SoZ - Sozialistische Zeitung |
Schweres Zugunglück, Zugentgleisung wegen einem gebrochenen
Rad, Verwendung unzulässigen Materials beim Achsbau, Missachtung der Auflagen der
Aufsichtsbehörden, Dauerstörungen im Betriebsablauf und jetzt noch die einstweilige
Einstellung des Bahn-Verkehrs auf einer wichtigen Teilstrecke: Hier ist nicht die Rede vom
ICE, sondern von der Berliner S-Bahn.
Denn der Börsengang der
DB AG geht ganz rabiat auch auf Kosten des öffentlichen Nahverkehrs. 150 Jahre lang war
die Berliner S-Bahn der Inbegriff der Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit des
Transportsystems einer Millionenstadt. Nicht einmal die deutsche Spaltung konnte sie
außer Funktion setzen. auf dem inneren Ring, der nach der Wende 15 Jahre lang mit
erheblichen Kosten wieder „geschlossen” worden ist. Das scheint nur dem
Kapitalismus zu gelingen.
Die Bahnsteige sind voll, die
Fahrgäste genervt: Sie warten auf die S-Bahn. Doch die kommt nicht mehr im 5- oder 10-
Minuten-Takt sondern höchstens noch alle 20 Minuten. Einige Linien sind ganz eingestellt
und man muss auf Busse ausweichen. Die Sache beherrscht die Schlagzeilen der Zeitungen und in
die abendlichen Fernsehnachrichten. Und doch wird nicht gestreikt, eher demonstriert.
Der Vorstand der Deutschen
Bahn AG demonstriert an der Berliner S-Bahn auf eindrucksvolle Weise, was es heißt, sich
für den Börsengang zu schmücken, indem ein öffentliches Unternehmen zur
Veräußerung an Private zurecht gemacht wird. Ein Leserbrief an den Tagesspiegel
brachte es auf den Punkt: „Nur um an die Börse gehen zu können, wurden
Werkstätten geschlossen, Fachleute entlassen, intakte Züge geschreddert, die
Signaltechnik vernachlässigt, das Fahrpersonal reduziert. Kurz: Der Betrieb wurde auf
Verschleiß gefahren."
Das Aufhübschen der
Börsenbraut hat über 1000 S-Bahn-Beschäftigte den Arbeitsplatz gekostet. Diese
Kollegen fehlen, um einen sicheren Betrieb aufrechtzuerhalten. Hieraus erwachsen nicht nur
Gefahren, es ist bereits zu Unglücken gekommen.
Am 16.April gab es ein
schweres Zugunglück im Bahnhof Berlin-Karow, ein Personenzug fuhr auf einen Güterzug
auf, der mit 24 Waggons brennbarer Flüssigkeit beladen war; glücklicherweise
gerieten sie nicht in Brand. Nach Aussagen von Lokführern haben Mängel in der
Signal- und Sicherungstechnik das Unglück zumindest begünstigt.
Als am 1.Mai ein vollbesetzter
Zug der S-Bahn-Linie 5 im Bahnhof Kaulsdorf wegen eines gebrochenen Rads entgleiste, griff das
Eisenbahnbundesamt ein und verpflichtete die S-Bahn, die Räder alle 7 Tage zu
überprüfen und grundsätzlich nach 1,2 Millionen Kilometern zu ersetzen.
Unabhängig davon fanden
Eisenbahner durch eigene Recherchen heraus, dass der Stahl von S-Bahn-Achsen aus Stoffen
bestand, die die Bundesanstalt für Materialforschung als für Eisenbahnachsen nicht
sicher erklärt hatte. Beim Belastungstest erwies sich eine Achse bereits nach 45000 km
als schrottreif. Dabei ist die Vorgabe von 1,2 Millionen Kilometern schon ein
fragwürdiges Entgegenkommen; internen Messungen des Bundesamts zufolge müssten die
Räder eigentlich schon nach der Hälfte der Strecke, nach 650000 Kilometern
ausgetauscht werden.
Der Vorstand der Deutschen
Bahn AG, die Eigentümerin der S-Bahn ist, war jedoch der Ansicht, er könne die
Mahnungen der Behörde einfach ignorieren, er hielt sie wohl für
„geschäftsschädigend” Er hielt sich nicht an die Auflagen und versuchte
obendrein, das Ganze durch falsche Angaben zu vertuschen.
