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Die Krise trifft auch das „Fließband der Welt”,
darunter vor allem die 200 Millionen Wanderarbeiter. Anfang 2009 wurden auf einen Schlag 20
Millionen arbeitslos.
Anfang 2009 gingen Millionen
chinesischer Wanderarbeiter nach Fabrikschließungen und Entlassungen aus den Städten
zurück aufs Land. Eine temporäre Rückwanderung ist an sich nicht neu. Zwischen
ihren Jobs in der Stadt besuchen die Wanderarbeiter ihre Familie, erholen sich kurzzeitig im
Dorf, manche erledigen auch Landarbeit. Andere haben nicht mehr gelernt, Äcker zu
bestellen und Vieh zu hüten. Sie wollen in der Stadt leben, permanent niederlassen
dürfen sie sich aber dort nicht. Das verhindert das Registrierungsgesetz (hukou), das die
chinesische Bevölkerung seit den 50er Jahren in Stadt- und Landbewohner spaltet.
Die Geschichte der aktuellen
Migration in China ist gerade mal 30 Jahre alt. Bis Ende der 70er Jahre verhinderte eine
strikte staatliche Kontrolle die Landflucht. Der Urbanisierungsgrad blieb mit unter 20%
konstant niedrig (heute fast 50%). Die Massen auf dem Land mussten Überschüsse
für den sozialistischen Industrialisierungsprozess schaffen, und nur eine Minderheit der
städtischen Arbeiter kam in den Genuss der „Eisernen Reisschüssel”, der
vom Staat garantierten sozialen Versorgung von der Wiege bis zur Bahre. Auf dem Land hatten
die Menschen Anspruch auf ein Stück Acker bzw. wurden Mitglied einer Volkskommune, mit
minimaler sozialer Absicherung. Die Bedingungen auf dem Land waren (und blieben) wesentlich
schlechter als in den Städten.
Mit dem Umbau der
sozialistischen Planwirtschaft ab Ende der 70er Jahre wurden die Volkskommunen aufgelöst
und Landnutzungsrechte an bäuerliche Familien vergeben. Die landwirtschaftliche
Produktivität stieg an, mit ihr die ländliche Überbevölkerung. Die ersten
jungen Landbewohner zogen in die Städte und neuen Industriezentren. Das Regime vergab
vorübergehende Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen an Landbewohner, die einen
Arbeitsvertrag in der Stadt nachweisen konnten. Bis heute ähnelt die Situation der
Wanderarbeiter in den Städten der außereuropäischer Migranten in der EU, mit
allen Problemen: Ausschluss von vielen öffentlichen Dienstleistungen, Kontrolle durch
Polizei und Behörden, Illegalisierung und mögliche Abschiebung.
Die Niederschlagung der
Tiananmen-Bewegung 1989 ebnete den Weg für weitere Reformen, Industrialisierung und
Massenwanderung in den 90er Jahren. Ab 1992 öffnete die KPCh das Land für
ausländische Investitionen und begann den entscheidenden Angriff auf Kombinate und die
„Eiserne Reisschüssel” Ihre Interessen trafen sich mit denen des
internationalen Kapitals: Nachdem die Profite in den Industriemetropolen durch die
Arbeiterkämpfe der 60er und 70er Jahre unter Druck geraten waren, wich das Kapital in
periphere Regionen aus (Brasilien, Südkorea...). In den 80er Jahren gab es dort
große Arbeiterunruhen, sodass eine erneute Verlagerung der Produktion, ein
„räumlicher Fix” (David Harvey), notwendig wurde: Jetzt wollte das Kapital
die „billige” Arbeitskraft Chinas ausbeuten.
Mithilfe ausländischer Investitionen und des staatlich gelenkten Ausbaus der
Exportindustrien wurde China in den kommenden Jahren zum „Fließband der Welt”
und entwickelte sich bis heute zur weltweit drittgrößten Volkswirtschaft, zum Global
Player mit zunehmender ökonomischer, politischer und auch militärischer Macht.
Für die
Industrialisierung wurden massenhaft neue Arbeitskräfte gebraucht. Die KPCh organisierte
den Nachschub, indem sie die Migration ankurbelte. Der Einsatz von Wanderarbeitern hat sowohl
für das ausländisches Kapital als auch für das chinesische Regime den Vorteil,
dass sie diesen nicht dieselben Bedingungen bieten muss wie städtischen Arbeitern.
