SoZ - Sozialistische Zeitung |
Im Juni dieses Jahres demonstrierten und streikten
Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit Studierenden für eine andere Ausrichtung
der Bildungspolitik. Die Beteiligung an den Protesten war enorm und hat die Erwartungen weit
überstiegen.
Offensichtlich ist es den
Initiatoren des „Bildungsstreiks” gelungen, die sich seit Jahren zuspitzenden
Probleme so zu artikulieren, dass sich ein erheblicher Teil der Betroffenen den Protesten
anschließen konnte und wollte. Die breite Mobilisierung konnte zumindest für eine
partielle Politisierung genutzt werden.
Der
„Bildungsstreik” wurde lange im Voraus geplant: von Aktivistinnen und Aktivisten,
Studierenden- und Schülervertretungen, Verbänden und Gewerkschaften. Anders als
seine Vorläufer 1989 (UNiMUT), 1997 (Lucky Streik) und die Anti-Gebühren-Proteste um
das Jahr 2003 ist er nicht aus spontanem Anlass entstanden — dadurch haben sich neue
organisatorische Perspektiven eröffnet. Zum einen gelang es erheblich besser, Studierende
sowie Schülerinnen und Schüler gemeinsam zu Protesten zu mobilisieren und ein
breites Bündnis zu schmieden. Zum anderen wurde der Streik terminiert — er begann
überall mehr oder minder zeitgleich — und zeitlich auf eine Woche befristet. Damit
wurde ein langsames Absterben der Aktivitäten — etwa wegen beginnender Ferienzeiten
oder wegen des drohenden Verlusts eines Semesters (Prüfungszeit), wie es bei
Studierendenprotesten in der Vergangenheit immer zu beobachten war — verhindert. Die
Befristung auf eine Woche war insofern ein Zugeständnis an die Realität der
zunehmenden Anwesenheitspflichten und erhöhten Prüfungsdichte. Denn wie groß
der Anteil der Betroffenen ist, die trotz zeitlicher Verzögerungen bis zum
Studienabschluss bereit wären zu protestieren, ist zumindest unklar.
Worum aber ging es beim „Bildungsstreik"? Es ist kaum möglich, eine
einheitliche Linie für alle Streikveranstaltungen herauszudestillieren, dennoch lassen
sich einige Themen erkennen, die sich als eine Art roter Faden durch die Proteste zogen. Zum
einen ging es um eine Entschleunigung der Bildungsprozesse. In den vergangenen Jahren war die
Beschleunigung des Bildungswegs ein zentrales Thema auf der politischen Agenda. Was 1997 in
Baden-Württemberg mit Studiengebühren für Langzeitstudenten begann, setzte sich
verschärft in den folgenden Jahren fort: Das Abitur nach 12 Schuljahren erhöhte den
Druck in der Schule; die Reform der Studiengänge mit dem Ziel, den Bachelor zum
Regelabschluss zu machen, verschärfte die Situation an den Hochschulen. Mit der
Verkürzung der Lernzeit sollte eine schnellere
„Beschäftigungsfähigkeit” der Absolventen erreicht werden, da diese beim
Studienabschluss im internationalen Vergleich angeblich zu alt — und daher nicht
„wettbewerbsfähig” — wären.
Die Verkürzung der
Lernzeit wurde jedoch keineswegs für qualitative Reformen genutzt, in den seltensten
Fällen wurden Lehrpläne einer grundlegenden Revision unterzogen, wie es notwendig
wäre. Die Chance, tatsächlich über Bildungsinhalte zu entscheiden und die
Lernzeit vom gewünschten Inhalt abzuleiten, wurde mit „Bologna” nicht
wahrgenommen. Es galt vielmehr nur, den gleichen Stoff in weniger Zeit zu vermitteln, damit
das Alter der Absolventen sinkt.
Neben der Forderung nach
Entschleunigung war das grundsätzliche Recht auf Bildung ein weiterer zentraler
Bestandteil der Proteste. Entgegen den Möglichkeiten im Rahmen des Bologna-Prozesses sind
die herkömmlichen Probleme des Bildungssystems, insbesondere die hohe soziale
Segregation, nicht angegangen worden. Im Gegenteil: Es wurden keinerlei Regelungen getroffen,
die den Master für alle Bachelor-Absolventen offen halten — geschweige denn,
für beruflich qualifizierte Menschen. Stattdessen wird zweierlei erreicht: Erstens werden
weitere Selektionshürden in das System eingezogen, und zweitens wird der Druck auf die
Studierenden erhöht, weil sie schon ab dem ersten Semester vor allem auf Noten und
weniger auf die Inhalte von Bildung achten müssen, wenn sie eine Zulassung zu einem
Master-Studium erreichen wollen.
