SoZ - Sozialistische Zeitung |
Ein Gespenst geht um auf dem Globus: die „neue
Influenza”, fälschlicherweise — aber höchst werbewirksam —
suggestiv „Schweinegrippe” genannt. Nähme man den Hype, der in den letzten
Monaten darum veranstaltet wird, ernst, müsste man meinen, der schwarze Tod des
Mittelalters, die Pest, sei in Gestalt eines mutierten Grippevirus wiedergekehrt.
Die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) jedenfalls scheint diese Meinung zu vertreten. Sie hat
Pandemiealarm ausgelöst. Allerdings musste sie, um dies tun zu können, zu einem
Kunstgriff Zuflucht nehmen. Nach der bisherigen Definition von „Pandemie”, die die
WHO seinerzeit selbst aufgestellt hat, wäre für die Ausrufung einer solchen
erforderlich, dass es sich dabei um eine weltweit in bestimmtem Ausmaß auftretende
Erkrankung mit hoher Sterblichkeit handelt.
Doch alle epidemiologischen
Daten belegen, dass das völliger Nonsens ist. Die neue Virusvariante unterscheidet sich
weder hinsichtlich der Ansteckungsgefahr, noch der Virulenz des Erregers noch der Sterberate
wesentlich von der altbekannten Influenza A, die uns alle Jahre wieder heimsucht.
Um es auch für
Nichtmediziner verständlich auszudrücken: Es handelt sich um eine banale
Grippeerkrankung, die ebenso gefährlich oder ungefährlich ist wie alle anderen auch.
Denn was die meisten Menschen ebenfalls nicht wissen: Es gibt um die 200 verschiedene Viren,
die eine Grippe auslösen können. Dass immer nur von den Influenzaviren geredet wird,
hat den schlichten Grund, dass (bisher) mit den anderen Erregern kein Geschäft zu machen
ist.
Fakt ist: Nur etwa 7% der
Influenzafälle werden tatsächlich von Influenza-Viren der bisher gängigen
Varianten oder der die derzeitige Hysterie hervorbringenden Variante ausgelöst. Die
restlichen 93% stammen von verschiedenen anderen Erregern, z.B. den sogenannten Rhinoviren,
von denen einige den „echten” Grippeviren in ihrer Gefährlichkeit um nichts
nachstehen. Folglich kann man auch gar nicht exakt sagen, wieviele der geschätzten
10000—30000 Todesfälle, die von den jährlich wiederkehrenden Grippewellen in
Deutschland gefordert werden, auf welche Virenstämme zurückzuführen sind. Die
WHO weiß das natürlich auch, deshalb hat sie, ohne Begründung und ohne
großes Aufhebens, das Kriterium der „hohen Sterblichkeit” Anfang Mai 2009
flugs aus ihrer Definition gestrichen.
Für die Pharma- und
Impfstoffindustrie ist die „neue Influenza” ebenso eine echte Bonanza wie für
diverse Forschungsinstitute, die direkt und eng mit der ersteren zusammenarbeiten. In den USA
sollen 160 Millionen, in Deutschland 50 Millionen Menschen geimpft werden — ein
Milliardengeschäft, die Impfstoffe sind schon bestellt.
Darüber hinaus werden
Virustatika wie Oseltamivir (Handelsname: Tamiflu) in einem Ausmaß staatlicherseits
gebunkert, dass die Pillenmaschinen heißlaufen. Die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen
ist ebenso anzuzweifeln wie ihre Wirksamkeit.
Im Moment weiß niemand,
ob der jetzt in Produktion befindliche Impfstoff überhaupt einen nennenswerten Schutz
bieten wird. Genaues wird man bestenfalls im nächsten Jahr wissen. Hinzukommt, dass die
Grippeimpfung gerade bei den Gruppen — Alte, Kinder, chronisch Kranke — denen sie
bevorzugt angeboten wird, grundsätzlich ausgesprochen schlecht wirkt.
Und ungefährlich ist sie
auch nicht unbedingt: 1976 kam es zu einem lokalen Ausbruch einer neuen Virusvariante bei US-
Soldaten in Fort Dix, New Jersey. Die US-Gesundheitsbehörden starteten ein
Impfstoffproduktionsprogramm und eine öffentliche Kampagne, bis Mitte Dezember 1976 waren
40 Millionen US-Amerikaner geimpft — damals die größte Impfkampagne der
Geschichte. Anschließend wurde bekannt, dass einige Geimpfte ein sog. Guillain-
Barré-Syndrom entwickelt hatten. Für diese ausgesprochen folgenreiche Erkrankung,
bei der es sich um ein Autoimmunphänomen handelt, bei dem der Körper Antikörper
gegen die eigenen Nervenzellen entwickelt, werden auch Impfstoffe verantwortlich gemacht;
schon in den 50er Jahren wurde in den USA ein Impfstoff deswegen vom Markt genommen.
Was Tamiflu betrifft, waren
nach den eigenen Untersuchungen der WHO über 90% der Erreger der herkömmlichen
Influenza in der letzten Grippesaison gegen das Mittel resistent. Einmal abgesehen davon, dass
bei diesem Medikament erhebliche Nebenwirkungen auftreten können, insbesondere bei
Kindern: Oseltamivir (Tamiflu) kann bei ihnen Bewusstseinsstörungen und Wahnvorstellungen
zur Folge haben.
Nach Prüfung von mehr als
100 Fällen von abnormem Verhalten, darunter drei mit tödlichen Folgen, haben sich
Gesundheitsexperten in den USA dafür ausgesprochen, auf der Verpackung die
Überwachung von Tamiflu-Patienten zu empfehlen. Aus Untersuchungen des Epidemiologen Tom
Jefferson, der bei der industrieunabhängigen Cochrane Collaboration beschäftigt ist,
geht hervor, dass Tamiflu allenfalls in der Lage ist — wenn es denn überhaupt wirkt
— die Erkrankungsdauer um einen Tag (!) zu verkürzen.
Jefferson hat denn auch in
einem Interview mit dem Spiegel deutlich Stellung bezogen: Als er gefragt wurde, warum trotz
dieser Fakten so hysterisch reagiert werde, antwortete er trocken, diese Frage müsse man
nicht ihm, sondern der Pharmaindustrie stellen.
Bei denen, die die Hysterie
jetzt schüren, handelt es sich schlicht um Geschäftemacher: Für die 1,6 bis 3
Millionen Menschen, die jedes Jahr weltweit an Tuberkulose sterben, und die 1,5—2,7
Millionen, die an Malaria sterben — an Krankheiten also, die gut zu behandeln und zu
verhindern wären, von den 8,8 Millionen, die jährlich Hungers sterben, ganz zu
schweigen — gibt es keine gigantischen Sofortprogramme, keine Vorratshaltung an
Medikamenten, keine kostenlosen Massenimpfungen, keine Forschungsgelder in annähernd
vergleichbarer Höhe.
Aber an den Leuten ist ja auch
nichts zu verdienen.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |