Sprache der ethnischen Mehrheit Sri Lankas) zu ersetzen, war eine Kriegserklärung an die Tamilen, die bis 1970 nahezu aus dem öffentlichen Dienst verschwanden. Und als Teile der singhalesischen Linken wie der Rechten auf eine „nationalistische” Linie einschwenkten, folgten Diskriminierung und antitamilische Unruhen.
Der tamilische Widerstand, vor allem die LTTE, forderte nun einen eigenen Staat im Norden des Landes. Die Regierung antwortete mit Exekution, Folter, dem Verschwindenlassen von Menschen und in jüngster Zeit mit dem Einsatz von Clusterbomben und chemischen Waffen. Die LTTE konterte mit Selbstmordanschlägen und Entführungen. Im Jahr 2002 wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der bis zum vergangenen Jahr anhielt, als die Regierung beschloss, die LTTE zu erledigen.
Tamilische Zivilisten wurden gedrängt, in vom Militär verwaltete „Wohlfahrtslager” zu flüchten: Sie wurden zum Symbol dafür, dass ein ganzes Volk in Haft genommen wird und dem Zorn der Armee nicht entgehen kann. Das ist erneut Gaza, die historische Parallele ist jedoch die Behandlung der Frauen und Kinder der Buren in Südafrika durch die Briten vor mehr als einem Jahrhundert; jene „starben wie die Fliegen”, wie ein Zeitzeuge schrieb.
Ausländischen Hilfskräften verwehrte man den Zutritt zu den Lagern — mit Ausnahme des Internationalen Roten Kreuzes, das von einer vor unseren Augen ablaufenden Katastrophe spricht. Die Regierung gibt vor, dass sie ihren „Sieg” dazu verwenden wird, das „tamilische Minderheitenproblem” „dauerhaft zu lösen”, womit viele ihrer rabiateren Vertreter drohen. Der Oberbefehlshaber der Armee sagt, ganz Sri Lanka „gehöre” der singhalesischen Mehrheit. Von Tamilen im Exil wird der Begriff „Genozid” verwandt — vielleicht ungenau; aber die Furcht ist real.
Indien könnte eine entscheidende Rolle spielen. Der südindische Bundesstaat Tamil Nadu hat eine Tamilisch sprechende Bevölkerung mit jahrhundertealten Verbindungen zu den Tamilen Sri Lankas. Im jüngsten indischen Wahlkampf demonstrierten Hunderttausende gegen die Belagerung der Tamilen. Anfänglich hatte Indien geholfen, die LTTE zu bewaffnen, später sandten sie „Friedenstruppen” zu ihrer Entwaffnung. Delhi scheint nun den Singhalesen in Colombo zu erlauben, die Lage zu „stabilisieren” Mit einer verantwortlichen Rolle in der Region könnte Indien das Morden stoppen und damit beginnen, eine Lösung auszuhandeln.
Die Moralwächter in London und Washington bieten nichts als schweigende Zustimmung zur Gewalt und Tragödie. Der britische Außenminister David Miliband hat zu einem „Waffenstillstand” aufgerufen. Das tut er für gewöhnlich dort, wo britische „Interessen” bedient werden (in 14 von bewaffneten Konflikten zerrissenen Ländern liefert die britische Regierung Waffen). Die britischen Waffenexporte nach Sri Lanka waren 2005 um 60% gestiegen.
Die fernen Stimmen von dort sollten dringend erhört werden.

John Pilger ist ein in Australien geborener Journalist, Autor und Dokumentarfilmer. Der Beitrag erschien ursprünglich im New Statesman (Übersetzung: Hans- Günter Mull).


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