Das ging dem Eisenbahnbundesamt schließlich zu weit, es zog die Notbremse. Es
verordnete die Stilllegung von 100, später insgesamt 252 Waggons, weil sie das
Wartungsintervall überschritten hatten — das führte unmittelbar zu einem
Verkehrschaos. Ein Notbetrieb wurde eingerichtet. Auch wurde nicht ausgeschlossen, dass die
Aufsichtsbehörde den Betrieb vorübergehend komplett einstellen lässt.
Spätestens jetzt war
klar, dass der Aufsichtsrat der S-Bahn schadensbegrenzend tätig werden musste. Er
wechselte die vierköpfige Geschäftsleitung der S-Bahn aus, in der Hoffnung, durch
ein solches Bauernopfer selber aus der Schusslinie zu kommen. Denn nicht die
Geschäftsleitung der S-Bahn, sondern die Spitze der Bahn AG hat in den letzten Jahren
ihrer Tochter Auflagen zur Gewinnabführung gemacht, die buchstäblich an die Substanz
gehen mussten. Die Berliner S-Bahn musste jährlich 87 Millionen Euro Gewinn an die DB-
Mutter abführen; im Jahr 2010 sollten es sogar 125 Millionen Euro werden.
Auch dieser Zusammenhang blieb
nicht verborgen und wird öffentlich diskutiert. Der BR-Vorsitzende der S-Bahn, Heiner
Wegener, sagt dazu: „Es ist einfach absurd, den Nahverkehr als Teil der DB AG an die
Börse bringen zu wollen. Sie können keinen Profit mit dem öffentlichen
Personennahverkehr erwirtschaften. Wir haben die Verpflichtung, die Mobilität der
Bevölkerung zu gewährleisten. Wenn das nicht mehr oberster Grundsatz ist, sondern
die Profitmaximierung, dann kann das nicht funktionieren. Die Börsenpläne der Bahn
sind wirklich absoluter Schwachsinn. Die Politik hat sie beschlossen und ist damit dafür
verantwortlich, dass unser Unternehmen an die Wand gefahren wurde."
Auch die verkehrspolitische
Sprecherin der Partei DIE LINKE Berlin forderte das DB-Management auf, den „Kurs des
Auspressens der Berliner S-Bahn zugunsten eines Börsengangs der Deutschen Bahn zu
beenden”
Doch für die Aufgabe des Börsengangs bedarf es anderer Gewichte. Der Bund, der
letztlich der Eigentümer und damit auch der letztlich Verantwortliche für das
Desaster ist, hält an den Börsenplänen fest und stützt die
Geschäftspolitik der Bahn AG. Die Berliner SPD-Senatorin Junge-Reyer hat der S-Bahn jetzt
mit Kürzung der Senatszahlungen bis zu 12 Mio. Euro für nicht erbrachte
Transportleistungen gedroht — das spricht Bände darüber, wie wenig sich die
öffentliche Hand für ihr Eigentum und ihren Dienstleistungsauftrag verantwortlich
fühlt. Besser würde sie der DB AG die Rechnung ausstellen. Der Berliner Senat will
die S-Bahn in diesem Jahr mit 232 Mio. Euro bezuschussen.
Auf einer
Mitarbeiterversammlung im Betriebswerk Schöneweide, das ebenfalls auf der Abschussliste
steht, hat sich am 14.Juli die neue Geschäftsleitung vorgestellt. Sie hat sich auf
keinerlei Zusagen in Richtung einer Revision des bisherigen Kurses festlegen lassen. So
jedenfalls sahen es die meisten von der Abendschau befragten Eisenbahner. Sie hatten den S-
Bahn-Aufsichtsratschef, Hermann Graf von der Schulenburg, mit einem Pfeifkonzert empfangen und
ihn mehrfach zum Rücktritt gefordert.
