SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2009, Seite 12

Mexikos Linke

Der schwierige Weg aus der Zersplitterung

Ein Gespräch mit Albert Sterr

Die PRI, Partei der Institutionalisierten Revolution, die bis 2000 die einzige Regierungspartei in Mexiko gewesen war, hat bei den Parlaments- und Gouverneurswahlen am 5.Juli die Mehrheit im Abgeordnetenhaus zurück gewonnen. Bisher war sie dort nur als drittstärkste Kraft vertreten. Nach Auszählung von 69% der Stimmen zur Neuwahl des Parlaments entfielen auf die PRI 35,7%, die PAN 27,3%, die PRD 12,2%, die Grüne Partei 7%, die PT (Arbeitspartei) 3,9%, Nueva Alianza 3,5%, Convergencia 2,4% und die PSD 1,2%. Einer von zehn Wählern stimmte ungültig.
Vor den Wahlen sprach Jutta Klaß von zapapres, Hamburg, mit Albert Sterr über die Rolle der verschiedenen sozialen und politischen Akteure auf der Linken. Von Albert Sterr erschien Anfang des Jahres im Neuen ISP-Verlag Mexikos Linke — ein Überblick.

Wenn du die politische Situation in Mexiko seit der historischen Wahlniederlage der PRI im Jahre 2000 skizzieren müsstest, was wären die wichtigsten Elemente dieses Rückblicks auf fast neun Jahre PAN-Regierung?

Die in sich widersprüchliche Mischung von Wandel und Kontinuität. Das Land pendelte zwischen einer richtiggehenden Euphorie nach der Wahlniederlage der PRI im Jahre 2000, einigen Jahren vorsichtigen Abwartens, beginnender Enttäuschung mit der ersten PAN- Regierung, einem Angstwahlkampf und erregten Debatten um Wahlbetrug im Jahr 2006 und einer beispiellosen Militarisierung heute, die mit der Narco-Gewalt gerechtfertigt wird.
Kennzeichnend scheint mir auch das verbissene Festhalten der Eliten am neoliberalen Projekt und der zunehmenden sozialen Polarisierung zu sein. Die wirtschaftspolitische Kontinuität wird vom neoliberalen Block getragen, der die [damalige] Regierungspartei PAN und die abgehalfterte PRI, aber auch Teile der Mitte-Links-Partei PRD einschließt.

Welche Zugeständnisse machte die PAN an das Militär, um dieses als strategischen Verbündeten zu gewinnen?

Das Militär wird in vielerlei Hinsicht aufgewertet: symbolisch, politisch und sozial. Die Ausgaben für Sicherheit steigen drastisch, die Solderhöhungen liegen weit über den sonstigen Lohnerhöhungen, und das Militär wird heute in viele Kommissionen, Lenkungs- und Sicherheitsgremien berufen. Gleichzeitig wird alles getan, um seine Straffreiheit weiter zu garantieren. Alte Menschenrechtsverbrechen werden, anders als in Südamerika, nicht wirklich aufgearbeitet und neue, etwa im Rahmen der Anti-Drogen- Einsätze oder anlässlich des Verschwindens zweier politischer Kader der EPR- Guerilla, werden politisch gedeckelt.

Wer sind die linken, popularen und progressiven sozialen Bewegungen? Wer ist „die Linke” in Mexiko?

Ich bevorzuge eine offene Definition, die über antikapitalistische Kräfte bzw. über Parteien und Organisationen hinausgeht, die aus der Arbeiterbewegung kommen. Das scheint mir für Lateinamerika und besonders für Mexiko mit seiner revolutionären Geschichte angemessen. Da spielen auch nationalpopulare Elemente und Sektoren eine Rolle, die heute vielfach als „populistisch” abgestempelt und so in eine Schublade gepresst werden, mit der vermeintlich „wirkliche Linke” nichts zu tun haben wollen. Im ersten Kapitel des Buches untersuche ich soziale Bewegungen und Parteien, die massenwirksam sind, also in der Lage, eine gewisse Menge Leute auf die Beine zu bringen.

Welche sozialen Protagonisten könnten Akteure eines möglichen Linksrutsches sein, der das große Maß an Unzufriedenheit bündeln würde?

Zunächst müssen die sozialen Bewegungen ihr allergrößtes Manko, die fehlende Einheit, überwinden. Der erste Schritt wäre, eine Aktionseinheit zu schaffen, die sich spannt von Anhängern López Obradors [Kandidat der PRD bei den Präsidentschaftswahlen 2006], sozialen Teilbereichsbewegungen, den Zapatisten bis hin zu den Untergrundbewegungen. Das ist jedoch beim jetzigen Stand der Dinge völlig unrealistisch. Ein Teil der Genannten will mit jeweils anderen Teilen auf gar keinen Fall zusammenarbeiten, nicht einmal in der Abwehr der staatlichen Repression. Ein positives Beispiel gibt es: Oaxaca. Dort haben sich im Jahre 2006 die unterschiedlichsten Kräfte auf der Straße zusammengefunden und einen ungeheuren Druck entfalten können. Nur blanke Gewalt hat den Sturz des Tyrannen verhindert. Trotz einiger Rückschläge ist in Oaxaca die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Strömungen wesentlich weiter entwickelt als im übrigen Mexiko.

