SoZ - Sozialistische Zeitung |
Er wurde 92 Jahre alt. Seine ethnopsychoanalytischen Bücher, die er zusammen mit seiner
Frau Goldy und seinem Freund Fritz Morgenthaler schrieb, waren in der Studentenbewegung quasi
Pflichtlektüre. In den letzten 15 Jahren veröffentlichte er vor allem Erzählungen.
Antonia Herrscher und ich interviewten ihn im Sommer 2008 über „Jugoslawien” und
die dortige „Partisanenkrankheit”1948 hatte er, der zuvor als Arzt bei den „Tito-
Partisanen” gearbeitet hatte, einen psychiatrischen Bericht über die in Jugoslawien nach
dem Krieg bei demobilisierten Partisanen massenhaft aufgetretene „Partisanenkrankheit”
veröffentlicht. Es war seine erste wissenschaftliche Veröffentlichung und diese Krankheit
bezeichnete er in seinem Aufsatz als hysterische bzw. epileptische „Kampfanfälle”
Sie bedeuteten für ihn das Gegenteil einer „Kriegsneurose": Während diese den
davon Heimgesuchten vor weiteren Fronteinsätzen quasi schützt, legte jene nahe, dass der
oder die an ihr Erkrankte nicht mit dem Kämpfen aufhören kann bzw. will. Das betraf damals
etwa 120000 zumeist junge, ungebildete vom Land stammende Demobilisierte (ein Drittel davon waren
Frauen).
"Die Arbeit als Chirurg bei den Partisanen in Jugoslawien war eine wichtige Erfahrung
für mich”, sagt Paul Parin im dem Interview. „Zunächst während des
Krieges, im Januar 1946 war ich dann noch einmal in Jugoslawien, in Nordbosnien. Das war noch vor
meiner Arbeit als Psychoanalytiker. Die Partisanenkrankheit war dann so interessant,
dass ich alles aufgeschrieben habe.
In Jugoslawien — gegen Ende
des Krieges — waren die Ärzte zunächst ratlos angesichts der plötzlich
massenhaft auftretenden PK: eine ansteckende Epilepsie? Das gibt es doch
nicht! Ein Drittel der Kranken waren Frauen. Die demobilisierten Partisanen, die schon in der
zuvor zusammengestellten Volksbefreiungsarmee gekämpft hatten, waren ratlos — sie
drängten in ihre Einheiten zurück. 90% des Landes waren vom Krieg verwüstet, die
Häuser ihrer Eltern zerstört, und ihre Eltern lebten vielleicht gar nicht mehr. Was
sollten sie machen? Ihr Kampfanfall war auch ein Wunsch. In unserem Spital kam es immer wieder zu
solchen Anfällen — einer umgekehrten Kriegsneurose. Das Spitalpersonal hielt sie fest,
ich habe vorgeschlagen, lasst sie los, aber das ging nicht, sie verletzten sich bei ihren
Anfällen. Besonders hat sich ein jugoslawischer Psychiater namens Klejn um sie gekümmert.
Er hat dann später seine Praxis aufgegeben und ist Regisseur an der Belgrader Oper geworden.
Ich habe einen Briefwechsel mit ihm über die PK geführt — Klejn hat ihren Sinngehalt
genauso gesehen wie ich, auch in Bezug auf die Ansteckung.
Ich arbeitete erst in einem Spital
in Montenegro, dann in einem auf einer Insel nahe Korcula, wo wir bis Februar 1945 in einem
Franziskaner-Internat untergebracht waren. Dann wurde das Spital aufs Festland verlegt — nach
Herzegnowy, wo wir das ehemalige Spital der königlich-jugoslawischen Marine übernahmen.
Ich war der einzige Arzt dort für 660 Schwerverletzte und Typhuskranke. Zur chirurgischen
Assistenz stand mir eine sehr gute Krankenschwester zur Seite. Die Tschetniks hatten ihren Mann und
ihre Kinder erschossen.
Die Partisanenkrankheit ist in
Slowenien, bei slowenischen Partisanen, nicht aufgetreten — es gab dort kein Sexualverbot. Zu
wenig betont habe ich in meinem Artikel darüber, dass die Partisanenkrankheit ideologisch
vorgebildet war — in Form von Trancezuständen. In Nordbosnien wurden die Töchter
verheiratet. Wenn der Braut der Mann nicht gepasst hat, bekam sie „Zustände”, um
der Ehe auszuweichen — bis ein Mann ausgesucht wurde, der ihr gepasst hat. Das habe ich nicht
damals gewusst. Wahrscheinlich ist die Partisanenkrankheit dort entstanden. Schließlich waren
80000—120000 junge Leute praktisch geisteskrank."
Die Partisanenkrankheit war zuvor
auch schon von Nadeshda Mandelstam beobachtet worden: Sie fuhr mit ihrem Mann 1922 nach Suchumi
— auf dem Schiff befanden sich viele demobilisierte Leichtverwundete, die aus dem
Bürgerkrieg zurückkehrten, und ständig kam es unter ihnen zu solchen
„Kampfanfällen”
Zuletzt berichtete Ursula Hauser in
Gesprächen mit Paul Parin von ähnlichen Symptomen. Sie hatte in Costa Rica ein
psychoanalytisches Institut aufgebaut und in Nikaragua Miskito-Indianer behandelt. Diese waren
früher von wiedertäuferischen Brüdergemeinen beeinflusst worden, hatten ansonsten
jedoch derart isoliert gelebt, dass sie sich primär durch Inzest vermehrten. Ihr Stamm wurde
dann in zwei Teile geteilt: die einen schlossen sich den Sandinistas an, die anderen den Contras.
Nach Beendigung der Kämpfe kam es unter ihnen ebenfalls zu einer „ansteckenden
Neurose” — ähnlich der Partisanenkrankheit.
Wenn man Paul Parin folgt, dann hatte das rigide partisanische Sexualtabu in Jugoslawien —
mit der Ausnahme von Slowenien — zur Folge, dass nach dem Krieg dort die
„Partisanenkrankheit” epidemische Ausmaße annahm. Dabei bekamen die ehemaligen
Kämpfer plötzlich massenhaft hysterische Kampfanfälle: „In früheren
Kriegen hatten Kriegsneurosen stets den verborgenen Sinn, einem unerträglichen Geschehen zu
entrinnen ... Bei Jugoslawiens Partisanen war es umgekehrt. Vielen war es unmöglich, den Kampf
aufzugeben.” Es wurden deswegen Spezialkliniken dafür eingerichtet — jugoslawische
Ärzte begannen mit der Erforschung dieser im Gegensatz zur „Kriegsneurose” bis
dahin unbekannten Krankheit.
Von „Ansteckung” redet
auch Roger Caillois in seinem Buch Méduse & Cie, in dem es um die „Mimese”
geht, die er als tierisches Pendant zur menschlichen Mode begreift. Beides gründet sich
für ihn „auf eine undurchsichtige Ansteckung” Gilles Deleuze und Félix
Guattari sprechen bei der Banden-, Meuten- und Schwarmbildung von „Ansteckung”, insofern
es dabei um ein „Werden” geht. Dieses kommt durch Bündnisse zustande: „Werden
besteht gewiss nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren; es ist auch
kein Regredieren-Progredieren mehr; es bedeutet nicht mehr, zu korrespondieren oder korrepondierende
Beziehungen herzustellen; und es bedeutet auch nicht mehr, zu produzieren, eine Abstammung zu
produzieren oder durch Abstammung zu produzieren. Werden ist ein Verb, das eine eigene Konsistenz
hat; es lässt sich auf nichts zurückführen und führt uns weder dahin, zu
scheinen noch zu sein. Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung
geschieht. So wie beim Vampir — der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt."
Dies scheint mir, bei allem Respekt
vor marxistischen (politökonomischen) Analysen, auch für die 68er-Studentenbewegung zu
gelten, die sich u.a. in Frankreich und Italien mit den Arbeitern verbündete. Es gab kaum ein
Land auf der Welt, das nicht von dieser Protestbewegung erfasst worden wäre. Und das geschah
eben auf dem Wege der Ansteckung: über die Protest-Formen, -Moden, -Musiken, ihre mediale
Verbreitung und durch direkten Kontakt mit den Protestierenden selbst.
Wissenschaftlich kann es so etwas
wie eine „ansteckende Neurose” nicht geben, dennoch kennen wir solche Phänomene
schon seit langem: im Mittelalter die Veitstänze und in den 60er Jahren die Hysterien der
Beatlesfans. Sogar bei frühen Sartre-Auftritten war es zu solchen hysterischen Ohnmachten
gekommen. Daneben gilt das Lachen, aber auch das Gähnen, als ansteckend — nicht einmal
Hunde können sich dem entziehen.
Um während der
Studentenbewegung die Ansteckungsgefahr zu bannen, d.h. die Revolte an der Ausbreitung zu hindern,
setzten die konservativen Kräfte in den meisten Ländern auf die heilsame Wirkung von
Polizeiknüppeln. In der Protestbewegung selbst wusste man jedoch, dass gerade die
Polizeiknüppel auf Demonstrantenschädel eine bewusstseinserweiternde Wirkung hatten
— sogar auf unbeteiligte Fernsehzuschauer. Erst 20 Jahre später und nach dem
„Zusammenbruch des Sozialismus” trauten sich Politiker wieder, die „68er”
für alle Übel dieser Welt verantwortlich zu machen: Bei Tony Blair und Nicolas Sarkozy war
dies sogar Teil ihres Regierungsprogramms. Auch die Universitätspräsidenten beeilten sich
landauf landab, „die letzten Folgen von 68 zu beseitigen”, wie sie lauthals
verkündeten. Die nächste Protestpest wird umso gewisser sein. Zumal es bis jetzt noch
keinerlei Forschung darüber gibt, wie die Ansteckung wirklich erfolgt — geschweige denn,
wie man sie im Keim ersticken kann.
Durchgesetzt hat sich seitdem jedoch die andere Seite — mit einer anderen Begrifflichkeit:
Als die US-Soldaten nach dem Vietnamkrieg nach Hause kamen, wurden sie von der kriegsmüden und
in der Haltung zum Krieg gespaltenen Bevölkerung nicht gerade freudig empfangen. Sie
organisierten sich und gründeten die gewerkschaftsähnliche Organisation der Vietnam
Veterans. Mit ihrer Lobbyarbeit gelang ihnen 1980 die Anerkennung und damit Etablierung der PTSD
— „Post-Traumatic-Stress-Disorder” (posttraumatischen Belastungsstörung)
— durch die American Psychiatric Association. „Die PTSD-Diagnose bedeutete eine
Würdigung ihrer psychologischen Leiden”, schrieb die Soziologin Eva Illuoz.
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