SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2009, Seite 11

Frankreich:

Gewerkschaft vertreibt Sans-Papiers

von Willi Hajek

Arbeiter ohne Papiere haben am 24.Juni das Gewerkschaftshaus der CGT in Paris besetzt.
Vermummt, mit Stöcken und Tränengas bewaffnet, passte der Ordnertrupp der CGT den Moment ab, in dem die Mehrheit der Besetzer des Gewerkschaftshauses, allesamt ohne Papiere, auf einer Demonstration war. Dann stürmte er den Innenhof des Gewerkschaftshauses, um die dort verbliebenen Frauen und Männer zu vertreiben. Er wurden jedoch von der schnellen Reaktion der zumeist aus Mali kommenden Besetzer überrascht: Die verbarrikadierten sich im großen Versammlungssaal und bewarfen die Vermummten mit Stühle und anderem Mobiliar.
Schließlich mussten die Sans-Papiers das Gebäude doch räumen, auf der Straße erwarteten sie Polizeitrupps und hinderten sie an der Rückkehr ins Gebäude. Einige verletzte Sans-Papiers mussten ins Krankenhaus gebracht werden. Nach ihrer Vertreibung wurde die Straße vor dem Gewerkschaftshaus besetzt. Die Nachricht der Räumung machte die Runde, schnell formierte sich eine breite Unterstützungsaktion für die Sans-Papiers.
In den 90er Jahren begannen sich in Frankreich die Sans-Papiers, Einwanderer ohne Aufenthaltspapiere, zu organisieren. Breitere Öffentlichkeit erhielten sie, als sie die Kirche St.Bernard in Paris besetzten und der damalige Staatspräsident Jacques Chirac im Ferienmonat August die Kirche gewaltsam räumen ließ. Die bisher verdeckt arbeitenden „Papierlosen” erhielten jetzt ein Gesicht. Ganz offen erklärten sie auf der Straße und in den Medien: „Ja, ich bin eine Papierlose und ich arbeite seit Jahren daran, den Reichtum hier im Lande zu steigern, bezahle Steuern und Versicherungen, zumeist mit dem Ausweis einer Bekannten oder Freundin oder eines Wohnheimnachbarn."
Nach der Räumung durch die Staatspolizei fanden viele Sans-Papiers Schutz in Gewerkschaftsbüros, besonders bei der Eisenbahnergewerkschaft Sud-Rail, aber auch bei der CGT. Ihre damalige Sprecherin, Madjiguène Cissé, wurde auf dem CGT-Kongress 1996 begeistert empfangen. Das war der Beginn der ersten Phase der Bewegung der Sans-Papiers.
Die zweite Phase begann 2007, als Gewerkschaftsgruppen der CGT, von Sud-Solidaires und der anarcho-syndikalistischen CNT anfingen, mit Sans-Papiers, die in Betrieben beschäftigt waren, zusammenzuarbeiten.
Eine Gruppe von CGT- Mitgliedern um Raymond Chauveau in Massy, südlich von Paris, bereitete 2007 die ersten Streiks von Sans-Papiers vor; sie führten dazu, dass die Streikenden schnell ihre Papiere bekamen. Damit setzte eine Organisierungsbewegung ein. Viele Sans-Papiers traten der CGT bei. Es gab Besetzungen und Streiks am Arbeitsplatz, besonders auf Baustellen, in Luxushotels und vor Zeitarbeitsfirmen.
Am 1.Mai 2008 demonstrierten Hunderte zumeist afrikanische Sans-Papiers-Beschäftigte in den verschiedenen Gewerkschaftsblöcken und machten ihre Bewegung sichtbar.
Die Bezirksleitung der CGT beschloss jedoch sofort, die Anzahl der Anträge auf Legalisierung, die der Präfektur vorgelegt wurden, zu begrenzen. Gleichzeitig lösten die ersten Streiks und Aktionen eine Dynamik unter den Migranten in der Arbeiterklasse aus. Tausende wollten der Gewerkschaft beitreten. Die CGT versuchte, den Ansturm und die Erwartungen der Migranten zu bremsen. In einem ersten Schritt sollte es nur um eine begrenzte Anzahl von streikenden Sans-Papiers gehen, zählbare Resultate sollten erzielt werden.
Neben diesen Aktionen, die von den Gewerkschaften unterstützt und teilweise mit vorbereitet wurden, gab es aber auch Gruppen von Sans-Papiers, in denen sich einzelne Beschäftigte organisierten, die zwar Gewerkschaftsmitglieder waren, aber keiner Gewerkschaftsgruppe am Arbeitsplatz angehörte.
Eines davon war das Kollektiv csp75 in der Pariser Region. Die darin versammelten Sans-Papiers waren überwiegend Zeitarbeiter, Beschäftigte bei Wachdiensten oder in Haushalten. Auch sie wollten kämpfen. Aus Unzufriedenheit über die Untätigkeit der CGT ihnen gegenüber besetzten sie am 17.April 2009 die Bourse de travail, das Gewerkschaftshaus im 14.Bezirk, richteten sich ein, organisierten regelmäßig Demonstrationen und forderten die CGT auf, den Kampf für alle Sans-Papiers mit ihnen gemeinsam zu organisieren.
Damit wollten sie Druck machen und in die Verhandlungen über die Legalisierung der Sans-Papiers einbezogen werden. Monatelang herrschte eine regelrechte Blockadesituation, in der die Besetzern die CGT beschuldigte, ihre Sache verraten zu haben.
Daraufhin beschloss die CGT — ohne die anderen Gewerkschaften zu konsultieren oder zu informieren —, das Haus durch ihren Ordnerdienst räumen zu lassen.
Der Sturm auf das besetzte Haus stieß auf viel Kritik und Empörung. Die CGT hat dadurch viel Ansehen verloren. Der Verantwortliche für die Aktion wurde abgesetzt. Für die Sans-Papiers gab es dennoch einen Fortschritt. Sie konnten ein leerstehendes Gebäude der Krankenkasse besetzen, das sie umbenannt haben in Ministerium für Legalisierung. Sie erhielten die Zusage der Präfektur, dass die Dossiers der 300 Besetzer schnellstens geprüft würden. Es ist also wieder Dynamik in die festgefahrenen Verhandlungen gekommen.


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