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Im März 1999 flog die NATO ihre ersten Luftangriffe gegen
Belgrad, damals die Hauptstadt dessen, was von der Jugoslawischen Föderation übrig
geblieben war: Serbien, einschließlich Kosovo, und Montenegro. Aus den Angriffen, die
laut den Diplomaten der atlantischen Allianz nur einige Tage dauern sollten, wurde ein
dreimonatiger Krieg — der erste in der Geschichte der NATO und ohne UN-Mandat. Unter dem
Vorwand, die Kosovoalbaner vor den serbischen Streitkräften zu schützen, ging es in
Wirklichkeit um die Rettung der NATO: Denn die NATO, entstanden im Kalten Krieg, hätte
sich 1991 — dem Jahr des Zerfalls der UdSSR, aber auch der Zerschlagung der
ursprünglichen Jugoslawischen Föderation — ebenso auflösen müssen
wie sein östliches Gegenstück, der Warschauer Pakt. Die Luftangriffe aber waren von
den USA gewollt, um ihr Recht zu erzwingen, sich auf dem Balkan festzusetzen. Damit
verhinderten sie keinen Steppenbrand, sie lösten ihn erst aus.
Die vertrackten nationalen
Fragen auf dem Balkan sind stets von rivalisierenden Großmächten ausgenutzt worden,
um die Region mit Hilfe wechselnder Allianzen unter ihre Kontrolle zu bringen. Dies bedeutet
nicht, dass die nationalen Konflikte künstlich geschaffen würden oder dass die
Allianzen stabil und die Strategien von Dauer wären.
Ende der 80er Jahre setzten
der IWF und die große Mehrheit der westlichen Regierungen eher auf die Transformation
Jugoslawiens in eine liberale Marktwirtschaft als auf den Zusammenbruch der Föderation
— aus Furcht vor einem Steppenbrand auf dem Balkan. Aber 1991 erklärten Slowenien
und Kroatien ihre Unabhängigkeit und wurden in diesem Schritt durch ihre Beziehungen zu
Deutschland und Österreich (und dem Vatikan) ermutigt.
Des gleichen hat Washington
vor 1998 nicht die Unabhängigkeit des Kosovo unterstützt (der serbischen Provinz mit
albanischer Bevölkerungsmehrheit). Das Abkommen von Dayton 1995 war ein geballter
Ausdruck von Realpolitik und wurden häufig ignoriert zugunsten anderer Optionen, die der
NATO-Krieg mit sich brachte: Es beendete den dreijährigen Krieg um Bosnien und sollte
nach den Vorstellungen amerikanischer und westlicher Diplomaten die Region stabilisieren. Wie?
Einerseits, indem ein pseudosouveränes Bosnien errichtet wurde (das faktisch unter
Protektorat stand), andererseits indem sich das Abkommen auf die Präsidenten Kroatiens,
Franjo Tudjman, und Serbiens, Slobodan Milosevic, stützte, deren „heimliche”
Zusammenkunft Anfang der 90er Jahre die ethnische Teilung Bosniens eingeleitet hatte —
auf den Bajonetten der Streitkräfte beider Seiten.
Die Unterschrift der beiden
Präsidenten unter das Abkommen von Dayton war erkauft worden mit dem Schweigen der
westlichen Diplomaten zur Vertreibung Hunderttausender Serben aus Kroatien durch Tudjmans
Armee im Sommer 1995; gleichzeitig konnte Milosevic dadurch seine Macht über den Kosovo
festigen.
Die amerikanische Realpolitik
löste sich vom Diskurs über den „Schutz der Muslime” und der Albaner und
verschanzte sich hinter dem Nebelvorhang eines „souveränen” Bosnien (nach
einigen „gezielten Schlägen” und der Anklage der bosnisch-serbischen
Führer vor dem Internationalen Strafgerichtshof).