Dieser Druck wird durch
Studiengebühren weiter erhöht, da die Studierende dadurch angehalten werden, schnell
ihr Bildungszertifikat zu erwerben. Das Betreiben zusätzlicher wissenschaftlicher
Arbeiten oder auch außer(lehr-)
planmäßiger,
kritischer Lesekreise bleibt auf der Strecke, denn das kostet Zeit — und die kostet
Studiengebühren, Semester für Semester. Daneben ist durch die Ausweitung der
Zulassungsbeschränkungen der Druck in die Schulen vorverlagert worden, da die Zulassung
an die Hochschule immer schwieriger wird — mehr als jeder zweite Bachelor ist bereits
zulassungsbeschränkt.
Neben dem formalen Recht auf
Bildung ging es den Streikenden auch inhaltlich um das Recht, sich Wissen aneignen zu
können und nicht ständig zwischen Anwesenheitspflicht, Prüfungsstress und dem
Zwang zu guten Noten zerrieben zu werden; sie wollten ihre Bildung nicht auf das Erlangen von
Zertifikaten durch stumpfes Auswendiglernen reduziert sehen. Diese Interessen einten
Schüler und Studierende.
Mit der Forderung nach Entschleunigung und Verwissenschaftlichung stellen sich die
Protestierenden gegen die aktuelle Politik und machen es den Herrschenden schwer, die Proteste
zu vereinnahmen. Der „Lucky Streik” wurde von der Bundesregierung und der
Opposition verbal noch stark unterstützt — wenngleich natürlich keiner an der
Misere Schuld tragen wollte. Dieses Mal sprach Bundesministerin Schawan von
„gestrigen” Protesten. Hatten die Protestierenden 1997 vor allem die schlechte
Ausstattung der Bildungseinrichtungen beklagt, ansonsten jedoch in ihrer Mehrzahl
signalisiert, dass sie schnell studieren wollten, so waren diesmal die Grundfesten fast aller
Bildungsreformen der vergangenen Jahre berührt: Es soll nicht immer um Schnelligkeit,
sondern um Bildung im weiteren Sinn gehen, also um die Inhalte.
Man mag es zum Teil falsch
finden, dass sich die Streikenden nicht differenziert mit dem Bologna-Prozess und den
Möglichkeiten desselben befassten. Insgesamt ist die Stoßrichtung jedoch genau
richtig, und sie bringt eine Problemlage zum Ausdruck, die seit Jahren ungelöst ist und
durch die vergangenen Reformen eher verschärft wurde. Die Streikenden machten darauf
aufmerksam, dass ein bildungspolitischer Kurswechsel her muss, wenn die soziale Selektion
überwunden, der verkürzte und pervertierte Praxisbegriff korrigiert und Bildung als
solche wieder in den Mittelpunkt gestellt werden soll — mit einem sinnvollen
Praxisbezug, der sich eben nicht auf „Beschäftigungsfähigkeit”
reduziert.
Dem „Bildungsstreik” droht — trotz der hohen Beteiligung — das
Schicksal seiner Vorgänger. Sicher: Es wird zu Korrekturen kommen, und konservative
Professoren sehen ihre Chance zur Restauration des Status quo ante gekommen. Trotz aller
verbalen Unterstützung von SPD und Grünen zielt deren Politik auf das Gegenteil: Die
Föderalismusreformen haben zunächst dem Bund den Gestaltungsspielraum genommen, dann
den Ländern über die sog. „Schuldenbremse” Investitionen in die
Bildungsinstitutionen quasi untersagt.
Von der herrschenden Politik
ist also kein Umdenken zu erwarten, daher muss es darum gehen, sich auf die
Auseinandersetzungen im Herbst einzustellen. Nach der Bundestagswahl werden die ersten
Sparpakete kommen, und Bildung wird ein Feld sein, in dem gespart werden wird. Wenn der
„Bildungsstreik” dazu beigetragen hat, dass sich die Studierenden und Schüler
nicht darauf einlassen, Sozial- gegen Bildungsausgaben auszuspielen, sondern klar Position
beziehen für eine andere Logik der Organisation von Bildung, dann wäre er ein
wirklicher Erfolg, an den es anzuknüpfen gilt.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |