SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2009, Seite 09

Kleine Geschichte

der Arbeitszeit

Nicht nur die Uhr kann Arbeitszeit messen

Die Gestirne, die Jahreszeiten und menschliche Grenzen geben dem Leben einen Rhythmus: Der Augenblick, der Tagesmarsch, das Tagewerk in der Landwirtschaft...
Im 13.Jahrhundert wird die mechanische Uhr erfunden, in Klöstern und Städten beginnen Turmuhren, das soziale Leben zu takten.
Im 17.Jahrhundert wird das Wort „pünktlich” bekannt.
Im 18.Jahrhundert werden Uhren massenhaft verbreitet. Sie genügen nicht mehr an den Kirchtürmen, statt zum Gebet, rufen sie nun zur Arbeit in die Werkshallen.
1901 und 1902 zieht Frederick W. Taylor mit der Stoppuhr durch den Betrieb und zerlegt die Arbeitsschritte.

Arbeitsschutz

Mit der Industrialisierung wird die Sonntagsarbeit breit eingeführt, die Schichten werden länger und länger, wöchentlich sind 80-90 Stunden üblich.
1828Generalleutnant Horn klagt, Nachtarbeit der Kinder gefährde deren spätere Wehrfähigkeit.
1839In Preußen dürfen Kinder erst ab 9 Jahren arbeiten, bis 12 Jahre nicht mehr als 10 Stunden; für Jugendliche wird Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit verboten.
1853 Fakultative Fabrikinspektionen werden eingeführt, bleiben aber wirkungslos.
1878Eine Novelle zur Gewerbeordnung regelt Fabrikinspektionen verbindlich in allen deutschen Bundesstaaten.
1891Das Arbeiterschutzgesetz verbietet grundsätzlich Sonn- und Feiertagsarbeit, Kinderarbeit unter 13 Jahren und Nachtarbeit für Arbeiterinnen. Die Gewerbeaufsicht wird eingeführt.
1908Für Frauen wird die Schichtlänge auf 10 Stunden begrenzt.
Die Arbeitszeitordnung von 1938 lässt bis 1994 zu:
werktäglich 8 Stunden (§3), also im Wochendurchschnitt 48 Stunden, plus die als Arbeit unbeachteten (weil ja nicht werktäglichen) sonntäglichen Arbeitsstunden, falls sie von der Gewerbeordnung in den vielgestaltigen Ausnahmen des §105 b-g gestattet wurden.

100 Jahre Arbeitszeit im Gesundheitsdienst

1908Die Schutzbestimmungen der Gewerbeordnung nehmen in §154 ausdrücklich die Heilanstalten aus; die Arbeitszeit der Krankenpflege ist unbeschränkt.
1910Von den in der Krankenpflege Beschäftigten arbeiten ununterbrochen täglich:
46,2% zwischen 12 und 14 Stunden;
39,3% zwischen 14 und 17,5 Stunden.

„In den Irrenanstalten lagen die Verhältnisse noch ungünstiger, dort galt teilweise totale Anwesenheitspflicht, d.h. das Personal aß und schlief in den Sälen der Kranken, wobei die Betten des Personals oft mit Gittern gegen die Angriffe der Geisteskranken geschützt waren” (C.Bischoff, in: Frauen in der Krankenpflege, Campus-Verlag).
Oft schließen sich an diese Schichten mehrmals wöchentlich noch halbe oder ganze Nachtwachen mit Haus- und Reinigungsarbeiten für die Frauen an. Danach arbeiten sie ohne Ruhezeit direkt weiter. Das bedeutet Arbeitszeiten von 30—40 Stunden in einem Stück.
Üblich sind pro Woche ein halber Tag arbeitsfrei sowie jeden 3. oder 4.Sonntag zusätzlich ein halber oder ganzer Tag. Oft ist „Ausgang” nur mit einem Erlaubnisschein der „Mutter” Oberin gestattet.
1924Die Arbeitszeit des Pflegepersonals in Krankenpflegeanstalten wird gesondert von den allgemeinen Arbeitsschutzbestimmungen (AZO) in der KrAZO (Verordnung über die Arbeitszeit in den Krankenpflegeanstalten vom 13.Februar 1924) geregelt. Bis 1996 gelten diese acht Paragrafen fort. So sind bis zu 60 Stunden im Wochendurchschnitt erlaubt.
1956Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 60 Stunden im Einsatz.
1961Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 48 Stunden im Einsatz.
1970Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 45 Stunden im Einsatz.
1974Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 40 Stunden im Einsatz und damit erstmals nicht länger als die übrigen Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
1990Angestellte im Pflegedienst sind im Wochendurchschnitt 38,5 Stunden im Einsatz.
1994Die Regelungen des Arbeitszeitgesetzes gelten nun erstmals einheitlich auch für das Gesundheitswesen, doch sie enthalten weiterhin zahlreiche Ausnahmen für Krankenhäuser und andere Einrichtungen zur Behandlungen, Pflege und Betreuung von Personen. Für Ärzte und Pflegepersonal erlaubte eine Übergangsvorschrift, das ArbZG erst ab dem 1.Januar 1996 anzuwenden. Das Nachtarbeitsverbot für Frauen wird aufgehoben.
Frauen dürfen auch ununterbrochen bis zu 6 Stunden eingesetzt werden. Die Begrenzung auf 1 Überstunde über die betriebsübliche Schichtlänge hinaus (§17 AZO) entfällt.
2000Im SIMAP-Urteil stellt das EuGH fest, dass die Schutzbestimmungen für Arbeitszeit auch dann vorliegen, wenn diese Arbeitszeit „Bereitschaftsdienst” genannt wird.
2006Angestellte an den Unikliniken setzen in einem mehr als 16 Wochen langen Streik durch, dass ihre Arbeitszeit bei 38,5 Stunden im Wochendurchschnitt bleibt. Zugleich wird die Arbeitszeit der Mehrzahl der übrigen Angestellten auf fast 40 Wochenstunden angehoben.
2006Nach einem Streik der Beschäftigten im ärztlichen Dienst werden vom Marburger Bund und von Ver.di für diese Gruppe Regelarbeitszeiten von 42 Wochenstunden tariflich festgelegt.
Über Opt-out-Regelungen werden hier bis zu 66 Stunden im Wochendurchschnitt möglich: „Die Tarifvertragsparteien gehen davon aus, dass es für die Vereinbarung einer durchschnittlichen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von bis zu 66 Stunden einen Bedarf geben kann” (Sonderregelung für Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken).
2008In den Altenheimen und in der Behindertenpflege wird die Arbeitszeit um 30 Minuten auf 39 Stunden verlängert.

Ein Bildungsblatt von ver.di (Autor: Tobias Michel).


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