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Der G20-Gipfel war ein Rohrkrepierer auch für die Länder des
Südens.
Der G20-Gipfel in London war eine große
Show. Dahinter verbargen die globalen Eliten ihre tiefe Sorge und Angst darüber, dass sie nicht wissen,
in welche Richtung sich die Weltwirtschaft entwickelt und welche Maßnahmen zu ihrer Stabilisierung
ergriffen werden können.
Die jüngsten Statistiken
übertreffen selbst die düstersten Prognosen. Das gefürchtete „D"-Wort [Depression]
beginnt, die Runde zu machen, und es dämmert allmählich, dass sich eine Flutwelle aufbaut, die die
Billionen Dollar für Konjunkturprogramme noch unter sich begraben wird.
Lautstark wurde der G20-Gipfel als neues
„Bretton Woods” angekündigt. In dem kleinen Ort im US-Bundestaat New Hampshire entwarfen im
Juli 1944 Vertreter von 44 kapitalistischen Ländern eine multilaterale Nachkriegsordnung mit den USA
als Zentrum.
Tatsächlich hätte der Unterschied
zwischen den beiden Konferenzen nicht größer sein können. Der Londoner Gipfel dauerte einen
Tag; die Bretton-Woods-Konferenz war ein hartes Arbeitstreffen, das 21 Tage dauerte.
Der Londoner Gipfel war exklusiv: 20
Regierungen maßten sich an, für die restlichen 172 Länder der Erde zu entscheiden. Bretton
Woods versuchte hartnäckig, möglichst viele Länder einzubeziehen, um genau den Geruch des
Illegitimen zu vermeiden, der dem Londoner Treffen anhängt.
Bretton Woods schuf zur Ordnung der
Nachkriegswelt eine Reihe neuer multilateraler Institutionen und Regeln. Die G20 haben gescheiterte
Institutionen recycelt: die G20 selbst, das Finanzstabilitätsforum (FSF), die Bank für
Internationalen Zahlungsausgleich und „Basel II”, und den nunmehr 65 Jahre alten Internationalen
Währungsfonds (IWF).
Einige dieser Institutionen wurden von den
G7 nach der Asienkrise 1997 geschaffen, um eine neue Finanzarchitektur auszuarbeiten, die verhindern sollte,
dass sich das Debakel, das der IWF mit seiner Liberalisierung des Kapitalverkehrs angerichtet hatte,
wiederholt. Statt aber Sicherungen einzuziehen, haben alle diese Institutionen das Lied von der
„Selbstregulierung” der globalen Finanzelite gesungen.
Zu den immer wiederkehrenden Dogmen, denen
auf diese Weise höhere Weihen verliehen wurden, zählten die folgenden: Kapitalkontrollen sind
schlecht für Länder in Entwicklung; Leerverkäufe und Spekulationen auf Kredite sind legitime
Marktoperationen; Derivate — das sind Wertpapiere, die Wetten auf die Kursbewegung dahinter liegender
Vermögenswerte erlauben — „perfektionieren” den Markt. Implizit empfahlen sie mit
ihrer Untätigkeit, die beste Form der Marktregulierung sei, die Marktakteure sich selbst zu
überlassen, denn sie hätten diese hoch entwickelten, angeblich verlässlichen Modelle des
Risikomanagements ja entwickelt. Institutionen, die Teil des Problems sind, wurden von den G20 gebeten, Teil
der Lösung zu werden.
Den problematischsten Teil der G20-
Beschlüsse bilden die Vorschläge betreffend den IWF. Die USA und die EU wollen sein Kapital von
250 Mrd. auf 500 Mrd. Dollar aufstocken. Der IWF soll diese Gelder an Länder in Entwicklung ausleihen,
damit sie ihre Wirtschaft ankurbeln; US-Finanzminister Tim Geithner meinte sogar, der IWF solle sie dabei
beaufsichtigen.
Wenn es je einen Rohrkrepierer gegeben hat,
dann diesen. Die Frage der Vertretung der Länder des Südens im IWF wurde nicht gelöst. Trotz
der Forderung nach mehr Stimmrechten für die Länder des Südens hat sich an der
Stimmverteilung nur wenig geändert; die reichen Länder sind nach wie vor in den
Entscheidungsinstanzen des IWF überrepräsentiert. Europa hält ein Drittel der Sitze im
Direktorium und fordert für sich das feudale Recht, immer den Posten des geschäftsführenden
Direktors besetzen zu können. Die USA halten 17% der Stimmrechte, was ihnen Vetorecht verleiht.
Mehr als alles andere wurde die Glaubwürdigkeit des IWF durch sein Verhalten in der Asienkrise 1997
unterminiert. Er ist für sie mit verantwortlich, weil er die asiatischen Länder gedrängt hat,
die Kapitalverkehrskontrollen aufzuheben und den Finanzsektor zu liberalisieren; er erleichterte damit das
massive Eindringen spekulativen Kapitals in diese Länder, aber auch seinen plötzlichen,
destabilisierenden Rückzug beim ersten Anzeichen der Krise.
Der IWF hat die asiatischen Regierungen auch
gedrängt, ihre Ausgaben zu kürzen, um das angeblich größte Problem, die Inflation, zu
vermeiden; dabei hätte er sie ermutigen müssen, die Nachfrage zu stimulieren, um ein Gegengewicht
zum kollabierenden Privatsektor zu schaffen. Seine prozyklischen Empfehlungen bewirkten eine Beschleunigung
des Wegs in die Rezession.
