SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2009, Seite 03

Machtkampf im Iran:

Spielraum und Kalkül der Kontrahenten

von Lee Sustar

Die herrschende Klasse ist über die Wirtschafts- und Außenpolitik gespalten. Die Kandidatur Mousavis hat die Spaltung radikalisiert, und der Wahlbetrug hat Raum für Rebellion von unten geschaffen.
Nach den Massenprotesten gegen den Wahlsieg des bisherigen Staatspräsidenten Mahmoud Ahmadinejad, die ziemlich sicher manipuliert waren, betritt der Iran neues politisches Terrain. Die lange schwelende Spaltung innerhalb der herrschenden Klasse hat sich durch die breite Unterstützung für den reformistischen Präsidentschaftskandidaten Mirhusein Mousavi zu einem Graben ausgeweitet.
Die harsche Unterdrückung des Protestes durch die Polizei in der Hauptstadt Teheran führte zur Verhaftung von mehr als 130 prominenten Unterstützern Mousavis — unter ihnen sind auch Mohammed Reza Khatami, der Bruder des früheren Präsidenten Mahmoud Khatami, und der Schwiegersohn des Anführers der islamistischen Revolution von 1979, Ayatollah Khomeini. Die Polizei verhaftete auch Mostafa Tajzadeh, Innenminister unter Khatami; Behzad Nabavi, ehemaliger Industrieminister; und Mohsen Mirdamadi, der Organisator der Besetzung der US-Botschaft im Jahr 1979.
In der Vergangenheit richteten sich solche Unterdrückungswellen vor allem gegen liberale Zeitungsherausgeber, Menschenrechtsaktivisten und Gewerkschafter. Nun erfahren maßgebliche Politiker dieselbe Behandlung; die Protestierenden auf der Straße nennen Ahmadinejad deshalb einen Diktator und vergleichen ihn mit dem Schah — dem von den USA gestützten Despoten, der 1979 entmachtet wurde.
Der Kampf an der Spitze der iranischen Gesellschaft wird vermutlich zu vermehrter Rebellion von unten führen. Anders als bei anderen Wahlen, als sogar die Opfer von Wahlbetrug die Ergebnisse hinnahmen, weigerte sich Mousavi, das zu tun. Stattdessen rief er seine Unterstützer dazu auf, auf der Straße zu bleiben, und forderte die Behörden auf, weitere Proteste zu erlauben.

Hinweise auf Wahlbetrug

Hart umkämpfte Wahlen — inklusive Stimmenklau, um die Ergebnisse um 1—2% zu schönen — sind im nachrevolutionären Iran nichts Neues. Ahmadinejads Anspruch auf 62% der Stimmen ist nicht glaubwürdig. Es ist wohl möglich, dass sein Rückhalt unter der armen ländlichen Bevölkerung ihm einen höheren Stimmenanteil als seinen fünf Mitstreitern einbrachte, es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass er eine absolute Mehrheit erlangte, die einen zweiten Wahlgang unnötig gemacht hätte.
Der offensichtlichste Hinweis auf einen Betrug ist die Tatsache, dass diejenigen, die laut Wahlbehörde verloren haben, nicht einmal in ihren Heimatorten und Regionen gewonnen haben sollen — was im Iran praktisch noch nie vorgekommen ist. Mousavi hat bspw. in der Provinz Azerbaijan schlechte Resultate erzielt, obwohl er selber ein Azeri ist und dort auch Popularität genießt.
Es wird behauptet, der andere Reformkandidat, der Geistliche Mehdi Karroubi, habe 320000 Stimmen erhalten und in den westlichen Provinzen des Iran schlecht abgeschnitten, sogar in Luristan soll er verloren haben. Er ist Lure und zudem populär im Westen, inklusive in Kurdistan. Karroubi erhielt in der ersten Runde der Parlamentswahlen von 2005 17% der Stimmen. Obwohl es möglich ist, dass die Unterstützung für ihn seither stark abgenommen hat, fällt es doch schwer zu glauben, dass er weniger als 1% der Stimmen erhalten haben soll.
Die Frage ist: Warum riskierte Ahmadinejad eine so offensichtliche und grobe Manipulation der Wahlresultate?

Warum die Manipulation?