In Wirklichkeit scheiterte der
serbische Präsident mit der Festigung seiner Macht in Dayton; und für die
Kosovoalbaner war das eine herbe Enttäuschung. Seit Anfang der 90er Jahre hatten sie
gegen die erneute Übernahme der Kontrolle über die Provinz durch Belgrad protestiert
und einseitig die Republik Kosovo mit Ibrahim Rugova als gewähltem Präsidenten
ausgerufen; dabei rechneten sie mit westlicher Unterstützung.
Es war diese Lektüre von
Dayton als Scheitern des friedlichen Widerstands im Kosovo, die den bewaffneten Kampf der UÇK
(Befreiungsarmee Kosovas) auslöste. Die UÇK wurde anfangs von Belgrad und den westlichen
Diplomaten als „terroristisch” bezeichnet — bis 1998 und parallel zur
Aufhebung der Sanktionen gegen Serbien. Doch die serbische Repression gegen die UÇK machte die
Unabhängigkeitsbestrebungen zunehmend populär. Da änderten die USA ihren Kurs.
Washington nutzte die Sackgasse, in die sich die Friedenspläne der europäischen
Länder und der UNO in Bosnien manövriert hatten, um die NATO als „bewaffneten
Arm der UNO” ins Spiel zu bringen. Man wollte sich von der UNO frei schwimmen und
Freizügigkeit für die NATO-Truppen auf dem strategisch wichtigen Balkan durchsetzen.
Die Region ist vor allem als Durchgangsstraße für fossile Energie wichtig und
für die USA ein Sprungbrett (Militärbasen, Häfen) zu anderen Regionen.
Überdies wollten die USA verhindern, dass die EU sich als rivalisierende Macht etabliert.
Auf dem Spiel standen die Osterweiterung der NATO, aber auch die Einbindung der
europäischen Regierungen in die Atlantische Allianz bei der Neubestimmung und
Stärkung ihrer Rolle.
Während der ersten Phase
der Verhandlungen von Rambouillet, die von europäischen Diplomaten im Februar 1999
geführt wurden, akzeptierten die serbischen Unterhändler das Autonomieprojekt
für den Kosovo — zum großen Leidwesen der westlichen Diplomaten wurde es
jedoch von der albanischen Delegation, der für die Unabhängigkeit kämpfte,
abgelehnt. In einer Verhandlungspause „schnappte” sich Madeleine Albright den
Führer der UÇK und überzeugte ihn, die Delegation dazu zu bringen, das
Autonomieabkommen zu unterzeichnen, indem sie ihm unter der Hand spätere Verhandlungen
über die Selbstbestimmung versprach; sie fügte einen „Anhang B” hinzu,
der die Stationierung von NATO-Truppen zur Durchsetzung der Abkommen vorsah. Diese Klausel,
von den Kosovoalbanern begrüßt, um den serbischen Repressionsapparat loszuwerden,
wurde von Belgrad entschieden abgelehnt — das die „Abkommen” somit nicht
unterzeichnete: Die serbische Weigerung „legitimierte” die
„Strafaktion”, die für den Fall der Ablehnung angekündigt war.
Die Bombenangriffe sollten nur
einige Tage dauern, um (so sagten die Diplomaten hinter den Kulissen) Milosevic Gelegenheit zu
geben, seine Bevölkerung von der Unterzeichnung der Abkommen zu überzeugen —
wie er das bei dem von Dayton auch getan hatte. Aber die Bombenangriffe und ihre realen
Zielscheiben waren für jeden souveränen Staat „unannehmbar”, und sie
dienten Milosevic auf ganz andere Weise: nämlich als Hintergrund für die
Förderung eines Patriotismus, der seine Opposition in die Ecke drängte und ihm
erlaubte, eine Bodenoffensive zu starten, um den bewaffneten Widerstand der UÇK und der sie
unterstützenden Dörfer zu vernichten.