Die Milliarden aus dem IWF-Rettungsfonds
flossen dann nicht in die Wiederaufrichtung der kollabierenden Ökonomien, sondern an ausländischen
Finanzinstitutionen, um deren Verluste auszugleichen.
Wenige Jahre später, 2003, entledigte
sich Thailand seiner IWF-Schuld und erklärte seine „finanzielle Unabhängigkeit”
Brasilien, Venezuela und Argentinien folgten auf dem Fuße, und auch Indonesien erklärte seine
Absicht. Andere Länder zogen es vor, sich gegen äußere Entwicklungen lieber mit eigenen
Währungsreserven abzusichern, als neue IWF-Kredite auszuhandeln. Das stürzte den Fonds in eine
Haushaltskrise, denn der größte Teil seiner Einkommen speiste sich aus den Schuldenzahlungen der
größeren Entwicklungsländer.
Anhänger des IWF meinen, der Fonds habe
sich heute zu einer keynesianischen Ausgabenpolitik bekehrt, Kritiker sehen das ganz anders. Eurodad, eine
NGO, die das Kreditgebaren des IWF beobachtet, sagt, der Fonds belaste seine Kredite immer noch mit
erdrückenden Bedingungen. Neuere Kredite sind weiter an die Auflagen gebunden, das Finanzwesen zu
liberalisieren.
Obwohl Konjunkturprogramme im Trend sind,
und einige Länder, wie die USA, Regierungen eher dazu drängen, ihr Ausgabenprogramme auf
mindestens 2% des Bruttoinlandsprodukts anzuheben, fordert der IWF von ärmeren Kreditnehmern, dass ihre
kreditfinanzierten Ausgaben 1% des BIP nicht übersteigen.
Mit dieser Erblast wird es dem IWF schwer
fallen, international Geld für ein von ihm verwaltetes globales Konjunkturpaket einzusammeln.
Die Antwort des Nordens auf die Krise ähnelt in vielem dem berühmten Ausspruch von Keynes:
„Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr darin, neue Ideen zu entwickeln, als sich aus den alten zu
befreien.” Welche Wege gibt es, das alte Denken zu überwinden?
Zunächst muss das selten gewordene Gut
Glaubwürdigkeit wiederhergestellt werden. Der UNO-Generalsekretär und die UN-Vollversammlung
— nicht die G20! — sollten eine Sondersitzung einberufen, um die Umrisse einer neuen Weltordnung
zu umreißen. Vorarbeiten dafür hat eine Expertenkommission zur Reform des internationalen
Währungs- und Finanzsystems geleistet; sie wurde vom Präsidenten der UN-Vollversammlung, Miguel
dEscoto, einberufen und arbeitet unter dem Vorsitz von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz.
Die Tagung soll, wie die Bretton-Woods-
Konferenz, ein inklusives mehrwöchiges Arbeitstreffen sein.
Eines ihrer wichtigsten Ergebnisse
könnte die Gründung eines repräsentativen Forums in der Art des von der Stiglitz-Kommission
vorgeschlagenen Globalen Koordinierungsrats sein; seine Aufgabe wäre die Koordinierung einer globalen
Wirtschafts- und Finanzreform.
Zweitens müssen die Schulden der
Länder des Südens gegenüber den Institutionen des Nordens gestrichen werden. Die meisten
dieser Schulden wurden unter erpresserischen Bedingungen ausgehandelt und bereits mehrfach
zurückgezahlt. Sich entwickelnde Länder hätten damit mehr Mittel an der Hand, das hätte
eine belebendere Wirkung als neue Kredite vom IWF.
Drittens sollten im Mittelpunkt der neuen
Finanzarchitektur und der neuen Global Governance regionale Finanzstrukturen stehen, nicht ein Finanzsystem,
in dem die Länder des Nordens ein weiteres Mal zentralisierte Institutionen wie den IWF dominieren und
darüber Ressourcen und Macht monopolisieren. In Ostasien stellen die „ASEAN-plus-3-Gruppe”
oder die „Chiang-Mai-Initiative” ermutigende Schritte in dieser Richtung dar; sie müssen
ausgebaut werden, sie müssen gegenüber der Bevölkerung der Region aber auch
rechenschaftspflichtig werden. In Lateinamerika gibt es ebenfalls ermutigende regionale Initiativen, so die
Bolivarianische Alternative für Amerika (ALBA) und die Bank des Südens.
Dies sind unmittelbare Schritte, die
natürlich im Kontext einer längerfristigen, grundsätzlichen strategischen Neuausrichtung des
globalen kapitalistischen Systems zu sehen sind, das jetzt vor dem Kollaps steht. Die derzeitige Krise ist
eine große Chance, ein neues System zu entwickeln, das nicht nur der gescheiterten neoliberalen Global
Governance ein Ende setzt, sondern überhaupt der euro-amerikanischen Herrschaft der globalen
kapitalistischen Wirtschaft. An seine Stelle kann eine dezentralisiertere, ent-globalisierte demokratische
postkapitalistische Ordnung treten.
Walden Bello ist Mitarbeiter von Focus on
the Global South in Bangkokund Vorsitzender der Philippines Freedom from Debt Coalition, die sich für
Schuldenstreichung einsetzt. Der Beitrag erschien zuerst auf englisch in Foreign Policy in Focus
(Übersetzung: ak).
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