SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juli 2009, Seite 23

Keine Verkehrswende ohne Überwindung der Autokultur

Betr.: Eine Verkehrswende in Europa, SoZ 6/09

von Meinhard Creydt

Das Anliegen, zu zentralen gesellschaftlichen Querschnittsproblemen umfassende Alternativen aufzuzeigen, ist begrüßenswert. „Eine andere Welt ist möglich": Substantielle Konkretisierungen dieser Parole, die über Umverteilung hinausgehen und qualitativ den gesellschaftlichen Stoffwechsel betreffen, verdienen mehr öffentliche Verbreitung und Diskussion. Allerdings sollte es sich niemand mit dem Gegner zu leicht machen. D.h. beim Thema Autoverkehr, sein systemrelevantes Gewicht für den Arbeitsmarkt und die Kapitalakkumulation sowie seine subjektiven Dimensionen ernst zu nehmen.
Im Artikel ist allein von 800000 Beschäftigten in der deutschen Autobranche die Rede. Abgesehen wird von den mit der Autoproduktion und dem Autoverkehr zusammenhängenden Arbeitsplätzen in Zulieferbetrieben, in Betrieben für Pkw-Handel (Neukauf und Gebrauchtwagenhandel), für Reparatur und Wartung, in Tankstellen, in Straßenbau und Verkehrspolizei sowie in Fahrschulen, Rechtsschutz, Kfz-Versicherung, TÜV, Parkhäusern u.ä. Bei der in der Diskussion oft anzutreffenden Angabe, ein Siebtel der deutschen Arbeitsplätze hänge von der Autoindustrie ab, ist unklar, ob es sich um eine zutreffende Zahl oder um eine Übertreibung der Autolobby handelt.
Auch für den Luftverkehr gibt der Artikel allein die Zahl von 60000 Beschäftigten in der deutschen Flugzeugfertigung an. Anders sieht die Arbeitsmarktrelevanz des Luftverkehrs aus, wenn der Lobbyverband Initiative Luftverkehr „283000 direkte, qualifizierte Arbeitsplätze” nennt. „In der Luftverkehrsindustrie, bei den Luftverkehrsgesellschaften, den Verkehrsflughäfen und bei der Flugsicherung. Zusammen mit den indirekten und induzierten Arbeitsplätzen hängen in Deutschland heute rund 850000 Arbeitsplätze vom Luftverkehr ab” (www.initiative- luftverkehr.de/perspektiven/index.html).
Das Auto ermöglicht (wenigstens auf freier Strecke) den Genuss an der Geschwindigkeit, das Erproben und Bewältigen von Fahrtechnik, das mit dem Fahren verbundene praktische Knowhow usw. Diese Sinne, Fähigkeiten und Leidenschaften übersteigen die unmittelbare Nützlichkeit des Autos als Fortbewegungsmittel und betreffen seine Attraktivität als Objekt, an dem sich Sinne und Fähigkeiten entfalten lassen.
Beim Auto geht es u.a. um die Freude am kraftvollen Motorengeräusch und um den Genuss am Gleiten. Appleyard schrieb schon 1969, dass das „Gleiten als Bewegung” durch „das Kontinuierliche, Mühelose” attraktiv wird und „Das Gleiten” uns Weite” gibt. „Darum sind gleitende Bewegungen meist erfreulich”
Auch der Kontrast des Autos zum Zustand des öffentlichen Personen"nah"verkehrs macht es attraktiv. Das Auto verdankt seine positive Besetzung der durch es möglichen Kontrolle in einer unkontrollierbaren Umwelt. Die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel befinden sich gegenwärtig oft in einer ähnlichen Lage wie Versuchstiere, an denen man das Konzept der „gelernten Hilflosigkeit” ausprobiert. Der private Besitz des Autos erlaubt demgegenüber eine ständige Verfügbarkeit, das quasi auf seinen Benutzer wartet und ihm im Gedränge und Gewühl wenigstens eine kleine Welt für sich ermöglicht.
Zutritt zum Auto haben nur sein Besitzer und von ihm erwünschte Personen. Es wird mit dem Auto möglich, die „abgeschlossene Privatexistenz” nicht erst nach den Durststrecken des öffentlichen Nahverkehrs zu erreichen, sondern „vor der Tür des Arbeitsplatzes im eigenen Auto sozusagen zu sich selbst kommen zu können und damit schon zu Hause, und d.h. unabhängig zu sein” (Kob 1966). Im Auto können die Individuen den harten Wechsel zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit abmildern, langsam die Rollen wechseln. „Die Abteile der Eisenbahn und die Kabinen der Schiffe wechseln die Menschen wie die Menschen das Geld, die vier Wände des Autos aber bleiben unser eigen, sie warten nicht nur auf uns, sie bewahren auch all die Notdürftigkeiten und liebenswürdigen Dinge, die uns in der Fremde unentbehrlich scheinen” (Hornickel 1968).
Zentral für die Attraktivität des Autos ist die ihm gesellschaftlich zukommende Eigenschaft als „Unabhängigkeitsmaschine” (Schönhammer 1991). Die Praxis des individuellen Autofahrens lädt dazu ein, die mit dem Autofahren notwendigen Gefährdungssituationen zu verdrängen oder Unfälle schlechten Fahrern zuzuschreiben. Die imaginäre Selbststärkung durch die mit dem Autofahren verbundenen Fähigkeiten und Sinne und die mit ihnen verbundenen Kontrollillusionen verbinden sich mit vielfach bestätigten Befragungsbefunden, „wonach sich mehr als 99% der Fahrer gegenseitig zumuten, zu den Fahrern mit unterdurchschnittlichem Fahrkönnen zu gehören, während sich selbst dies weniger als 1% zumuten” (Klebelsberg 1982).
Viele in der Autokultur zur Geltung kommenden Sinne und Leidenschaften sind vom Mangel an menschlichem Bezug auf andere Menschen, vom Mangel an Gestaltung einer gemeinsamen Welt und durch die Vorherrschaft selbstbezogener Empfindungen gekennzeichnet.
Angela Klein schreibt: „W.Wolf legt großen Wert darauf zu betonen, dass es nicht die Bedürfnisse der Menschen nach mehr Mobilität und auch nicht der Markt, sondern politische Entscheidungen sind, die eine Verkehrswende bislang verhindern.” Diese Feststellung mag in dieser Entgegensetzung zutreffen. Aber warum kommen die „Bedürfnisse” — nun nicht „der Menschen”, sondern moderner Bürger — im Artikel nicht vor? Wenn eine „Verkehrswende” absieht von der mit dem Auto in der gegenwärtigen Gesellschaft verbundenen Freude oder gar Faszination, verbleibt sie im Horizont einer ökonomischen und politischen Vernünftigkeit, verfehlt aber zentrale ideologische, psychische und kulturelle Momente, die das Auto erst für viele Autofahrer zu dem machen, was es heute ist.

Kontakt und weitergehende Informationen zur angegebenen Literatur: info@meinhard- creydt.de. Siehe auch www.meinhard-creydt.de. Von Meinhard Creydt ist zur Problematik der postmodernen Kultur erschienen: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit, Frankfurt/M. 2000.


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