SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2009, Seite 07

Die NATO in Afghanistan

"Nicht fähig, dauerhaft Sicherheit zu gewährleisten"

Ein Beitrag von Oberstleutnant Jürgen Heiducoff

Jürgen Heiducoff ist Oberstleutnant der Bundeswehr und war Militärpolitischer Berater an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kabul. Wir entnehmen seinen Beitrag, den wir in Auszügen bringen, der Webseite des Arbeitskreises Darmstädter Signal (www.darmstaedter-signal.de).
Der Krieg der USA und der NATO in Afghanistan geht bald ins achte Jahr. Dieser Krieg dauert bereits länger als der Zweite Weltkrieg und als der Vietnamkrieg. Allein in diesem Jahr sind über einhundert amerikanische Soldaten und viele hundert unbeteiligte Zivilisten in Afghanistan ums Leben gekommen.
Deutschland ist von Anfang an dabei, betrachtet diesen militärischen Einsatz jedoch offiziell nicht als Krieg. Für die Afghanen gibt es keinen Unterschied, wie der einzelne Staat sein militärisches Engagement in ihrer Heimat definiert. Zunehmend betrachten sie die Vorgehensweise als die von Besatzern.
Deshalb richtet sich ihr Widerstand auch gegen die westlichen Truppen im Norden des Landes ebenso wie gegen die Amerikaner oder Briten im Süden. Militärpatrouillen werden in Hinterhalten angegriffen, Aufständische überfallen Distriktzentren nebst Polizeistation und behaupten, sie hätten den Distrikt erobert. Tags darauf müssen sie meist der konzentrierten Übermacht oder der Gewalt der Luftangriffe weichen.
Die Aufstandsbewegung kontrolliert die meisten Teile des Landes nicht wirklich, aber man kann ihre zunehmende Flexibilität und Bewegungsfreiheit nicht leugnen. Deshalb können sie auch in Gebieten zuschlagen, wo niemand mit ihnen rechnet. Ihr Einflussbereich reicht bis an die Stadtgrenzen Kabuls heran, zum Teil in die Stadt hinein. Dies zeigt weniger die Stärke der Aufständischen, sondern vor allem die Schwäche der afghanischen Exekutive, der Armee, der Polizei, der Justiz und der gesamten Verwaltung.
Die NATO-Schutztruppe ISAF ist nicht fähig, dauerhaft und flächendeckend Sicherheit für die Bevölkerung und für den Wiederaufbau zu gewährleisten. Dazu stehen gemessen an der Größe und Unzugänglichkeit des Landes viel zu wenige Truppen zur Verfügung. Dieser Mangel an Bodentruppen und Sicherheitspersonal in der Fläche wird kompensiert mit einer Flotte sehr flexibel einsetzbarer Kampfflugzeuge und -hubschrauber, die über modernste Waffen und Führungssysteme verfügen. Diesem Potenzial haben die Aufständischen nichts entgegenzusetzen.

Karsai-Regierung diskreditiert

Die Aufständischen sind nicht mit den Taliban der 90er Jahre und auch nicht mit der Terrororganisation Al Qaeda gleichzusetzen. Sie rekrutieren sich hauptsächlich aus den Söhnen der vernachlässigten und verarmten paschtunischen Bauern, die keine Perspektive im Lande Karzais sehen. Sie haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft unter der gegebenen Machtkonstellation verloren. Sie haben keine Zeit, weitere Jahre zu warten, bis der Einfluss der Zentralregierung bis in ihre Lebenssphäre reichen wird. Ihre Familien würden verhungern. Sie verstehen die Politik der Zentralregierung und der internationalen Gemeinschaft nicht. Wie sollten sie dies auch, wurden doch ihre Dörfer regelmäßig immer wieder bombardiert? Sie hatten in der Masse bisher auch keine Sympathien für die radikalislamischen Taliban.
Oft wird gefragt, inwieweit die Aufständischen Rückhalt in der Bevölkerung haben. Ein überwältigender Teil der Bevölkerung möchte die radikalislamische Talibanherrschaft nicht zurück. Da es aber vielen Menschen heute nicht besser geht als unter den Taliban und da die Korruption auf allen Ebenen der Regierung und Verwaltung unüberschaubar ist, haben sie das Vertrauen dauerhaft verloren. Zudem geraten große Teile der Bevölkerung „zwischen die Fronten” Viele Dörfer wechseln ihre Zugehörigkeit zwischen den Einflussbereichen der Zentralregierung und der Aufständischen.
In den letzten Monaten verzeichnen wir leider einen ansteigenden Zulauf afghanischer Bevölkerungsgruppen, die bisher das internationale Engagement in Afghanistan toleriert haben, in die Arme der radikalislamischen Taliban. Dies birgt die Gefahr in sich, dass sich der Volksaufstand weiter ausweitet und eine Nationale Befreiungsbewegung entstehen könnte.
Dem kann nur entgegengewirkt werden, indem ein echter Versöhnungsprozess eingeleitet wird. Teile der bewaffneten Opposition könnten nach tadschikischem Vorbild in neu zu schaffende Verwaltungsstrukturen auf zentraler und regionaler Ebene integriert werden — Mitte der 90er Jahre konnte dort durch die gelungene Integration der bewaffneten Opposition der Bürgerkrieg beendet werden.

