SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2009, Seite 08

Hartz-IV-Sanktionen aussetzen

Ein breites Bündnis fordert die Beseitigung der Missstände in den JobCentern

von Jochen Gester

Mitte August hat ein Bündnis aus Politik, Wissenschaft und Erwerbsloseninitiativen einen Aufruf zur Aussetzung der Hartz-IV-Sanktionen vorgestellt, der von über hundert namhaften Personen und Organisationen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen unterzeichnet wurde.
Die Initiatoren umreißen die gesellschaftliche Situation von Erwerbslosen, die zu diesem Aufruf geführt hat: „Jeden Monat wird in diesem Land zigtausenden Erwerbslosen mit Sanktionen das Existenzminimum gekürzt oder sogar gestrichen, weil sie Forderungen der JobCenter nicht erfüllt haben oder weil ihnen dies unterstellt wird. Im Jahr 2008 wurden über 780000 derartige Sanktionen verhängt. Ist schon der rigide Hartz-IV-Sanktionsparagraf mehr als problematisch, so führt die katastrophale Personalsituation in den JobCentern zu einer Praxis, die für die Betroffenen unzumutbar ist. Von den 2008 eingelegten Widersprüchen gegen Sanktionen waren 41% ganz oder teilweise erfolgreich, von den eingereichten Klagen 65%. Die Auswirkungen von Sanktionen werden dadurch verschärft, dass Widersprüche keine aufschiebende Wirkung haben, d.h. die Menschen müssen, auch wenn sie letztlich nach gerichtlicher Kontrolle Recht bekommen, unter den Sanktionen leiden."
Um diese Praxis im Sinne der Betroffenen zu verändern, fordern die Unterzeichner des Aufrufs ein Ende der Praxis der Arbeitsagenturen, durch Sanktionen das Existenzminimum zu beschneiden und „Arbeit um jeden Preis und zu jedem Preis” zuzuweisen. Auch wenden sie sich gegen das „ehrgeizige Ziel”, im Krisenjahr 2009 die existenzsichernden Leistungen um 3% zu senken und gleichzeitig die Vermittlungsquote zu erhöhen. Das werde nur funktionieren, wenn die Annahme ausbeuterischer Beschäftigungsverhältnisse gesteigert wird.
Dagegen stellt der Aufruf die Forderung nach einem Sanktionsmoratorium, über dessen Reichweite und Begründung die Meinungen jedoch auseinandergehen: „In der Frage, ob die Hartz-IV-Sanktionen grundsätzlich gegen Grundrechte verstoßen, haben wir, die Erstunterzeichner, unterschiedliche Auffassungen. Wir sind uns aber darin einig, dass angesichts der gegenwärtigen Zustände in den JobCentern der Vollzug von Sanktionen sofort gestoppt werden muss. Es ist dringend notwendig, die Missstände in den JobCentern, die bislang in ihrem Ausmaß zu wenig bekannt sind, offen zu legen, für deren Beseitigung zu sorgen und den gegenwärtigen Sanktionsparagrafen grundlegend zu überdenken. Während dessen dürfen Erwerbslose nicht den derzeit verbreiteten Sanktionspraktiken ausgesetzt werden. Ein sofortiges Moratorium, ein Aussetzen des Sanktionsparagrafen, ist deshalb notwendig."
Zweifellos ein Verdienst der Initiative ist es, hier ein gesellschaftliches Bündnis hergestellt zu haben, das über die organisierte politische Linke hinausgeht und Bündnispartner bis hinein in die Mitte der Gesellschaft ins Boot holt. Dies ist eine wirkliche Leistung, die politische und soziale Fähigkeiten dokumentiert und Anerkennung verdient. Offen bleibt die Frage, welche Dynamik die verschiedenen Unterzeichner in ihren gesellschaftlichen Milieus darüber hinaus entfalten können, um die herrschende große Koalition neoliberaler Arbeitsmarktpolitik tatsächlich ins Wanken zu bringen. Dafür kann jeder und jede durch Unterzeichnung und Verbreitung des Aufrufs beitragen. Auch lässt sich der Aufruf nutzen, um die Agenda-2010-Parteien im Wahlkampf damit zu konfrontieren.
Der Aufruf wurde verfasst von der Erwerbslosenorganisation Tacheles e.V. (Wuppertal), Klaus Dörre (Friedrich-Schiller- Universität Jena), Franziska Drohsel (Juso-Bundesvorsitzende), Jürgen Habich (Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen — Gegen Einkommensarmut und Ausgrenzung e.V.), Katja Kipping (MdB LINKE), Markus Kurth (MdB Grüne), Stephan Lessenich (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Claus Offe (Hertie School of Governance), Franz Segbers (Universität Marburg), Helga Spindler (Universität Duisburg-Essen) und der AG Sanktionen der Berliner Kampagne gegen Hartz IV.


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang