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Das Anliegen, zu zentralen gesellschaftlichen
Querschnittsproblemen umfassende Alternativen aufzuzeigen, ist begrüßenswert.
„Eine andere Welt ist möglich": Substantielle Konkretisierungen dieser Parole,
die über Umverteilung hinausgehen und qualitativ den gesellschaftlichen Stoffwechsel
betreffen, verdienen mehr öffentliche Verbreitung und Diskussion. Allerdings sollte es
sich niemand mit dem Gegner zu leicht machen. D.h. beim Thema Autoverkehr, sein
systemrelevantes Gewicht für den Arbeitsmarkt und die Kapitalakkumulation sowie seine
subjektiven Dimensionen ernst zu nehmen.
Im Artikel ist allein von
800000 Beschäftigten in der deutschen Autobranche die Rede. Abgesehen wird von den mit
der Autoproduktion und dem Autoverkehr zusammenhängenden Arbeitsplätzen in
Zulieferbetrieben, in Betrieben für Pkw-Handel (Neukauf und Gebrauchtwagenhandel),
für Reparatur und Wartung, in Tankstellen, in Straßenbau und Verkehrspolizei sowie
in Fahrschulen, Rechtsschutz, Kfz-Versicherung, TÜV, Parkhäusern u.ä. Bei der
in der Diskussion oft anzutreffenden Angabe, ein Siebtel der deutschen Arbeitsplätze
hänge von der Autoindustrie ab, ist unklar, ob es sich um eine zutreffende Zahl oder um
eine Übertreibung der Autolobby handelt.
Auch für den Luftverkehr
gibt der Artikel allein die Zahl von 60000 Beschäftigten in der deutschen
Flugzeugfertigung an. Anders sieht die Arbeitsmarktrelevanz des Luftverkehrs aus, wenn der
Lobbyverband Initiative Luftverkehr „283000 direkte, qualifizierte
Arbeitsplätze” nennt. „In der Luftverkehrsindustrie, bei den
Luftverkehrsgesellschaften, den Verkehrsflughäfen und bei der Flugsicherung. Zusammen mit
den indirekten und induzierten Arbeitsplätzen hängen in Deutschland heute rund
850000 Arbeitsplätze vom Luftverkehr ab” (www.initiative-
luftverkehr.de/perspektiven/index.html).
Das Auto ermöglicht
(wenigstens auf freier Strecke) den Genuss an der Geschwindigkeit, das Erproben und
Bewältigen von Fahrtechnik, das mit dem Fahren verbundene praktische Knowhow usw. Diese
Sinne, Fähigkeiten und Leidenschaften übersteigen die unmittelbare Nützlichkeit
des Autos als Fortbewegungsmittel und betreffen seine Attraktivität als Objekt, an dem
sich Sinne und Fähigkeiten entfalten lassen.
Beim Auto geht es u.a. um die
Freude am kraftvollen Motorengeräusch und um den Genuss am Gleiten. Appleyard schrieb
schon 1969, dass das „Gleiten als Bewegung” durch „das Kontinuierliche,
Mühelose” attraktiv wird und „Das Gleiten” uns Weite” gibt.
„Darum sind gleitende Bewegungen meist erfreulich”
Auch der Kontrast des Autos
zum Zustand des öffentlichen Personen"nah"verkehrs macht es attraktiv. Das Auto
verdankt seine positive Besetzung der durch es möglichen Kontrolle in einer
unkontrollierbaren Umwelt. Die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel befinden sich
gegenwärtig oft in einer ähnlichen Lage wie Versuchstiere, an denen man das Konzept
der „gelernten Hilflosigkeit” ausprobiert. Der private Besitz des Autos erlaubt
demgegenüber eine ständige Verfügbarkeit, das quasi auf seinen Benutzer wartet
und ihm im Gedränge und Gewühl wenigstens eine kleine Welt für sich
ermöglicht.
Zutritt zum Auto haben nur
sein Besitzer und von ihm erwünschte Personen. Es wird mit dem Auto möglich, die
„abgeschlossene Privatexistenz” nicht erst nach den Durststrecken des
öffentlichen Nahverkehrs zu erreichen, sondern „vor der Tür des Arbeitsplatzes
im eigenen Auto sozusagen zu sich selbst kommen zu können und damit schon zu Hause, und
d.h. unabhängig zu sein” (Kob 1966). Im Auto können die Individuen den harten
Wechsel zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit abmildern, langsam die Rollen
wechseln. „Die Abteile der Eisenbahn und die Kabinen der Schiffe wechseln die Menschen
wie die Menschen das Geld, die vier Wände des Autos aber bleiben unser eigen, sie warten
nicht nur auf uns, sie bewahren auch all die Notdürftigkeiten und liebenswürdigen
Dinge, die uns in der Fremde unentbehrlich scheinen” (Hornickel 1968).
Zentral für die
Attraktivität des Autos ist die ihm gesellschaftlich zukommende Eigenschaft als
„Unabhängigkeitsmaschine” (Schönhammer 1991). Die Praxis des
individuellen Autofahrens lädt dazu ein, die mit dem Autofahren notwendigen
Gefährdungssituationen zu verdrängen oder Unfälle schlechten Fahrern
zuzuschreiben. Die imaginäre Selbststärkung durch die mit dem Autofahren verbundenen
Fähigkeiten und Sinne und die mit ihnen verbundenen Kontrollillusionen verbinden sich mit
vielfach bestätigten Befragungsbefunden, „wonach sich mehr als 99% der Fahrer
gegenseitig zumuten, zu den Fahrern mit unterdurchschnittlichem Fahrkönnen zu
gehören, während sich selbst dies weniger als 1% zumuten” (Klebelsberg 1982).
Viele in der Autokultur zur
Geltung kommenden Sinne und Leidenschaften sind vom Mangel an menschlichem Bezug auf andere
Menschen, vom Mangel an Gestaltung einer gemeinsamen Welt und durch die Vorherrschaft
selbstbezogener Empfindungen gekennzeichnet.
Angela Klein schreibt:
„W.Wolf legt großen Wert darauf zu betonen, dass es nicht die Bedürfnisse der
Menschen nach mehr Mobilität und auch nicht der Markt, sondern politische Entscheidungen
sind, die eine Verkehrswende bislang verhindern.” Diese Feststellung mag in dieser
Entgegensetzung zutreffen. Aber warum kommen die „Bedürfnisse” — nun
nicht „der Menschen”, sondern moderner Bürger — im Artikel nicht vor?
Wenn eine „Verkehrswende” absieht von der mit dem Auto in der gegenwärtigen
Gesellschaft verbundenen Freude oder gar Faszination, verbleibt sie im Horizont einer
ökonomischen und politischen Vernünftigkeit, verfehlt aber zentrale ideologische,
psychische und kulturelle Momente, die das Auto erst für viele Autofahrer zu dem machen,
was es heute ist.
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