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Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Ampel oder Jamaika — in
welchen Farben die nächste Bundesregierung antreten wird, ist noch ungewiss. Was für
eine Wirtschaftspolitik wir nach dem 27.September zu erwarten haben, ist dagegen schon
deutlich absehbar.
Von unterschiedlichen Marketingstrategien — Merkel, Marktwirtschaft,
ökologische Industriepolitik, Green New Deal — abgesehen, zeichnet sich bei den
Parteien, die mit unterschiedlichen Chancen auf eine Regierungsbeteiligung hoffen können,
folgender Konsens ab: Dank beherzter Staatseingriffe im vergangenen Herbst konnte ein
Zusammenbruch der Wirtschaft verhindert werden. Die Konjunktur hat ihren Tiefpunkt erreicht,
sodass es jetzt nur noch bergauf gehen kann. Einzig eine falsche Wirtschaftspolitik
könnte diesen Aufschwung noch verhindern. Dazu wird es aber nicht kommen, weil mit
Ausnahme der LINKEN alle Parteien für die richtige Politik eintreten. Hauptziel dieser
Politik: Wir müssen Exportweltmeister bleiben, weil sich die für Wachstum und
Beschäftigung notwendigen Gewinne nur auf dem Weltmarkt erwirtschaften lassen. Wichtigste
Voraussetzung zur Erreichung dieses Ziels: Ein energischer Tritt auf die Schuldenbremse, weil
die Staatsschuld andernfalls zur Inflation und damit zur Verteuerung deutscher Ausfuhren und
zu einem Wettbewerbsnachteil gegenüber der ausländischen Konkurrenz führt.
So weit, so falsch. Die Regierungen anderer Länder haben genauso viel, einige sogar
sehr viel mehr Geld zur Finanzierung von Konjunktur- und Bankenrettungspaketen ausgegeben.
Sollte die damit einhergehende Erhöhung der Staatsverschuldung die Inflationsrate
tatsächlich in die Höhe treiben, würden sich die Ausfuhren aller Länder
verteuern. Ein besonderer Wettbewerbsnachteil für deutsche Exporteure ließe sich aus
Preissteigerungen in allen Ländern nicht ableiten. Wichtiger noch: Ein Zusammenhang
zwischen Staatsschuld und Inflation besteht zwar in den theoretischen Modellen
monetaristischer Ökonomen, lässt sich aber empirisch nicht belegen. Ein Blick auf
die Wirtschaftsgeschichte legt vielmehr folgende Inflationsursachen nahe:
Erstens, steigende Nachfrage
wird von Unternehmen genutzt, um höhere Preise für ihre Waren durchzusetzen und auf
diese Weise Umsatz und Gewinn zu erhöhen. Zweitens, sofern ausreichende Nachfrage
vorhanden ist, geben Unternehmen steigende Kosten für Löhne, Vorleistungen und
Rohstoffe an ihre Kunden weiter und verteidigen auf diese Weise ihre Gewinnmargen. Drittens,
in einer Konzertierten Aktion von Politik und Unternehmen wird eine Inflationswelle
losgetreten, um die reale Kaufkraft von Löhnen, Transfereinkommen und Ersparnissen zu
zerstören.
Gegenwärtig liegt keiner
dieser drei Fälle vor. Von steigender Nachfrage kann keine Rede sein. Darüber hinaus
halten Überkapazitäten und Arbeitslosigkeit die Preise für Arbeitskraft und
Vorleistungen so niedrig, dass selbst steigende Rohstoffpreise nur eine geringe Bedrohung der
Gewinnspanne darstellen. Schließlich steht eine politisch gewollte Inflation
gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung, weil damit nicht gleichzeitig die Ziele der
Exportsteigerung und der realen Abwertung von Löhnen, Transfereinkommen und Ersparnissen
erreicht werden könnten.
Zu einer solchen, weder vom
regulären Geschäftsbetrieb der Unternehmen noch von gewerkschaftlich ausgehandelten
Lohnerhöhungen verursachten, Form der politischen Inflation nimmt die Bourgeoisie nur
dann Zuflucht, wenn sie sich der Forderungen subalterner Klassen anders nicht mehr zu erwehren
weiß. Doch der Preis für den Klassenkampf durch Inflation ist hoch, weil er zur
massiven Abwertung der Währung und aller in dieser Währung gehaltenen
Vermögensbestände führt.
Von einer solchen Zuspitzung
der Klassenkämpfe ist Deutschland, ebenso wie die anderen kapitalistischen
Hauptländer, jedoch weit entfernt. Für den trotz Wirtschaftskrise herrschenden
sozialen Frieden ist nicht zuletzt die Tatsache verantwortlich, dass die subalternen Klassen
kaum Forderungen aufstellen, geschweige denn für deren Durchsetzung kämpfen. Diese
Zurückhaltung geht wiederum auf die mangelnde Organisation und Repräsentation dieser
Klassen zurück — auch DIE LINKE ist weit davon entfernt, eine strategisch
operierende Arbeiterpartei zu sein. Zudem sind viele Arbeiter, Angestellte und Bezieher von
Transfereinkommen davon überzeugt, dass ihr Wohlergehen von Deutschlands Exporterfolgen,
einem ausgeglichenen Staatshaushalt und stabilen Preisen abhängt.
