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Wenn du die politische Situation in Mexiko seit der historischen Wahlniederlage der PRI
im Jahre 2000 skizzieren müsstest, was wären die wichtigsten Elemente dieses
Rückblicks auf fast neun Jahre PAN-Regierung?
Die in sich widersprüchliche Mischung von Wandel und Kontinuität. Das Land
pendelte zwischen einer richtiggehenden Euphorie nach der Wahlniederlage der PRI im Jahre
2000, einigen Jahren vorsichtigen Abwartens, beginnender Enttäuschung mit der ersten PAN-
Regierung, einem Angstwahlkampf und erregten Debatten um Wahlbetrug im Jahr 2006 und einer
beispiellosen Militarisierung heute, die mit der Narco-Gewalt gerechtfertigt wird.
Kennzeichnend scheint mir auch
das verbissene Festhalten der Eliten am neoliberalen Projekt und der zunehmenden sozialen
Polarisierung zu sein. Die wirtschaftspolitische Kontinuität wird vom neoliberalen Block
getragen, der die [damalige] Regierungspartei PAN und die abgehalfterte PRI, aber auch Teile
der Mitte-Links-Partei PRD einschließt.
Welche Zugeständnisse machte die PAN an das Militär, um dieses als
strategischen Verbündeten zu gewinnen?
Das Militär wird in vielerlei Hinsicht aufgewertet: symbolisch, politisch und sozial.
Die Ausgaben für Sicherheit steigen drastisch, die Solderhöhungen liegen weit
über den sonstigen Lohnerhöhungen, und das Militär wird heute in viele
Kommissionen, Lenkungs- und Sicherheitsgremien berufen. Gleichzeitig wird alles getan, um
seine Straffreiheit weiter zu garantieren. Alte Menschenrechtsverbrechen werden, anders als in
Südamerika, nicht wirklich aufgearbeitet und neue, etwa im Rahmen der Anti-Drogen-
Einsätze oder anlässlich des Verschwindens zweier politischer Kader der EPR-
Guerilla, werden politisch gedeckelt.
Wer sind die linken, popularen und progressiven sozialen Bewegungen? Wer ist „die
Linke” in Mexiko?
Ich bevorzuge eine offene Definition, die über antikapitalistische Kräfte bzw.
über Parteien und Organisationen hinausgeht, die aus der Arbeiterbewegung kommen. Das
scheint mir für Lateinamerika und besonders für Mexiko mit seiner
revolutionären Geschichte angemessen. Da spielen auch nationalpopulare Elemente und
Sektoren eine Rolle, die heute vielfach als „populistisch” abgestempelt und so in
eine Schublade gepresst werden, mit der vermeintlich „wirkliche Linke” nichts zu
tun haben wollen. Im ersten Kapitel des Buches untersuche ich soziale Bewegungen und Parteien,
die massenwirksam sind, also in der Lage, eine gewisse Menge Leute auf die Beine zu bringen.
Welche sozialen Protagonisten könnten Akteure eines möglichen Linksrutsches
sein, der das große Maß an Unzufriedenheit bündeln würde?
Zunächst müssen die sozialen Bewegungen ihr allergrößtes Manko, die
fehlende Einheit, überwinden. Der erste Schritt wäre, eine Aktionseinheit zu
schaffen, die sich spannt von Anhängern López Obradors [Kandidat der PRD bei den
Präsidentschaftswahlen 2006], sozialen Teilbereichsbewegungen, den Zapatisten bis hin zu
den Untergrundbewegungen. Das ist jedoch beim jetzigen Stand der Dinge völlig
unrealistisch. Ein Teil der Genannten will mit jeweils anderen Teilen auf gar keinen Fall
zusammenarbeiten, nicht einmal in der Abwehr der staatlichen Repression. Ein positives
Beispiel gibt es: Oaxaca. Dort haben sich im Jahre 2006 die unterschiedlichsten Kräfte
auf der Straße zusammengefunden und einen ungeheuren Druck entfalten können. Nur
blanke Gewalt hat den Sturz des Tyrannen verhindert. Trotz einiger Rückschläge ist
in Oaxaca die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Strömungen wesentlich weiter
entwickelt als im übrigen Mexiko.
Seit Januar dieses Jahres wird in verschiedenen Veröffentlichungen zu Mexiko das
Konzept des „failed state” verwendet. Wie stehst du zu dieser
Einschätzung?
Mexiko ist sicher kein funktionierender bürgerlich-demokratischer Staat im
europäischen Sinne. Dass unter den beiden PAN-Regierungen die sozialen, regionalen und
politischen Spannungen zugenommen haben, ist unbestreitbar. Und dass seit dem Amtsantritt des
Regierungschefs Felipe Calderón und seinem „Krieg gegen die Drogen” die
Gewalt und Unsicherheit spürbar gewachsen ist, ist ebenso unbestreitbar.