Gewalt des Westens

Die bisher ständig zunehmende unverhältnismäßige militärische Gewalt beim Einsatz der westlichen Truppenkontingente, vor allem die immer wieder zu beklagenden zivilen Opfer, stellte den Hauptgrund für den Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Karzai — Administration dar. Nächtliche Hausdurchsuchungen, die Verletzung von Tradition und Ehre der Familie, willkürliche Festnahmen, schnelle Anwendung der Schusswaffen in unklaren Situationen auf öffentlichen Straßen und Plätzen sind einige der Gründe, warum sich große Teile der Bevölkerung gegen die ausländische Truppenpräsenz wandten. Dazu kamen die immer häufigeren Luftangriffe vor allem durch US-Kampfbomber gegen Stellungen der Aufständischen, die sich zum Teil auch in den Dörfern befanden. Die dabei kaum zu verhindernden Tötungen und Verletzungen von Zivilisten schürten ein weiteres Anwachsen des Hasses gegen alle fremden Truppen.
Die propagandistische Nachbereitung der Vorfälle mit zivilen Verlusten widerspiegelt sich teilweise auch in unseren Medien. Der Hass wurde künstlich geschürt, indem afghanische Armee oder Polizei die Leichen des Feindes zum Teil zu Hunderten der Öffentlichkeit „präsentierte” Auch ein Krieg rechtfertigt nicht alle Mittel! Viele getötete Zivilisten wurden im Verlaufe der Arbeit von Untersuchungskommissionen den Aufständischen zugeordnet, da sie bewaffnet gewesen seien oder weil man Waffen in ihrem Haus gefunden habe.
Aber — die Paschtunen tragen Waffen oder haben diese zu Hause — seit Jahrhunderten. Dies gehört zur Ehre eines paschtunischen Mannes. Wenn allein die Tatsache des Waffenbesitzes die Zugehörigkeit zu den Aufständischen bestimmt, dann sind alle Paschtunen Rebellen und dann gibt es keine Zivilisten unter den Paschtunen. Ein solcher Ansatz zöge jedoch die Frage des Völkermords nach sich.
Dazu kommt der Unmut gegen schlechte Regierungsfähigkeit der durch die Zentralregierung eingesetzten Gouverneure, Distriktchefs, Bürgermeister (Maliks) oder Polizeichefs. Vor allem die Polizei, aber auch die afghanische Nationalarmee, werden als Macht- und Gewaltinstrumente der Zentralregierung wahrgenommen.
Westliche Militärs versuchen die durch sie verursachten zivilen Verluste damit zu entschuldigen, dass die Aufständischen Zivilisten als menschliche Schutzschilder benutzen. Wie auch anders? Die Aufständischen sind Angehörige dieser Zivilisten, der Familien in der Region. Wohin soll denn der Bauernsohn nach der Ausführung eines Anschlages oder nach der Teilnahme an einem Feuergefecht fliehen, wenn nicht in den Hof der eigenen Familie? Dies ist doch den Militärs der NATO oder der US-geführten Koalitionstruppen bestens bekannt. Wenn sie dennoch bombardieren, ist es folgerichtig, dass sie den Tod von Zivilisten bewusst in Kauf nehmen. Und eben dies ist nicht hinnehmbar!
Was geschähe, würde man Piloten nach ihrem Einsatz gegen Dörfer ihren Opfern gegenüber stellen? Nicht gemeint sind die Todesopfer, die manchmal in den Medien zahlenmäßig erwähnt werden. Gemeint sind die verstümmelten Frauen, Kinder und Alten, die unendlichen Schmerzen und Leid ausgesetzt sind. Wie würde diese Gegenüberstellung von Tätern und Opfern ausgehen? Denken die hoch qualifizierten Spezialisten am Steuerknüppel, die zum Teil eine akademische Ausbildung haben, überhaupt über die Resultate mancher ihrer Einsätze nach? Ist dies eine noch zu bändigende Kriegsmaschine? Sind den Generalen und Offizieren, die für die Operationsplanung Verantwortung tragen, manche Konsequenzen ihrer Operationen klar? Bleiben die Militärs im politischen und völkerrechtlichen Rahmen? Haben die Politiker noch ein reales Lagebild? Ich weiß, dass man viele dieser Fragen verneinen muss.
Wenn die aufständischen Paschtunen keine ernst zu nehmende Gefahr für die demokratischen Staaten des Westens darstellen, stellt sich die Frage, warum wir uns militärisch engagieren und welche wirklichen Ziele die westliche Politik in Afghanistan verfolgt.


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