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Die Große Koalition war eine naht- und geräuschlose
Fortsetzung der Politik der vorangegangen rot-grünen Koalition. Ihre
„Leistungen” sind verheerend.
Die große Koalition von
2005—2009 war keine Wunschkoalition. Die Sozialdemokraten wollten mit Schröder und
Fischer die rot-grüne Koalition der vorangegangenen Jahre fortsetzen, die CDU wollte
gemeinsam mit der FDP an die bleierne Zeit der Kohl-Ära anknüpfen. Durch den Einzug
der Linkspartei in den Bundestag reichte es jedoch weder für eine schwarz-gelbe, noch
für eine rot-grüne Mehrheit.
Zum zweiten Mal in der
bundesdeutschen Geschichte kam es deshalb zu einer „Großen Koalition” von SPD
und CDU. Die erste Große Koalition von 1966—1969 fiel mit dem Aufbruch der 68er
Jahre zusammen; am Ende stand ein Linksrutsch der Gesellschaft — sowohl parlamentarisch
als auch außerparlamentarisch. Trotz Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und
Lohndumping ist am Ende der zweiten Großen Koalition ein vergleichbarer Aufbruch nicht in
Sicht.
Die CDU kündigte im Wahlkampf 2005 die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16% auf
18% an. Mehrwertsteuererhöhung schlägt voll auf die Gebrauchsgüter um und
trifft damit immer in erster Linie die finanziell Schwachen. Ein gefundenes Wahlkampfthema
für die SPD: „Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Nicht in nächster Zeit
und nicht in der kommenden Legislaturperiode” (Franz Müntefering, Sächsische
Zeitung, 19.August 2005) war eine ihrer zentralen Wahlaussagen.
Eine der ersten Maßnahmen
der Großen Koalition war dann die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19%. Kompromisse
sind in der Politik sicher manchmal nötig. Warum aber der Kompromiss zwischen 16% und 18%
bei 19% liegt, bleibt ein sozialdemokratisches Geheimnis. Aber wie sagte Franz
Müntefering: „Es ist unfair, Politiker an ihren Wahlversprechen zu messen."
Diese Entscheidung sollte
richtungsweisend für die Große Koalition sein.
Insgesamt verabschiedeten die Abgeordneten in der letzten Legislaturperiode etwa 600
Gesetze. Eines der Gesetze mit den nachhaltigsten Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der
meisten Menschen ist das „RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz” (Rente mit 67), das am
30.3.2007 gegen heftigen Widerstand in der Bevölkerung mit den Stimmen von SPD und CDU
beschlossen wurde.
Angesichts der Lage auf dem
Arbeitsmarkt bedeutet das Gesetz eine drastische Rentenkürzung. Altersarmut wird in den
nächsten Jahren dramatisch zunehmen. Wieder war es Franz Müntefering, der das Gesetz
gegen Kritik aus den Gewerkschaften und Seniorenverbänden verteidigte: „Darauf sind
wir auch stolz”, erklärte er mit Bezug auf die beschlossene Absenkung des
Rentenniveaus auf 46% bis 2020.
Der Kernpunkt bei der Einführung der Hartz-Gesetze durch die rot-grüne
Bundesregierung war die Rechtsumkehr gewesen: Galt bis dahin prinzipiell, dass Erwerbslose
Versicherungs- und Qualifikationsschutz hatten und es die Aufgabe der Gesellschaft war,
ausreichend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, so hat sich das mit
Einführung von Hartz IV grundlegend geändert. Erwerbslosigkeit wird auf Versagen des
Einzelnen zurückgeführt, Aufgabe der „Arbeitsagenturen” und ARGEn ist
es, die Erwerbslosen zu „motivieren”, zu „fördern” und zu
„fordern” Der Rahmen der Hartz-Gesetze ermöglicht es jeder Bundesregierung,
entsprechend den Kapitalinteressen und unter Berücksichtigung der politischen Stimmung
die Schrauben fester anzuziehen.
Das sog. Hartz-IV-
Fortentwicklungsgesetz aus dem Jahre 2006 war so eine weitere Umdrehung an der Hartz-Schraube:
Arbeitslose müssen fortan beweisen, dass sie nicht in eheähnlicher Gemeinschaft
leben. Einer beispiellosen Schnüffelpraxis wurde damit Tür und Tor geöffnet:
Zwei Weingläser am Bett können nun Grund für die Kürzung der ALG-II-
Bezüge sein.
Zum 1.Januar 2007 wurde
nochmals weiter gedreht: Eine „Stallpflicht” für junge Erwerbslose bis 25
Jahre wurde eingeführt: Sie bekommen nur noch 80% des ALG II und müssen bei ihren
Eltern wohnen. Zudem wurde das Sanktionsinstrumentarium bei „Pflichtverletzungen”
deutlich ausgebaut, Kürzungen bis zu 100% der Leistungen wurden möglich.
Die von Rot-Grün eingeführten und von der Großen Koalition
„fortgesetzten” Hartz-Gesetze stellen nicht nur eine schwere Verletzung der
Menschenrechte dar, sie wirken auch fatal auf das Lohngefüge aller abhängig
Beschäftigten. Unter der Großen Koalition hat sich ein beispielloser
Niedriglohnsektor entwickelt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des
„Instituts für Arbeit und Qualifikation” der Uni Duisburg-Essen kam zu dem
Ergebnis, dass Niedriglöhne in Deutschland stark ansteigen.
