SoZ - Sozialistische Zeitung |
Jürgen Heiducoff ist Oberstleutnant der Bundeswehr und war
Militärpolitischer Berater an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kabul. Wir
entnehmen seinen Beitrag, den wir in Auszügen bringen, der Webseite des Arbeitskreises
Darmstädter Signal (www.darmstaedter-signal.de).
Der Krieg der USA und der NATO
in Afghanistan geht bald ins achte Jahr. Dieser Krieg dauert bereits länger als der
Zweite Weltkrieg und als der Vietnamkrieg. Allein in diesem Jahr sind über einhundert
amerikanische Soldaten und viele hundert unbeteiligte Zivilisten in Afghanistan ums Leben
gekommen.
Deutschland ist von Anfang an
dabei, betrachtet diesen militärischen Einsatz jedoch offiziell nicht als Krieg. Für
die Afghanen gibt es keinen Unterschied, wie der einzelne Staat sein militärisches
Engagement in ihrer Heimat definiert. Zunehmend betrachten sie die Vorgehensweise als die von
Besatzern.
Deshalb richtet sich ihr
Widerstand auch gegen die westlichen Truppen im Norden des Landes ebenso wie gegen die
Amerikaner oder Briten im Süden. Militärpatrouillen werden in Hinterhalten
angegriffen, Aufständische überfallen Distriktzentren nebst Polizeistation und
behaupten, sie hätten den Distrikt erobert. Tags darauf müssen sie meist der
konzentrierten Übermacht oder der Gewalt der Luftangriffe weichen.
Die Aufstandsbewegung
kontrolliert die meisten Teile des Landes nicht wirklich, aber man kann ihre zunehmende
Flexibilität und Bewegungsfreiheit nicht leugnen. Deshalb können sie auch in
Gebieten zuschlagen, wo niemand mit ihnen rechnet. Ihr Einflussbereich reicht bis an die
Stadtgrenzen Kabuls heran, zum Teil in die Stadt hinein. Dies zeigt weniger die Stärke
der Aufständischen, sondern vor allem die Schwäche der afghanischen Exekutive, der
Armee, der Polizei, der Justiz und der gesamten Verwaltung.
Die NATO-Schutztruppe ISAF ist
nicht fähig, dauerhaft und flächendeckend Sicherheit für die Bevölkerung
und für den Wiederaufbau zu gewährleisten. Dazu stehen gemessen an der
Größe und Unzugänglichkeit des Landes viel zu wenige Truppen zur
Verfügung. Dieser Mangel an Bodentruppen und Sicherheitspersonal in der Fläche wird
kompensiert mit einer Flotte sehr flexibel einsetzbarer Kampfflugzeuge und -hubschrauber, die
über modernste Waffen und Führungssysteme verfügen. Diesem Potenzial haben die
Aufständischen nichts entgegenzusetzen.
Die Aufständischen sind nicht mit den Taliban der 90er Jahre und auch nicht mit der
Terrororganisation Al Qaeda gleichzusetzen. Sie rekrutieren sich hauptsächlich aus den
Söhnen der vernachlässigten und verarmten paschtunischen Bauern, die keine
Perspektive im Lande Karzais sehen. Sie haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft unter der
gegebenen Machtkonstellation verloren. Sie haben keine Zeit, weitere Jahre zu warten, bis der
Einfluss der Zentralregierung bis in ihre Lebenssphäre reichen wird. Ihre Familien
würden verhungern. Sie verstehen die Politik der Zentralregierung und der internationalen
Gemeinschaft nicht. Wie sollten sie dies auch, wurden doch ihre Dörfer
regelmäßig immer wieder bombardiert? Sie hatten in der Masse bisher auch keine
Sympathien für die radikalislamischen Taliban.
Oft wird gefragt, inwieweit
die Aufständischen Rückhalt in der Bevölkerung haben. Ein
überwältigender Teil der Bevölkerung möchte die radikalislamische
Talibanherrschaft nicht zurück. Da es aber vielen Menschen heute nicht besser geht als
unter den Taliban und da die Korruption auf allen Ebenen der Regierung und Verwaltung
unüberschaubar ist, haben sie das Vertrauen dauerhaft verloren. Zudem geraten große
Teile der Bevölkerung „zwischen die Fronten” Viele Dörfer wechseln ihre
Zugehörigkeit zwischen den Einflussbereichen der Zentralregierung und der
Aufständischen.
In den letzten Monaten
verzeichnen wir leider einen ansteigenden Zulauf afghanischer Bevölkerungsgruppen, die
bisher das internationale Engagement in Afghanistan toleriert haben, in die Arme der
radikalislamischen Taliban. Dies birgt die Gefahr in sich, dass sich der Volksaufstand weiter
ausweitet und eine Nationale Befreiungsbewegung entstehen könnte.
