SoZ - Sozialistische Zeitung |
Liebe Genossinnen und Genossen,
viele Iraner im In- und Ausland vermissen Eure Solidarität mit dem großartigen
Widerstand der Menschen gegen die Theokratie in der Islamischen Republik Iran. Ihr steht
dieser selbst organisierten und friedlichen Bewegung, die durch Mut und kreative Aktionen die
Welt überrascht hat, fast gleichgültig gegenüber und stellt Eure Medien und
Webseiten eher den Gegnern dieser Bewegung zur Verfügung.Die Adressaten dieses Offenen
Briefes sind alle diejenigen Linken, die man auch eindimensionale Antikapitalisten nennen
könnte. Sie reduzieren den ganzen Marx, ja die ganze Welt, auf Lohnarbeit und Kapital und
den Kapitalismus darauf, dass er auf Ausbeutung beruht und dass erst durch seine Abschaffung
alle Probleme der Welt beseitigt würden. Auf dieser reduktionistischen Vereinfachung der
Welt und naiven Illusion beruht m.E. die Neigung, Machtbeziehungen, kulturelle Potenziale,
Einfluss von Tradition, Religion und viele andere Faktoren auszublenden und die Gegenwart und
Geschichte ahistorisch nach eigenen Vorstellungen zurechtzubiegen.
Das theokratische Regime im
Iran hat nach dem offensichtlichen Wahlbetrug mindestens 50 Tote auf dem Gewissen, es schickte
die gesamten Kader der Reformbewegung, fast alle namhaften kritischen Journalisten und
Hunderte Menschen, die den Wahlbetrug vom 12.Juni nicht hinnehmen wollten, in die
Gefängnisse. Und dennoch hüllt Ihr Euch, liebe Genossinnen und Genossen, in
Schweigen (z.B. Sand im Getriebe, das Internet-Journal der globalisierungskritischen Bewegung
Attac), oder publiziert gar Pamphlete, die direkt oder indirekt zur Unterstützung der
theokratischen Führung beitragen. Beispiele dafür liefern auch die
Arbeiterfotografie und die junge Welt.
Aufschlussreich sind die
Reaktionen auf das von Pedram Shahyar und mir verfasste Plädoyer „Die Bewegung
für Demokratie und Emanzipation im Iran mit voller Kraft unterstützen”
(www.attac.de). Eine Genossin schrieb mir daraufhin: „Ich gehöre zu denjenigen, die
im Winter 1978/79 gegen das Schah-Regime demonstriert haben. Damals habe ich gehofft, dass die
Menschen im Iran eine echte Befreiung durchsetzen. Die Geschichte hat mich eines Schlechteren
belehrt. Ich wünsche den Iranern, dass nichts dergleichen wieder geschieht. Darum ist es
wichtig zu schauen, wer an der Spitze der Bewegung steht."
Man hoffte damals — mit
anderen Worten — auf eine sozialistische Revolution, heraus kam aber eine islamische
— oh igittigitt! Nein, noch einmal darauf hereinzufallen, dass die Iraner nicht meine
Erwartungen erfüllen und — nachdem sie damals bloß die Monarchie
stürzten, statt die sozialistische Revolution auszurufen und heute schon wieder dabei
sind, statt für den Sozialismus zu streiten, einem Mousavi nachzulaufen, der bestenfalls
die Hindernisse für die Demokratisierung der Islamischen Republik hinwegfegen will
— nein, das will und kann doch niemand von mir verlangen!
Dafür greift Ihr gerne
auf Pamphlete von gleichgesinnten Iranern zurück, die ihr ungeprüft über Eure
Webseiten oder andere Medien verbreitet, in denen „Gräueltaten”, die Mousavi
zugeschrieben werden, breitgetreten werden.
Euer Problem, liebe
Genossinnen und Genossen, ist aber, dass Ihr Schuldzuweisungen Einzelner einen
größeren Stellenwert beimesst als dem Urteil eines ganzen Volkes, das selbst unter
der theokratischen Herrschaft eines Ahmadinejad leidet und das bei Abwägung aller
Faktoren sich unter besonderen historischen Bedingungen letztlich entschieden hat, Mousavi die
Stimme zu geben.
Euer grundsätzliches
Problem ist die Selektion der Fakten, die ihr jenseits des historischen Kontextes ganz
beliebig, ahistorisch und nach eigenem Gutdünken nach dem Muster zusammenbastelt: Es ist
nicht, was nicht sein darf und es muss so sein, wie ich persönlich es mir ausmale. ... In
der jungen Welt lasst Ihr beispielsweise genau nach diesem ahistorisch idealistischen
Wahrnehmungsmuster an Obama kein gutes Haar, egal was er macht, obgleich dieser ... in
Wirklichkeit ein Glücksfall für die Menschheit ist.
Ich gebe gerne zu, dass auch
ich Mousavi für einen lernfähigen und mutigen Politiker halte, weil er zum ersten
Mal in der Geschichte der Islamischen Republik dem geistlichen Oberhaupt gegenüber
öffentlich Widerstand angekündigt hat und damit die Schwelle der Angst für sich
und seine Wähler durchbrochen hat. Zum ersten Mal wurden die moralische Autorität
des geistlichen Oberhaupts, und damit die Legitimation der Theokratie, gründlich
erschüttert. Mousavi traue ich zu, eine politische Allianz gegen die Theokratie zu
führen und die Voraussetzungen für eine demokratische Entwicklung in einem
traditionell stark islamisch geprägten Land herzustellen. Ich weiß von Mousavi, dass
er als Ministerpräsident für vieles Unschöne während seiner Amtzeit
mitverantwortlich ist. Von ihm und vielen heutigen islamischen Reformern wie Khatami und
dessen Umfeld weiß ich aber auch, dass sie... aus Überzeugung den Weg zu einer
demokratischen Entwicklung eingeschlagen haben. Dabei haben Mousavi und die anderen Reformer
nicht davor zurückgeschreckt, offen ihre Bereitschaft kundzutun, für demokratische
Reformen in der Islamischen Republik auch ihr Leben zu opfern und in den Gefängnissen der
Theokratie zu landen...
In seiner bisherigen
Geschichte erlebte die iranische Gesellschaft nur während der goldenen Demokratie-Jahre
der Mosadegh-Ära (1951—1953) freie Presse, freie Parteien, freie Wahlen und
unabhängige Gewerkschaften. Ohne neue und wichtige Erfahrungen, die alle soziale Gruppen
und Individuen in Freiheit und nur unter den Bedingungen von Freiheit machen können,
dürfte es unmöglich sein, in einem Dritte-Welt-Land wie dem Iran Emanzipationsziele
... die über den Kapitalismus hinausgehen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu
verwirklichen.
19.Juli 2009
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