Aus den Luftangriffen der NATO
(aus einer Höhe, die ihre Soldaten unversehrt ließ) wurde ein Krieg mit zahlreichen
„Kollateralschäden” an der Zivilbevölkerung und der Infrastruktur. Das
Fiasko war so groß, dass die NATO am Rande des Zerfalls stand. In einer Fernsehsendung
der BBC am 20.August erklärte der Vizeaußenminister der USA, Strobe Talbott, die
Meinungsverschiedenheiten in der NATO seien so ausgeprägt, dass es ohne das Anfang Juni
mit dem jugoslawischen Präsidenten Milosevic geschlossenen Abkommen „wirklich sehr
schwierig gewesen wäre, die Einheit und Geschlossenheit der Allianz zu bewahren”
Dabei fielen die Bomben im selben Rhythmus wie die Worte, die sie rechtfertigten, und die
Bilder Hunderttausenden vor dem Krieg flüchtender Albaner mussten dazu herhalten, sie als
die neuen Deportierte in einem angekündigten Genozid zu präsentieren.
Gefördert wurde diese
Darstellung durch die Erinnerung an den Krieg in Bosnien, der von 1992 bis zu den Abkommen von
Dayton 1995 100000 Tote forderte (darunter 6000 bei dem Massaker in der muslimischen Enklave
Srebrenica). Aber Kosovo (mit seinen 80% Albanern) war eine serbische Provinz — und die
serbisch-nationalistische Politik wollte, dass dies so blieb. Das war nicht Bosnien mit seinen
40% Muslimen, die zwischen serbischen und kroatischen Nationalisten eingeklemmt waren, die auf
undurchsichtige Weise von Belgrad und Zagreb unterstützt wurden — bereit, Bosnien
unter sich aufzuteilen.
Man würde, so stand es in
den Zeitungen, Zehntausende Tote entdecken, verbrannte Leichen auf dem Grund von Bergwerken
und in Massengräbern. Damit Deutschland (darunter die Grünen) seine Teilnahme an
einem solchen Krieg rechtfertigen konnte, musste ein „Hufeisenplan” erfunden
werden, der ein „Genozid” verursacht hätte, wäre er nicht verhindert
worden. In den USA wie in Deutschland ging es darum, in Ermangelung einer legalen
militärischen Intervention ein neues „Völkerrecht” zu verkünden,
das eine „humanitäre” Einmischung erlaubte.
Eine Untersuchung an Ort und
Stelle nach Juni 1999 — d.h. im Rahmen eines UN-Protektorats und in Anwesenheit der
NATO-Truppen — veranlasste den Obersten Gerichtshof in Pristina zur Schlussfolgerung,
dass es im Kosovo keinen Völkermord gegeben hat (AFP vom 7.September 2001).
Die Niederlage von Slobodan Milosevic bei den Wahlen im Oktober 2000 ist als Erfolg der
NATO dargestellt worden. Als die Westmächte über ein Jahr nach Kriegsende auf Wahlen
setzten, um Milosevic zu beseitigen, fiel ihr Augenmerk auf den Kandidaten, der laut Umfragen
als einziger in der Lage war, die Wähler an die Urnen zu bringen und Milosevic zu
besiegen: nicht der der NATO ergebene Zoran Djindjic, sondern Vojislav Kostunica. Sie zwangen
die „prowestlichen” Parteien, sich hinter ihm zusammenzuschließen. Aber er
war nationalistischer als Milosevic (dem er vorwarf, die Serben Kroatiens und Bosniens ebenso
im Stich gelassen zu haben wie das Kosovo) und gegenüber den NATO-Bomben wie dem
Internationalen Strafgerichtshof äußerst feindselig eingestellt. Sein Profil als
nicht korrupter Politiker begründete seine Popularität, ihm traute man zu, er werde
mit der Vetternwirtschaft und der Korruption des „sozialistischen” Regimes, aber
auch eines guten Teils der Opposition Schluss machen.
Das Regime wurde dann, ohne
Blutvergießen, nach einem ähnlichen Drehbuch wie die „farbigen
Revolutionen” in der Ukraine und in Georgien gestürzt...
Von 2000 an wurden die
politischen Verhältnisse in Serbien wahlpolitisch wieder instabil. Hintergrund waren die
katastrophale Wirtschaftslage, die Enttäuschung über erwartete Wirtschaftshilfen und
der Aufstieg ultranationalistischer Kräfte.