Dem kann nur entgegengewirkt
werden, indem ein echter Versöhnungsprozess eingeleitet wird. Teile der bewaffneten
Opposition könnten nach tadschikischem Vorbild in neu zu schaffende Verwaltungsstrukturen
auf zentraler und regionaler Ebene integriert werden — Mitte der 90er Jahre konnte dort
durch die gelungene Integration der bewaffneten Opposition der Bürgerkrieg beendet
werden.
Die bisher ständig zunehmende unverhältnismäßige militärische
Gewalt beim Einsatz der westlichen Truppenkontingente, vor allem die immer wieder zu
beklagenden zivilen Opfer, stellte den Hauptgrund für den Vertrauensverlust der
Bevölkerung in die Karzai — Administration dar. Nächtliche Hausdurchsuchungen,
die Verletzung von Tradition und Ehre der Familie, willkürliche Festnahmen, schnelle
Anwendung der Schusswaffen in unklaren Situationen auf öffentlichen Straßen und
Plätzen sind einige der Gründe, warum sich große Teile der Bevölkerung
gegen die ausländische Truppenpräsenz wandten. Dazu kamen die immer häufigeren
Luftangriffe vor allem durch US-Kampfbomber gegen Stellungen der Aufständischen, die sich
zum Teil auch in den Dörfern befanden. Die dabei kaum zu verhindernden Tötungen und
Verletzungen von Zivilisten schürten ein weiteres Anwachsen des Hasses gegen alle fremden
Truppen.
Die propagandistische
Nachbereitung der Vorfälle mit zivilen Verlusten widerspiegelt sich teilweise auch in
unseren Medien. Der Hass wurde künstlich geschürt, indem afghanische Armee oder
Polizei die Leichen des Feindes zum Teil zu Hunderten der Öffentlichkeit
„präsentierte” Auch ein Krieg rechtfertigt nicht alle Mittel! Viele
getötete Zivilisten wurden im Verlaufe der Arbeit von Untersuchungskommissionen den
Aufständischen zugeordnet, da sie bewaffnet gewesen seien oder weil man Waffen in ihrem
Haus gefunden habe.
Aber — die Paschtunen
tragen Waffen oder haben diese zu Hause — seit Jahrhunderten. Dies gehört zur Ehre
eines paschtunischen Mannes. Wenn allein die Tatsache des Waffenbesitzes die
Zugehörigkeit zu den Aufständischen bestimmt, dann sind alle Paschtunen Rebellen und
dann gibt es keine Zivilisten unter den Paschtunen. Ein solcher Ansatz zöge jedoch die
Frage des Völkermords nach sich.
Dazu kommt der Unmut gegen
schlechte Regierungsfähigkeit der durch die Zentralregierung eingesetzten Gouverneure,
Distriktchefs, Bürgermeister (Maliks) oder Polizeichefs. Vor allem die Polizei, aber auch
die afghanische Nationalarmee, werden als Macht- und Gewaltinstrumente der Zentralregierung
wahrgenommen.
Westliche Militärs
versuchen die durch sie verursachten zivilen Verluste damit zu entschuldigen, dass die
Aufständischen Zivilisten als menschliche Schutzschilder benutzen. Wie auch anders? Die
Aufständischen sind Angehörige dieser Zivilisten, der Familien in der Region. Wohin
soll denn der Bauernsohn nach der Ausführung eines Anschlages oder nach der Teilnahme an
einem Feuergefecht fliehen, wenn nicht in den Hof der eigenen Familie? Dies ist doch den
Militärs der NATO oder der US-geführten Koalitionstruppen bestens bekannt. Wenn sie
dennoch bombardieren, ist es folgerichtig, dass sie den Tod von Zivilisten bewusst in Kauf
nehmen. Und eben dies ist nicht hinnehmbar!
Was geschähe, würde
man Piloten nach ihrem Einsatz gegen Dörfer ihren Opfern gegenüber stellen? Nicht
gemeint sind die Todesopfer, die manchmal in den Medien zahlenmäßig erwähnt
werden. Gemeint sind die verstümmelten Frauen, Kinder und Alten, die unendlichen
Schmerzen und Leid ausgesetzt sind. Wie würde diese Gegenüberstellung von
Tätern und Opfern ausgehen? Denken die hoch qualifizierten Spezialisten am
Steuerknüppel, die zum Teil eine akademische Ausbildung haben, überhaupt über
die Resultate mancher ihrer Einsätze nach? Ist dies eine noch zu bändigende
Kriegsmaschine? Sind den Generalen und Offizieren, die für die Operationsplanung
Verantwortung tragen, manche Konsequenzen ihrer Operationen klar? Bleiben die Militärs im
politischen und völkerrechtlichen Rahmen? Haben die Politiker noch ein reales Lagebild?
Ich weiß, dass man viele dieser Fragen verneinen muss.
Wenn die aufständischen
Paschtunen keine ernst zu nehmende Gefahr für die demokratischen Staaten des Westens
darstellen, stellt sich die Frage, warum wir uns militärisch engagieren und welche
wirklichen Ziele die westliche Politik in Afghanistan verfolgt.
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