Gleichzeitig stieg die
durchschnittliche Wochenarbeitszeit, während der Krankenstand bei den Beschäftigten
auf ein Rekordtief gesunken ist. Die Angst vor Hartz IV wirkt als verinnerlichte Peitsche.
Deutschland gehört mittlerweile in puncto Arbeitsbedingungen vom Standpunkt der
Lohnabhängigen zum Schlusslicht vergleichbarer europäischer Länder.
Der rot-grüne Militarisierungsschub durch die Beteiligungen an den Kriegen gegen
Jugoslawien (1999), Afghanistan (2001) und den Irak (2003) wurde unter der Großen
Koalition systematisch fortgesetzt. Die Zahl der in Afghanistan stationierten Soldaten wurde
von 2500 auf 4500 erhöht. Weitere Militäreinsätze, wie im Kongo oder an der
somalischen Küste, wurden beschlossen. Der „Verteidigungsetat” stieg laut
Spiegel unter der Großen Koalition von 24 auf 31,2 Mrd. Euro.
In den Jahren 2004—2008
stiegen laut SIPRI die deutschen Rüstungsexporte im Vergleich zu den Jahren
1999—2003 um 70%. Deutschland ist zum drittgrößten Rüstungsexporteur der
Welt geworden.
Mit der 2007
eingeführten, verfassungsrechtlich umstrittenen, Vorratsdatenspeicherung wurde die
gesamte Bevölkerung in Deutschland unter einen terroristischen Generalverdacht gesetzt:
Die Anbieter von Telekommunikationsdienstleitungen sind verpflichtet, sämtliche
Kommunikationsvorgänge der Nutzerinnen zu speichern, ohne dass ein Anfangsverdacht oder
konkrete Hinweise auf Gefahren bestehen.
Ein zentraler Meilenstein der Regierung Merkel war die Durchsetzung des sogenannten
Lissabon-Vertrags als Ersatz für den in Frankreich und den Niederlanden per Referendum
abgelehnten Verfassungsvertrag. Angela Merkel spielte dabei auf europäischer Ebene eine
Schlüsselrolle und wurde dafür mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet.
Am 24.April stimmte der
Bundestag — nur wenige Tage nachdem eine konsolidierte Fassung des Vertragswerk
überhaupt vorlag — mit den Stimmen der ganz großen Koalition (SPD, CDU, FDP
und Grüne) für den Vertrag — er stellt auf Jahrzehnte hinaus die
europäischen Leitplanken in Richtung Militarisierung und Neoliberalismus. Das
Bundesverfassungsgericht urteilte, das vom Bundestag beschlossene Begleitgesetz zum
Lissabonvertrag verstoße gegen die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat. Eine
Neufassung des Begleitgesetzes soll noch in dieser Legislatur durchpeitscht werden.
Zu den weitreichendsten Beschlüssen der Großen Koalition gehört zweifellos
das Bankenrettungspaket Ende 2008 in Höhe von 500 Mrd. Euro.
Hintergrund dieser
gigantischen Subventionierung des Bankenwesens auf Kosten der Allgemeinheit war die massive
Finanzkrise aufgrund des jahrelang aufgeblähten Spekulationssektors — nicht zuletzt
bedingt durch die Einführung von Hedge-Fonds, Swaps und anderen hochriskanten
Finanzprodukten im Rahmen des „Fi-
nanzmarktmodernisierungsgeset-
zes”, das am 1.1.2004
durch die ganz große Koalition von SPD, CDU, FDP und Grünen beschlossen wurde.
Mit dem Bankenrettungspaket,
dessen Tragweite noch nicht abzusehen ist, wird die öffentliche Hand auf Jahrzehnte
belastet. Die ungedeckten Schecks, die binnen kürzester Zeit in unvorstellbarer Höhe
ausgestellt wurden, werden nach der Bundestagswahl bei der Bevölkerung eingelöst
werden — egal ob von einer schwarz-gelben oder einer erneuten Großen Koalition.
Steuererhöhungen, weitere soziale Einschnitte und die Belastung der kleinen und mittleren
Einkommen werden die Folge sein.
Trotz all dieser Gesetze, die sich gegen die Bevölkerungsmehrheit richten, ist eine
Wende nach der Bundestagswahl nicht in Sicht. Die einzige Opposition im Bundestag, DIE LINKE,
wird durch regelmäßige Medienkampagnen, meist genährt durch den eigenen rechten
Flügel, stabil bei 10% gehalten. Die sozialen Bewegungen sind in den letzten beiden
Jahren abgeflaut. Angstdiskurse, wie die Warnungen vor „sozialen Unruhen”, vor
vermeintlichen Terroristen oder vor der „Schweinegrippe”, sollen die
Aufmerksamkeit ablenken.
Die Große Koalition war
eine naht- und geräuschlose Fortsetzung der Politik der vorangegangen rot-grünen
Koalition. Es ist zu erwarten, dass die gleiche Politik ebenso naht- und geräuschlos nach
dem 27.September fortgesetzt wird, ob von Schwarz-Gelb, einer Großen Koalition oder von
„Jamaika” Diese „Übel” unterscheiden sich lediglich in ihrer
gesellschaftlichen Wirkung. Es sind allesamt unterschiedlich wirkende große Übel.
Eine Linksverschiebung wie am
Ende der ersten Großen Koalition 1966 bis 1969 ist angesichts des Festhaltens von SPD und
Grünen an der Kriegspolitik und ihrer neoliberalen Ausrichtung nicht in Sicht.
Entscheiden wird sein, wieviel Druck von links ausgeübt wird — parlamentarisch und
außerparlamentarisch.
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