Im Februar 2009 feierten die
Kosovoalbaner den ersten Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung. Doch wenn Kosovo
auch eine Verfassung, eine neue Fahne, eine Nationalhymne und den Kern einer Armee hat, ist es
sicher nicht souverän. Seit Ende des Krieges im Juni 1999 verwaltet die Unmik, die UN-
Mission im Kosovo, das Land. Im Dezember 2008 sollte sie die Stafette an die Europäische
Mission für Polizei und Justiz (Eulex) weitergeben. Aber einerseits würde dies
Kosovo in die Lage bringen, in der sich Bosnien von 1995 an befand: nämlich die eines
europäischen Quasiprotektorats mit einem Hochkommissar, der unbeschränkte
Vollmachten hat. Andererseits haben bislang nur 54 UN-Mitgliedstaaten (darunter 22 von 27 EU-
Ländern) seine Unabhängigkeit anerkannt — was bedeutet, dass die von Milosevic
am Kriegsende unterzeichnete UN-Resolution 1244 nicht hinfällig ist. Diese sagt, dass
Kosovo im Status einer autonomen Provinz verbleibt. Serbien, stützt sich auf diese
Resolution und hat den Internationalen Gerichtshof angerufen, der sich zur
Unabhängigkeitserklärung äußern muss. In der Zwischenzeit bereitet Serbien
mehr oder weniger offiziell eine Teilung der Provinz mit Gebietsaustausch vor. Die Bildung der
FSK, der neuen Sicherheitskräfte, die im Wesentlichen aus früheren UÇK-Mitgliedern
bestehen, im Januar 2009 hat Öl ins Feuer gegossen — sie werden beschuldigt,
zahlreiche Gewaltakte gegen Nichtalbaner (Serben, Roma) und „kollaborierende”
Albaner begangen zu haben.
Das Kosovo ist heute eines der
Länder mit der höchsten EU-Wirtschaftshilfe pro Einwohner, aber mehr als 80% davon
kommen dem Geberland zugute — über Lohnzahlungen oder Importe, die in Euro bezahlt
werden. Die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, die
Arbeitslosigkeit liegt bei 45%. Die Geldquellen aus der Diaspora, mit denen Familien und der
Kleinhandel sich hauptsächlich finanzieren, drohen mit der Krise zu versiegen.Die Preise
für Brot und Strom (der mehrmals am Tag abgestellt wird) steigen, die Korruption
grassiert.
In den serbischen Enklaven ist
die Bevölkerung weitgehend dem Aufruf zum Boykott der albanischen Regierung gefolgt. Aber
auch unter der albanischen Mehrheit wächst der Unmut. Daraus versucht die Bewegung
Vetëvendosje (Selbstbestimmung) Kapital zu schlagen, die sich gleichzeitig aus der
Vormundschaft Belgrads und der internationalen Institutionen lösen will.
So drückt die
jugoslawische Krise der 90er Jahre den Übergang von einer Weltordnung (der des Kalten
Krieges) zu einer anderen aus, die noch voller Zweideutigkeiten ist: Die kapitalistische
Restauration (die sich nicht so nennen will) zerbricht alle Formen gesellschaftlichen
Eigentums und sozialen Schutzes; Exkals virulente Antikommunisten ommunisten — wie
Franjo Tudjman in Kroatien — posieren als virulente Antikommunisten oder Sozialliberale.
Medienlügen rechtfertigen Kriege — zum Zweck der ethnischen Säuberung oder zur
Aneignung von Territorien — aber auch die „humanitären Kriege” der
NATO, deren wahre Ziele von den Medienberichten verschleiert werden.
Ein europäischer Rahmen,
der den gesamten Balkan integriert, würde gewiss helfen, die dortigen nationalen Fragen
zu lösen. Aber dazu muss es gleichen Status und gleiche Würde für alle seine
Völker geben sowie wirtschaftliche und politische Demokratie. Doch dies steht im
Widerspruch zur neokolonialen Logik des Protektorats und der klientelistischen Privatisierung,
die mit der EU und der NATO verbunden sind.
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