Wanderarbeiter arbeiten, wohnen und essen in den Fabriken und Wohnheimen und bekommen einen
Lohn, der zum Leben in der Stadt nicht reichen würde. Gleichzeitig können
Wanderarbeiter als Drohung und Druckmittel gegen die im Sozialismus
„privilegierten” städtischen Arbeiter eingesetzt werden. Ab 1997 wurden vor
allem kleine und mittlere Kombinate demontiert oder geschlossen, über 50 Millionen
städtischer Arbeiter entlassen.
Die Zahl der Wanderarbeiter
stieg bis heute auf geschätzte 200 Millionen, etwa je zur Hälfte Männer und
Frauen. Zum Teil sind sie ständig in der Stadt oder unterwegs, mit seltenen Besuchen
„zu Hause” (Fabrikarbeiter). Es gibt aber auch saisonale Wanderung mit
zwischenzeitlicher Landarbeit (Bauarbeiter). In der Regel sind Wanderarbeiter junge Leute aus
den ländlichen Regionen des chinesischen Hinterlands, die mit 16 oder 17 Jahren in nahe
Kleinstädte oder in die Exportzonen und Großstädte der Ostküste ziehen.
Dort machen sie alle schlecht
entlohnte, dreckige, langweilige und gefährliche Arbeit: in Fabriken, auf dem Bau, als
Sexarbeiterinnen und Hausangestellte, in Hotels, Restaurants, Wachdiensten, als
Kleinhändler. Ihre Arbeitsbedingungen sind geprägt von einer Mischung aus
sozialistischem Disziplinierungsregime und tayloristischen Produktionsmethoden
("Fabrikdespotismus"), niedrigen Löhnen, Lohnrückständen, langen
Arbeitstagen, Stress und Übermüdung, Unfällen und giftigen Arbeitsumgebungen,
schlechten Wohnheimbedingungen und schlechter Verpflegung. Dabei gibt es große
Unterschiede, zwischen Sweatshops und hochmodernen Fabriken, sklavereiähnlichen
Verhältnissen und relativ hohen Löhnen für Arbeiter mit besonderen
Fähigkeiten.
Die erste Generation der
Wanderarbeiter, die in den 80er oder 90er Jahren in die Städte kam, musste sich in den
Städten und Industriezonen erst zurechtfinden. An den ersten beiden Kampfzyklen der
Reformära war sie kaum beteiligt: weder an den Streiks und Mobilisierungen in den
Städten in den 80er Jahren mit der Zuspitzung 1989; noch an den Bewegungen gegen
Entlassungen und die Umstrukturierung der Kombinate in den Rostgürteln Ende der 90er
Jahre.
Die zweite Generation der
Wanderarbeiter begann, sich zu wehren. Auslöser der Konflikte kann alles sein, was den
Arbeitern stinkt: die Ohrfeige des Vorarbeiters, Ungeziefer im Kantinenessen, Stromausfall im
Wohnheim, das Ausbleiben der anstehenden Lohnzahlung. Oft sind es gar nicht die beschissenen
Bedingungen an sich, sondern eine Verletzung der Würde der Arbeiter, die das Fass zum
überlaufen bringen.
Ab 2003 stieg die Zahl der
Kämpfe, vor allem dort, wo viele Arbeiter zusammen schuften und ihre Durchsetzungsmacht
größer ist: in der Fabrik, auf dem Bau. Sowohl formal legale Konflikte nahmen zu
(Vorsprachen bei der staatlichen Arbeitsbehörde, Petitionen, Gerichtsverfahren), als auch
„illegale” Kampfformen: Sabotage, Bummelstreiks, Arbeitsniederlegungen,
Kundgebungen, Demonstrationen, Blockaden.