In der Belegschaft wächst
anscheinend die Erkenntnis, dass auch die Beschäftigten verstärkte Anstrengungen
unternehmen müssen, die Öffentlichkeit für sich und den Erhalt der Berliner S-
Bahn zu gewinnen. Mitarbeiter der S-Bahn haben ein „Kommuniqué” an die
Fahrgäste verteilt. Darin schreiben sie u.a.:
"Wir, die Mitarbeiter der
Berliner S-Bahn, bitten unsere Fahrgäste, angesichts des eingeschränkten
Bahnverkehrs zu unterscheiden zwischen uns Mitarbeitern und dem nur an einer Gewinnmaximierung
ausgerichteten Management der S-Bahn Berlin GmbH. Wir haben in den letzten Jahren mit dem
Verlust Hunderter Arbeitsplätzen, mit zunehmender Flexibilisierung unserer Arbeitszeiten,
sowie mit ständigen Produktivitätserhöhungen bereits einen hohen Preis für
den Privatisierungskurs des Bahnkonzerns gezahlt. Wir fordern die Deutsche Bahn AG als
Gesellschafter der S-Bahn Berlin GmbH auf, für das skrupellose und fahrlässige
Verhalten der von ihr bestellten Geschäftsführer die Verantwortung zu
übernehmen. Das Auswechseln von Führungskräften reicht nicht aus. Der Kurs der
DB AG muss sich ändern. Wir erwarten vom Senat von Berlin und von der Bundesregierung als
Eigentümer der DB AG, den Privatisierungskurs der Bahn zu stoppen. Ein Börsengang,
sowie die Ausschreibung von Verkehrsleistungen an andere Konzerne, dient weder den Interessen
der Bahnkunden an einem sicheren und pünktlichen Zugverkehr, noch unseren Interessen am
Erhalt der Arbeitsplätze und unserer sozialen Standards.” (Kontakt: S-Bahn-
Mitarbeiter.web.de.)
Aus der Belegschaft gibt es aber auch Kritik an der bisherigen Politik des Betriebsrats.
Mitarbeiter werfen ihm vor, er habe die Restrukturierung der S-Bahn im Sinne der
Konzernvorgaben zu lange mitgestaltet. Ein S-Bahner formulierte die Kritik im Mitarbeiterforum
so:
"Die Ausgliederung aller
Fachbereiche bei der S-Bahn wurden über Jahre hinweg vorbereitet. So ist es nun ein
Leichtes, die Bahnsteigpersonale zu DB-Station-Service, die Fahrdienstleiter zu DB-Netz, die
Werkstattpersonale zur DB Fahrzeuginstandhaltung GmbH und die Fahrpersonale in das inzwischen
neu gegründete Gemeinschaftsunternehmen von DB-Regio und DB-Schenker für
Triebfahrzeugführer auszugliedern. Wird diese Ausgliederung in Zusammenarbeit mit den
Betriebsräten vorbereitet, dann können wir uns nicht nur auf einen weiteren Einbruch
im S-Bahn Verkehr einstellen, sondern auch auf den Zusammenbruch der S-Bahn als Unternehmen.
Solange nicht alle Zahlen auf dem Tisch liegen und uns alle geheimen Gespräche des
Betriebsrats mit der Geschäfts- und Gesellschafterführung bekannt sind, werden wir
weder Vertrauen, noch ein Engagement aufkommen lassen können. Verharren wir weiter in der
Untätigkeit, werden wir als Mitarbeiter früher oder später vor vollende
Tatsachen gestellt werden, die wir dann zu (er)tragen haben. Es sei denn, wir schaffen es als
Mitarbeiter, aus unserer Leichenstarre zu erwachen und unsere Ziele zu definieren. Durch
unsere Jahrzehnte langen Erfahrungen im Eisenbahnbetrieb wissen wir, wie eine S-Bahn
funktionieren kann und sollte. Jeder ist ein Fachexperte an seinem Arbeitsplatz. Unsere
Berufserfahrung und unser Fachwissen ist der Grundstein für einen Neuanfang. Wollen wir
die Erfahrungen der Rechenexperten oder unser Fachwissen für einen Neuanfang nutzen? Wir
haben die Antwort durch unsere tägliche Arbeit in der Hand. Nutzen wir sie lieber im
Interesse der Fahrgäste und in unserem Interesse, bevor wir wieder für die
Gewinnerwartungen des DB-Konzern benutzt werden."
Das Eisenbahnbundesamt hat die
Stilllegung in der Zwischenzeit verschärft. Die S-Bahn-Linien im inneren Ring sind
eingestellt. Nur durch massive Aushilfe durch die BVG und die Anmietung von Regionalzügen
aus der ganzen Republik kann der völlige Zusammenbruch des S-Bahn-Verkehrs verhindert
werden.
Mittlerweile gehen die
Verantwortlichen davon aus, dass ein Normalbetrieb vor Dezember nicht möglich sein wird.
Ein Zeitungskommentator spottete: „Alle Räder stehen still, weil Mehdorn an die
Börse will.” Es wird Zeit, dass der Geisterzug in Richtung Börse von der
Schiene kommt.
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