Im Moment ist jede Antwort darauf Spekulation. Es liegt jedoch eine Logik im Wahlbetrug: Indem Ahmadinejad eine überwältigende Mehrheit für sich beanspruchte, wollte er eine Stichwahl gegen seinen Hauptgegner Mousavi vermeiden.
In den Tagen vor dem 12.Juni organisierten Mousavis Unterstützer Demonstrationen mit Hunderttausenden Menschen — nicht nur in der Hauptstadt Teheran, sondern auch in den Provinzstädten. Wahrscheinlich hatte Ahmadinejad Angst vor noch größeren Protesten im Falle einer Stichwahl, die Mousavi den Sieg bringen würde. Offensichtlich kalkulierte er, es könnte sicherer sein, den Sieg schon nach der ersten Runde zu verkünden, um eine weitere Herausforderung zu beenden. Der oberste Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, billigte das Wahlergebnis in der Hoffnung, die Ordnung wieder herzustellen. Doch der Wahlausgang löste noch stärkere Proteste aus. Bislang haben die Protestierenden den gewaltsamen Angriffen der Polizei und paramilitärischen Gruppen, den Basij, die die Straßen patrouillieren auf der Suche nach unislamischem Verhalten (z.B. unziemlich gekleideten Frauen), widerstanden.
Der Wahlbetrug hat die Spaltung in der herrschenden Klasse verstärkt. Das führt den Iran in eine neue politische Ära, in der rivalisierende Gruppen so etwas wie ständige politische Parteien herausbilden können — eine Entwicklung, die bislang vom schiitischen Establishment im Herzen der iranischen Politik blockiert wurde.

Die Kontrahenten

Um die politische Dynamik im Iran besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich die soziale Basis der Spitzenkandidaten näher anzuschauen.
Ahmadinejad ist ein Veteran des Iran-Irak-Kriegs in den 80er Jahren und der bewaffneten Revolutionsgarde; er ist ein Vertreter der rechten Hardliner im Klerus und im nationalen Sicherheitsapparat.
Als er 2005 erstmals kandidierte, war er noch relativ unbekannt — dank vermutlich gestohlener Wählerstimmen schaffte er es in die Stichwahl. Sein Gegner war ein anderer Konservativer, der ehemalige iranische Staatspräsident Ali Akbar Hashemi Rafsanjani. Durch seine populistische Kampagne konnte Ahmadinejad Rafsanjani — einer der reichsten Männer im Iran und Vertreter des Großkapitals — leicht schlagen.
Nach seinem Amtsantritt war Ahmadinejad bestrebt, die liberale Politik der Vorgängerregierung des Reformers Mahmoud Khatami rückgängig zu machen. In seiner achtjährigen Amtszeit hatte Khatami einen liberaleren Standpunkt zu sozialen Fragen eingenommen, um die gebildete Mittelklasse zu fördern; gleichzeitig pflegte er wirtschaftliche Beziehungen zum westeuropäischen Kapital.
Aber Khatami konnte die Angriffe der Hardliner auf die liberalen Studenten und Medien nicht abwehren, und den Arbeitern und Armen hatte er wenig zu bieten. Ahmadinejad machte sich den Zynismus der Mittelschichtsintelligenz gegenüber den Reformern zunutze und versprach zudem der Mehrheit der Arbeiterklasse bessere Tage.
Einmal im Amt, zapfte Ahmadinejad die staatlichen Öleinnahmen, die gerade auf Rekordniveau waren, an, um seine politische Basis zu konsolidieren. Milde Gaben an die Armen, Boni für die Regierungsangestellten und lokale Entwicklungsprojekte bildeten den Kern seiner Wirtschaftspolitik. Indem er den Konsum der Armen und Arbeiter förderte, kurbelten die Staatsausgaben auch die Einkünfte des Bazars an — der kleinen Geschäftsleute, die das Rückgrat der rechten Hardliner im Iran bilden.
Andere Teile der herrschenden Klasse sahen diese Politik mit zunehmender Besorgnis. Aus der Sicht von Rafsanjani und seinesgleichen bedeuteten die willkürliche Förderung von Sozialprogrammen und der Klientelismus nach lateinamerikanischem Modell, dass der Wirtschaft Gelder für nötige Investitionen entzogen wurden — insbesondere in der Öl- und Gasindustrie. Viele waren auch Ahmadinejads Konfrontationskurs gegenüber dem Westen in Bezug auf das Atomprogramm leid und argumentierten, der Preis dafür, nämlich die Wirtschaftssanktionen, sei zu hoch.
Zugleich rieb sich die gebildete Mittelschicht zunehmend an Ahmadinejads schwer zu ertragenden Versuchen, die sozialen Normen der islamischen Revolution wieder einzuführen. Die Arbeiterklasse sah ihr Einkommen durch die Inflation zunehmend schrumpfen, und die Bemühungen, Gewerkschaften zu bilden, wurden hart unterdrückt. Der Präsident versuchte sogar zeitweise, die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln für die Armen zurückzunehmen, und die Korruption, seit langem ein Merkmal iranischer Regierungen, setzte sich fort.
Aus diesen Gründen sahen Mousavi und seine Unterstützer eine Möglichkeit, Ahmadinejad zu entmachten.
Das Bemühen brachte ungewöhnliche Allianzen hervor. Einer der größten Unterstützer Mousavis ist Rafsanjani — obwohl es Rafsanjani war, der vor zwanzig Jahren die Abschaffung des Amts des Premierministers durchboxte, um Mousavi abzusetzen, der das Amt damals innehatte. Zu der Zeit vertrat Mousavi eine staatskapitalistische Wirtschaftspolitik, die Importbeschränkungen und die Regierungskontrolle über Schlüsselindustrien forderte. Rafsanjani, ein Verfechter des Privateigentums, war entschlossen, ihn zu isolieren, was ihm auch weitgehend gelang.
Heute gleicht Mousavis Wirtschaftsprogramm eher dem von Rafsanjani. „Er forderte wirtschaftliche Liberalisierung und schwor, die Inflation durch eine Geldmengenpolitik unter Kontrolle zu bringen und private Geschäfte zu erleichtern”, schrieb der britische Journalist Robert Fisk.
Mousavis Appelle für mehr Rechte für die Frauen und größere politische Freiheit inspirierten studentische Aktivisten und die Mittelschicht. Er bemühte sich jedoch nicht um die Arbeiter und die Armen und überließ dieses Feld Ahmadinejad.

Mögliche Entwicklungen

In der Krise nach der Wahl ist die beschränkte gesellschaftliche Basis der Reformer deutlich geworden. Ein Kampf um die Absetzung von Ahmadinejad würde viel militantere Massenaktionen erfordern, als alles was bisher zu sehen war. Es scheint zumindest fraglich, dass Mousavi, der die letzten drei Jahrzehnte in der politischen Hierarchie verbracht hat, zu Streiks oder Aufständen aufrufen wird.
Er wird versucht sein, ein Drinnen-draußen-Spiel zu treiben — indem er zu Straßenprotesten aufruft und zugleich auf Rafsanjani zählt — der erfahrene Machtstratege und Kopf des Expertenrats, um einen Deal mit Ahmadinejad auszuhandeln.
Vielleicht ist es aber auch dafür zu spät. Anhaltende Proteste und Repressalien können Mousavi und seine Verbündeten zwingen, eine Art von Opposition im Untergrund aufbauen. Tatsächlich hat Ahmadinejad Mousavi bereits beschuldigt, eine „samtene Revolution” anzetteln zu wollen, nach dem Muster der Demonstrationen 1989, die das stalinistische Regime in der Tschechoslowakei stürzten.
Sicher werden die USA versuchen, den Machtkampf im Iran zu ihrem eigenen Vorteil auszuschlachten, indem sie diplomatischen Druck aufbauen und die üblichen CIA-Operationen verstärken, um Teile der Opposition zu vereinnahmen.
Für Ahmadinejad wird das ein Geschenk sein, denn er wird jeden Versuch dieser Art als Vorwand nutzen, um die Opposition zu kriminalisieren und zu zerschlagen.
Ein wahrhaft demokratischer Wandel im Iran kann nicht von einer US-Intervention kommen, sondern nur von der Ausweitung und Vertiefung der Protestbewegung.

Aus: http://socialistworker.org>http://socialistworker.org Ausgabe vom 18.Juni (Übersetzung: Angela Huemer).




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