Dennoch ist Mexiko ein
funktionierender Staat, allerdings einer, dessen Polizei und Justiz von Korruption zerfressen
sind und leichte Beute der Drogenbanden wurden. Es ist nur Gerede, dass die Mafia
mächtiger und besser ausgerüstet sei als die öffentlichen
Sicherheitskräfte. Dieses Gerede erfüllt allerdings einen Zweck: Es legitimiert den
Einflussgewinn des Militärs, die Aufrüstung, eine Politik der harten Hand und nicht
zuletzt die immer offenere und direktere Einmischung der USA. Das Vorbild ist klar: Kolumbien.
Im zweiten Kapitel kritisierst du die zapatistische EZLN und Subcomandante Marcos,
Wogegen richtet sich deine Kritik?
Sie richtet sich weniger gegen die Zapatisten — die müssen selben klären,
wohin sie wollen — sondern vielmehr gegen ein bestimmtes Selbstverständnis von
Zapatisten-Solidarität hierzulande. Was mich daran sehr stört, ist der begrenzte
Blick auf das Objekt der Begierde und, damit verbunden, die weitgehende Unfähigkeit, die
Zapatisten einigermaßen angemessen im politischen Geschehen Mexikos zu verorten, das sich
ja schnell ändert. Ich führe das darauf zurück, dass sehr buchgläubig an
den Zapatismus herangegangen wird. Deshalb beharre ich seit Jahren darauf, dass der Zapatismus
sich schon mehrmals grundlegend neu ausgerichtet hat.
Die internen Debatten zu
diesen Fragen sind allerdings nicht nachvollziehbar. Ans Licht der Öffentlichkeit kommt
jeweils nur die neue Orientierung. Ex post erklärt Subkommandant Marcos dann noch, warum
und wieso man zu den jeweiligen Einsichten gekommen sei. Aber ehrlich gesagt kann ich mir bei
vielen Positionen nicht vorstellen, dass die Indígena-Gemeinden sie sich so, wie sie
kommuniziert wurden, zu eigen gemacht haben.
Meine leitende Frage im
Zusammenhang mit den Zapatisten, deren Ansatz ich übrigens sehr sympathisch finde, ist
immer: Was können wir hier daraus lernen? Da wir keine Indígenas sind, nicht in
einem pauperisierten ländlichen Umfeld leben usw. können das nur politische
Überlegungen sein. Ich erwarte kohärente Antworten auf offenkundige Leerstellen wie
das monatelange Schweigen der Zapatisten zur Erhebung in Oaxaca; zu der Entstehung der
„Revolutionären Koordination” aus verschiedenen Guerillagruppen, deren
Vorstellungen von jenen der Zapatisten nicht weit entfernt scheinen; oder zu der für mich
erklärungsbedürftigen Nichtteilnahme an der Mobilisierung gegen die Privatisierung
der staatlichen Erdölgesellschaft PEMEX im vergangenen Jahr. Zu diesen und vielen anderen
wichtigen Fragen vernehme ich gar nichts.
Wie geht die den Zapatistas nahestehende bundesrepublikanische
Solidaritätsbewegung mit dieser Kritik um?
Sie wird, bis auf gezählte Ausnahmen, nicht aufgenommen. Stattdessen werden
Glaubenssätze über den Gegensatz zwischen Parlamentarismus/bürgerlichen
Institutionen (denen ich verfallen sei) und außerparlamentarischer Logik wiederholt. Da
ist die Debatte in Lateinamerika viel weiter, nicht nur theoretisch wie etwa bei Atilio
Borón oder beim erklärten Zapatistenanhänger Raúl Zibechi. Auch praktisch,
siehe Bolivien. Was mir hierzulande sehr fehlt, ist die Bereitschaft, genauer hinzusehen, sich
unbequemen Fragen zu stellen und sich der ganzen Sache nicht nur von der eigenen
(erwünschten) Identität her zu nähern.
Du verstehst dich auch als Teil der bundesrepublikanischen Linken. Welche
Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede siehst du?
Weder in Mexiko noch hierzulande wird eine der linksradikalen Minigruppen in die Lage
kommen, den nach Orientierung lechzenden Massen zu verklickern, wo der Bahnsteig ist, an dem
der Revolutionszug losbraust. Wenn ich nach Lateinamerika blicke, dann mit der Frage: Wie
haben sie es dort geschafft, in den Jahren nach der Diktatur aus der grausamen Defensive
herauszukommen? Wie orientierten sich soziale Bewegungen und linke Parteien neu? Wie stehen
Parlament und soziale Bewegungen zueinander, wie Regierung und außerparlamentarische
Kräfte? Diese Spannungsfelder auszuleuchten scheint mir spannend.
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