Oft beginnen die Kämpfe
mit Aktionen im Betrieb, mit konkreten Forderungen nach Verbesserungen. Wenn das nicht
erfolgreich ist, gehen die Arbeiter zur Arbeitsbehörde und verlangen, dass sie in ihrem
Sinne eingreift. Da die Arbeitsbehörde Teil des lokalen Staates ist und damit den
Kapitalisten nahe steht, bringt das meist nichts ein. Das gilt auch für die lokale
Gerichtsbarkeit, an die sich manche Arbeiter danach wenden. Viele Konflikte enden hier, weil
den Arbeitern die finanziellen Mittel und der lange Atem fehlen, die sie bräuchten. Aber
etliche Auseinandersetzungen eskalieren auch, führen zu Streiks, in manchen Fällen
zu Randale und Polizeieinsätzen.
In den Konflikten bilden sich auf betrieblicher und lokaler Ebene Aktivisten heraus. Sie
lernen aus der Dynamik der Kämpfe, der Konfrontation mit Managern und Staatsvertretern.
„Große Unruhe bringt große Lösung, kleine Unruhe bringt kleine
Lösung”, sagen sie: Wer sich durchsetzen will, muss soviel Unruhe stiften, dass der
Staat einspringt und eine Lösung herbeiführt. Sie wissen, was sie wagen können
und was nicht, welche Kampfform zu einer gewollten Eskalation führt und welche zu einer
entschlossenen Repression seitens des Staates.
Die offene politische
Organisierung ist weiter blockiert, und die meisten Streiks finden nur in einem Betrieb statt.
In manchen Fällen überwinden die Arbeiter aber den „zellularen
Aktivismus” (Ching Kwan Lee). Es kommt zu Kämpfen, bei denen Leute von Konflikten
in anderen Städten hören und dann selbst loslegen ("copycats”, wie bei den
Taxifahrern 2008), oder zu Dominostreiks in mehreren Fabriken eines Industriegebiets. Aber das
sind bisher Ausnahmen.
Mit den Kämpfen zwischen
2005 und 2008 konnten die Wanderarbeiter, begünstigt durch eine
Arbeitskräfteknappheit, etwa 30% höhere Löhne durchsetzen. Das Regime
weiß, dass bloße Repression keine willige Arbeitskraft erhalten kann. Seit den
Erfahrungen mit den Bewegungen der städtischen Arbeiter nach 1997 hat es seine Rhetorik
verändert und spricht von „Harmonischer Gesellschaft” Es versucht, den
sozialen Sprengstoff zu entschärfen, um seine Macht zu erhalten, mit Zugeständnissen
und Versprechungen, dem Einsatz staatstreuer Gewerkschaften, Schlichtungs- und
Petitionsverfahren.
Mit der Krise, den
Fabrikschließungen und Entlassungen, haben sich die Vorzeichen verändert. In den
Exportzonen sind die Jobaushänge abgelöst worden von Miet- und Kaufanzeigen für
Fabrikflächen und Wohnheime. Die Zahl der arbeitslosen Wanderarbeiter soll heute zwischen
20 und 40 Millionen liegen. Dazu kommt wachsende Unterbeschäftigung,
Tagelöhnerarbeit, Kleinstselbstständigkeit. Die Löhne sind um 20% gefallen.
Viele Firmen, die gar nicht von der Krise betroffen sind, drücken ebenfalls Löhne
und Bedingungen, und die Nichteinhaltung der Arbeitsgesetze nimmt zu.
Die Frage der
Rückwanderung ist weiter offen. Eine Umkehrung der Urbanisierungstendenz ist
unwahrscheinlich, zu groß ist der Unterschied zwischen dem Lebensniveau auf dem Land und
in der Stadt. Zwar sind viele Wanderarbeiter Anfang 2009 (wie jedes Jahr vor dem chinesischen
Neujahrsfest) in die Dörfer zurückgekehrt, aber dort finden sie auch keine Arbeit,
haben keine Perspektive. Auf dem Land gibt es viele Probleme: Die Auspressung durch die lokale
Parteimafia, Landvertreibung und Armut führen zu Kämpfen und Aufständen. Viele
Arbeiter sind schon wieder auf Wanderschaft.
2008 und Anfang 2009 hat die
Zahl der Petitionen, Gerichtsverfahren, Streiks und Demonstrationen weiter zugenommen. Noch
mehr als bisher geht es um Lohnrückstände, um Abfindungen nach Entlassungen. Der
Staat reagiert weiter mit Versprechungen, Drohungen und Repression. Wie lange das eine Welle
„großer Unruhe” verhindern wird, ist offen.
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