Seit Januar dieses Jahres wird in verschiedenen Veröffentlichungen zu Mexiko das Konzept des „failed state” verwendet. Wie stehst du zu dieser Einschätzung?

Mexiko ist sicher kein funktionierender bürgerlich-demokratischer Staat im europäischen Sinne. Dass unter den beiden PAN-Regierungen die sozialen, regionalen und politischen Spannungen zugenommen haben, ist unbestreitbar. Und dass seit dem Amtsantritt des Regierungschefs Felipe Calderón und seinem „Krieg gegen die Drogen” die Gewalt und Unsicherheit spürbar gewachsen ist, ist ebenso unbestreitbar.
Dennoch ist Mexiko ein funktionierender Staat, allerdings einer, dessen Polizei und Justiz von Korruption zerfressen sind und leichte Beute der Drogenbanden wurden. Es ist nur Gerede, dass die Mafia mächtiger und besser ausgerüstet sei als die öffentlichen Sicherheitskräfte. Dieses Gerede erfüllt allerdings einen Zweck: Es legitimiert den Einflussgewinn des Militärs, die Aufrüstung, eine Politik der harten Hand und nicht zuletzt die immer offenere und direktere Einmischung der USA. Das Vorbild ist klar: Kolumbien.

Im zweiten Kapitel kritisierst du die zapatistische EZLN und Subcomandante Marcos, Wogegen richtet sich deine Kritik?

Sie richtet sich weniger gegen die Zapatisten — die müssen selben klären, wohin sie wollen — sondern vielmehr gegen ein bestimmtes Selbstverständnis von Zapatisten-Solidarität hierzulande. Was mich daran sehr stört, ist der begrenzte Blick auf das Objekt der Begierde und, damit verbunden, die weitgehende Unfähigkeit, die Zapatisten einigermaßen angemessen im politischen Geschehen Mexikos zu verorten, das sich ja schnell ändert. Ich führe das darauf zurück, dass sehr buchgläubig an den Zapatismus herangegangen wird. Deshalb beharre ich seit Jahren darauf, dass der Zapatismus sich schon mehrmals grundlegend neu ausgerichtet hat.
Die internen Debatten zu diesen Fragen sind allerdings nicht nachvollziehbar. Ans Licht der Öffentlichkeit kommt jeweils nur die neue Orientierung. Ex post erklärt Subkommandant Marcos dann noch, warum und wieso man zu den jeweiligen Einsichten gekommen sei. Aber ehrlich gesagt kann ich mir bei vielen Positionen nicht vorstellen, dass die Indígena-Gemeinden sie sich so, wie sie kommuniziert wurden, zu eigen gemacht haben.
Meine leitende Frage im Zusammenhang mit den Zapatisten, deren Ansatz ich übrigens sehr sympathisch finde, ist immer: Was können wir hier daraus lernen? Da wir keine Indígenas sind, nicht in einem pauperisierten ländlichen Umfeld leben usw. können das nur politische Überlegungen sein. Ich erwarte kohärente Antworten auf offenkundige Leerstellen wie das monatelange Schweigen der Zapatisten zur Erhebung in Oaxaca; zu der Entstehung der „Revolutionären Koordination” aus verschiedenen Guerillagruppen, deren Vorstellungen von jenen der Zapatisten nicht weit entfernt scheinen; oder zu der für mich erklärungsbedürftigen Nichtteilnahme an der Mobilisierung gegen die Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft PEMEX im vergangenen Jahr. Zu diesen und vielen anderen wichtigen Fragen vernehme ich gar nichts.

Wie geht die den Zapatistas nahestehende bundesrepublikanische Solidaritätsbewegung mit dieser Kritik um?

Sie wird, bis auf gezählte Ausnahmen, nicht aufgenommen. Stattdessen werden Glaubenssätze über den Gegensatz zwischen Parlamentarismus/bürgerlichen Institutionen (denen ich verfallen sei) und außerparlamentarischer Logik wiederholt. Da ist die Debatte in Lateinamerika viel weiter, nicht nur theoretisch wie etwa bei Atilio Borón oder beim erklärten Zapatistenanhänger Raúl Zibechi. Auch praktisch, siehe Bolivien. Was mir hierzulande sehr fehlt, ist die Bereitschaft, genauer hinzusehen, sich unbequemen Fragen zu stellen und sich der ganzen Sache nicht nur von der eigenen (erwünschten) Identität her zu nähern.

Du verstehst dich auch als Teil der bundesrepublikanischen Linken. Welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede siehst du?

Weder in Mexiko noch hierzulande wird eine der linksradikalen Minigruppen in die Lage kommen, den nach Orientierung lechzenden Massen zu verklickern, wo der Bahnsteig ist, an dem der Revolutionszug losbraust. Wenn ich nach Lateinamerika blicke, dann mit der Frage: Wie haben sie es dort geschafft, in den Jahren nach der Diktatur aus der grausamen Defensive herauszukommen? Wie orientierten sich soziale Bewegungen und linke Parteien neu? Wie stehen Parlament und soziale Bewegungen zueinander, wie Regierung und außerparlamentarische Kräfte? Diese Spannungsfelder auszuleuchten scheint mir spannend.


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