Ein Fall falschen Bewusstseins, der sich durch die monetaristische Propagandaoffensive und
den Mangel an wirtschaftspolitischer Aufklärung von links erklärt? Keinesfalls. Zur
deutschen Volksreligion konnten Exportweltmeisterschaft, Haushaltsausgleich und Null-Inflation
nur werden, weil sich in ihnen kollektive Erfahrungen ausdrücken. Inflation,
Staatsbankrott und Zusammenbruch des Weltmarkts haben im vergangenen Jahrhundert nicht nur der
Bourgeoisie das Ausbeuten schwer gemacht, sondern auch mehrfach zu Massenelend in
Arbeitervierteln geführt. Umgekehrt war das deutsche Wirtschaftswunder in der Tat vom
Export getrieben und von geringer Staatsverschuldung und stabilen Preisen begleitet.
Angesichts dieser kollektiven
Krisen- und Prosperitätserfahrungen ist es keinesfalls verwunderlich, dass Menschen
unterschiedlicher Klassenherkunft die Wiederherstellung einer auf Exportüberschüssen
beruhenden Prosperität anstreben, selbst wenn sie, je nach Klassenlage, unter den
dafür als notwendig erachteten Maßnahmen zu leiden haben. Zudem lassen die in
Ostdeutschland gemachten Sozialismuserfahrungen die Suche nach wirtschaftspolitischen
Alternativen zum Kapitalismus keineswegs attraktiv erscheinen.
Ein Ratgeber für die
Zukunft sind kollektive Erfahrungen natürlich nur, wenn die Frage gestellt wird, ob die
Bedingungen, die bestimmte Entwicklungen in der Vergangenheit möglich gemacht haben,
heute noch gültig sind. Ohne solch einen Prozess kritischer und kollektiver
Selbstverständigung verkommen Erfahrungen der Vergangenheit zu einem Mythos, der anderen
die Gestaltung der Zukunft überlässt. Genau danach sieht es gegenwärtig aus.
Von der Rückkehr zum monetaristischen Credo nach einem staatsinterventionistischen
Zwischenspiel erhofft sich die Bourgeoisie ein Abwälzen der Krisenlasten auf subalterne
Schultern. Eine Prosperität, von der nach einer Zeit des Gürtel-enger-Schnallens
auch die subalternen Klassen profitieren würden, ist dagegen höchst
unwahrscheinlich.
Um die Unwahrscheinlichkeit eines baldigen und kräftigen Aufschwungs zu verstehen,
soll an einige Bedingungen erinnert werden, die das exportgeleitete Wachstum der Vergangenheit
ermöglicht haben, aus dem kollektiven Gedächtnis aber weitgehend verdrängt
sind. Hierzu zählen die Unterbewertung der D-Mark und die niedrigen Löhne in den
50er und 60er Jahren — sie haben deutsche Exporte im internationalen Vergleich zu
Schnäppchen gemacht. Dazu zählte auch das, nicht zuletzt durch Staatsausgaben
angetriebene, Nachfragewachstum in den USA.
Seither sind jedoch viele
andere Länder auf den Pfad des exportorientierten Wachstums eingeschwenkt und haben
weltweit Überkapazitäten herbeigeführt, die auch eine spekulationsgetriebene
bzw. schuldenfinanzierte Nachfrage nur noch unzureichend auslasten kann. Das Problem des
Überangebots bzw. der unzureichenden globalen Nachfrage stellte sich zuerst in den 70er
Jahren und konnte seither nur notdürftig durch die Anhäufung fiktiver
Vermögenswerte sowie hierauf beruhender Kreditaufnahme und Güternachfrage
gelöst werden. Allerdings waren von Zyklus zu Zyklus größere Spekulationsblasen
und Schuldenexzesse nötig, um Wertschöpfung und Beschäftigung anzuregen.
Steigende Reallöhne gab
es nur noch in wenigen Aufsteigerländern, in den armen Ländern sank mit dem
Lohnniveau auch der Lebensstandard, während in den reichen Ländern eine Ausweitung
der Arbeitszeit und der Zugang zu Konsumentenkredit Teilen der Arbeiterklasse die Beibehaltung
ihres gewohnten Konsumstandards erlaubten. Allerdings verloren auch in diesen Ländern
immer mehr Menschen den Anschluss an die finanzkapitalistische Akkumulation.
Nachdem dieses
Akkumulationsmodell vor einem Jahr in eine schwere Krise geraten ist, haben Staatsausgaben und
billiges Zentralbankgeld in bescheidenem Maße zur Stabilisierung von Nachfrage und
Beschäftigung beigetragen und damit den Absturz gebremst. Der Haupteffekt dieser
Interventionen bestand jedoch in einem staatlich subventionierten Wiederanstieg von
Wertpapierkursen, die gemessen an den tatsächlichen und an den für die nähere
Zukunft zu erwartenden Unternehmensgewinnen erneut krisenträchtig überbewertet sind.
Das heißt, noch bevor die
letzte Krise überwunden ist, wird schon das Potenzial für die nächste Krise
aufgebaut. Eine im Namen von Export und Haushaltskonsolidierung betriebene Wirtschaftspolitik
ist geeignet, dieses Krisenpotenzial zu realisieren. Alternativen hierzu werden am
27.September keine Mehrheiten finden und stehen auch kaum zur Wahl. Sie müssen in vielen
Bereichen erst entwickelt und die Bewegungen zu ihrer Durchsetzung aufgebaut werden.
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