SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2009, Seite 16

Offener Brief (Auszüge) von Mohssen Massarrat

an „die Linke” anlässlich ihrer mangelnden Solidarität mit der Volksbewegung im Iran


Liebe Genossinnen und Genossen,

viele Iraner im In- und Ausland vermissen Eure Solidarität mit dem großartigen Widerstand der Menschen gegen die Theokratie in der Islamischen Republik Iran. Ihr steht dieser selbst organisierten und friedlichen Bewegung, die durch Mut und kreative Aktionen die Welt überrascht hat, fast gleichgültig gegenüber und stellt Eure Medien und Webseiten eher den Gegnern dieser Bewegung zur Verfügung.Die Adressaten dieses Offenen Briefes sind alle diejenigen Linken, die man auch eindimensionale Antikapitalisten nennen könnte. Sie reduzieren den ganzen Marx, ja die ganze Welt, auf Lohnarbeit und Kapital und den Kapitalismus darauf, dass er auf Ausbeutung beruht und dass erst durch seine Abschaffung alle Probleme der Welt beseitigt würden. Auf dieser reduktionistischen Vereinfachung der Welt und naiven Illusion beruht m.E. die Neigung, Machtbeziehungen, kulturelle Potenziale, Einfluss von Tradition, Religion und viele andere Faktoren auszublenden und die Gegenwart und Geschichte ahistorisch nach eigenen Vorstellungen zurechtzubiegen.
Das theokratische Regime im Iran hat nach dem offensichtlichen Wahlbetrug mindestens 50 Tote auf dem Gewissen, es schickte die gesamten Kader der Reformbewegung, fast alle namhaften kritischen Journalisten und Hunderte Menschen, die den Wahlbetrug vom 12.Juni nicht hinnehmen wollten, in die Gefängnisse. Und dennoch hüllt Ihr Euch, liebe Genossinnen und Genossen, in Schweigen (z.B. Sand im Getriebe, das Internet-Journal der globalisierungskritischen Bewegung Attac), oder publiziert gar Pamphlete, die direkt oder indirekt zur Unterstützung der theokratischen Führung beitragen. Beispiele dafür liefern auch die Arbeiterfotografie und die junge Welt.
Aufschlussreich sind die Reaktionen auf das von Pedram Shahyar und mir verfasste Plädoyer „Die Bewegung für Demokratie und Emanzipation im Iran mit voller Kraft unterstützen” (www.attac.de). Eine Genossin schrieb mir daraufhin: „Ich gehöre zu denjenigen, die im Winter 1978/79 gegen das Schah-Regime demonstriert haben. Damals habe ich gehofft, dass die Menschen im Iran eine echte Befreiung durchsetzen. Die Geschichte hat mich eines Schlechteren belehrt. Ich wünsche den Iranern, dass nichts dergleichen wieder geschieht. Darum ist es wichtig zu schauen, wer an der Spitze der Bewegung steht."
Man hoffte damals — mit anderen Worten — auf eine sozialistische Revolution, heraus kam aber eine islamische — oh igittigitt! Nein, noch einmal darauf hereinzufallen, dass die Iraner nicht meine Erwartungen erfüllen und — nachdem sie damals bloß die Monarchie stürzten, statt die sozialistische Revolution auszurufen und heute schon wieder dabei sind, statt für den Sozialismus zu streiten, einem Mousavi nachzulaufen, der bestenfalls die Hindernisse für die Demokratisierung der Islamischen Republik hinwegfegen will — nein, das will und kann doch niemand von mir verlangen!
Dafür greift Ihr gerne auf Pamphlete von gleichgesinnten Iranern zurück, die ihr ungeprüft über Eure Webseiten oder andere Medien verbreitet, in denen „Gräueltaten”, die Mousavi zugeschrieben werden, breitgetreten werden.
Euer Problem, liebe Genossinnen und Genossen, ist aber, dass Ihr Schuldzuweisungen Einzelner einen größeren Stellenwert beimesst als dem Urteil eines ganzen Volkes, das selbst unter der theokratischen Herrschaft eines Ahmadinejad leidet und das bei Abwägung aller Faktoren sich unter besonderen historischen Bedingungen letztlich entschieden hat, Mousavi die Stimme zu geben.
Euer grundsätzliches Problem ist die Selektion der Fakten, die ihr jenseits des historischen Kontextes ganz beliebig, ahistorisch und nach eigenem Gutdünken nach dem Muster zusammenbastelt: Es ist nicht, was nicht sein darf und es muss so sein, wie ich persönlich es mir ausmale. ... In der jungen Welt lasst Ihr beispielsweise genau nach diesem ahistorisch idealistischen Wahrnehmungsmuster an Obama kein gutes Haar, egal was er macht, obgleich dieser ... in Wirklichkeit ein Glücksfall für die Menschheit ist.
Ich gebe gerne zu, dass auch ich Mousavi für einen lernfähigen und mutigen Politiker halte, weil er zum ersten Mal in der Geschichte der Islamischen Republik dem geistlichen Oberhaupt gegenüber öffentlich Widerstand angekündigt hat und damit die Schwelle der Angst für sich und seine Wähler durchbrochen hat. Zum ersten Mal wurden die moralische Autorität des geistlichen Oberhaupts, und damit die Legitimation der Theokratie, gründlich erschüttert. Mousavi traue ich zu, eine politische Allianz gegen die Theokratie zu führen und die Voraussetzungen für eine demokratische Entwicklung in einem traditionell stark islamisch geprägten Land herzustellen. Ich weiß von Mousavi, dass er als Ministerpräsident für vieles Unschöne während seiner Amtzeit mitverantwortlich ist. Von ihm und vielen heutigen islamischen Reformern wie Khatami und dessen Umfeld weiß ich aber auch, dass sie... aus Überzeugung den Weg zu einer demokratischen Entwicklung eingeschlagen haben. Dabei haben Mousavi und die anderen Reformer nicht davor zurückgeschreckt, offen ihre Bereitschaft kundzutun, für demokratische Reformen in der Islamischen Republik auch ihr Leben zu opfern und in den Gefängnissen der Theokratie zu landen...
In seiner bisherigen Geschichte erlebte die iranische Gesellschaft nur während der goldenen Demokratie-Jahre der Mosadegh-Ära (1951—1953) freie Presse, freie Parteien, freie Wahlen und unabhängige Gewerkschaften. Ohne neue und wichtige Erfahrungen, die alle soziale Gruppen und Individuen in Freiheit und nur unter den Bedingungen von Freiheit machen können, dürfte es unmöglich sein, in einem Dritte-Welt-Land wie dem Iran Emanzipationsziele ... die über den Kapitalismus hinausgehen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu verwirklichen.

19.Juli 2009


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