SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2009, Seite 20

Polen: Der große Schwindel

Der Runde Tisch besiegelte Polens Weg in den Kapitalismus

von Jaroslaw Urbanski

Mit aller Macht wird heute versucht, das Jahr 1989 als das Ende der polnischen Geschichte darzustellen. Gemäß der These von Francis Fukuyama erklärt man uns, nun hätten wir erreicht, was wir schon immer wollten. Der Kapitalismus mit seinem freien Markt, die repräsentative Demokratie, das Privateigentum — all dies wäre immer schon unser Traum gewesen, das Ziel der Bürgerbewegung, die endlich zur Niederschlagung der Volksrepublik geführt hätte. Aber es gibt ein Problem — es stimmt nicht.
Wenn wir uns die Geschichte ansehen, können wir deutlich sehen, dass die Ziele der Solidarnosc-Bewegung recht unterschiedlich waren. Die neoliberal-konservative Ausrichtung, die heute Mainstream ist, dominierte anfangs keinesfalls — zumindest nicht in der Arbeiterschaft. Bis 1985 sprachen die Arbeiter sich für das Privateigentum höchstens in den Bereichen Handel und Dienstleistungen aus, in der Hoffnung, damit werde sich die Versorgungslage der Bevölkerung verbessern. Die Industrie sollte unter gesellschaftlicher Kontrolle bleiben. Ein wichtiges Ziel im ökonomischen Kampf war die Aneignung der Betriebe durch die Arbeiterselbstverwaltung.
Diese Forderung kam von der Basis, sie wurde von Teilen der Solidarnosc-Führung nicht akzeptiert und erregte bei der Nomenklatur der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) und bei den westlichen Gläubigern Polens schieres Entsetzen. Das Kriegsrecht wurde eingeführt, als das Gesetz über die Arbeiterselbstverwaltung in Kraft treten sollte und eine spontane Übernahme der Betriebe durch die Arbeiterschaft Wirklichkeit geworden wäre.
Der Putsch Jaruzelskis wurde nicht nur in Moskau, sondern auch in der Wall Street mit Erleichterung aufgenommen. Für sie war das herrschende Regime ein besserer Garant für die Rückzahlung der Schulden als Arbeiterräte, die erst mit den westlichen Banken und Staaten über eine Verlängerung der Rückzahlungen verhandelt hätten.

Das Schuldendiktat

Leere Regale in den Geschäften, vor ihnen mehrere hundert Meter lange Schlangen — das ist das Bild, das die ökonomische Unfähigkeit der Kommunisten darstellen soll. Dabei waren die wirtschaftlichen Probleme viel mehr der globalen Abhängigkeit Polens geschuldet als der Unfähigkeit oder Verschwendung der damaligen Eliten.
Nach einer kurzen Phase des Aufblühens der Wirtschaft während der Ära Gierek, als die Polen meinten, das sowjetische System könne mit den Leistungen der westeuropäischen Sozialdemokraten gleichziehen, kam es vor 1980 zum Niedergang. Dieser war das Ergebnis des Drucks der USA, die das Spiel der Wirtschaft diktierten. Sie erhöhten einseitig die Zinssätze für den Schuldendienst, sodass viele Staaten in eine Schuldenspirale gerieten.
Verschuldete Länder wie Polen mussten mehr Kapital akkumulieren, um ihren Verbindlichkeiten nachzukommen — und das führte meist zu einer Einschränkung des Konsums. Fallende Löhne, höhere Preise und leere Regalen waren die Konsequenz — und schließlich die Arbeiterunruhen 1980.
Die Idee von einer selbstverwalteten Republik (verankert im Programm der ersten Solidarnosc) ging nicht so sehr durch Druck aus Moskau, als durch Druck aus Washington verloren. Die PZPR-Regierung erfüllte die Aufgaben, zu denen sie von den Machthabern aus Ost und West genötigt wurden, perfekt. Dabei wurde eine basisorientierte gesellschaftliche Bewegung zerschlagen, die für die damaligen Ökonomen gefährliche Ideen hatte und die von Dissidenten aus anderen Ländern — auch aus westlichen — mit angehaltenem Atem beobachtet wurde.
1986 unterzeichnete die Regierung mit dem IWF einen Vertrag, in dem sie sich mit den geforderten Zahlungszielen einverstanden erklärte. Hauptsächlich ging es um die Rückzahlung der steigenden Schulden. Bis dahin hatte Polen schon 3 Milliarden Dollar mehr zurückgezahlt, als es (zumeist während der Gierek-Ära) geliehen hatte. Trotzdem stand Polen mit einigen Dutzend Milliarden Dollar in der Kreide.

Die Schocktherapie

Interessanterweise kam es Mitte der 80er Jahre auch in der Untergrund-Solidarnosc zu einem Meinungsumschwung. Nach der Zerschlagung der Arbeiterbewegung entfernten sich die Spitzen der Gewerkschaft immer weiter von ihrer Basis, übernahmen marktwirtschaftliche Positionen und verwarfen das Konzept der „Arbeiterselbstverwaltung”
Die Positionen der Regierung und der Opposition näherten sich einander schnell an, die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit waren nur noch Theaterdonner.
Schließlich kam es zur Verständigung am „Runden Tisch” — sie bekam den Applaus und Segen aller wichtigen Hauptstädte. Ihnen ging es schließlich um die Erhaltung des globalen „Status quo” Das Tor für einen kapitalistischen Weg in Osteuropa stand nun offen.
Die hier und da auftretenden schwachen Proteste 1988 wurde bei Gesprächen noch als Argumentationshilfe benutzt, waren an sich aber bedeutungslos. Zu dieser Zeit gab es keine gesellschaftliche Bewegung, die in der Lage gewesen wäre, die neu entstehenden Machtverhältnisse zu kontrollieren. Der Kapitalismus hat in dieser Beziehung mehr Jaruzelski als Walesa zu verdanken.
Im Übergang von 1989 auf 1990 wurde im Grunde genommen von einem Tag auf den anderen, ohne irgendeine gesellschaftliche Konsultation und ohne die mindeste Beachtung demokratischer Grundregeln, die kapitalistische „Schocktherapie” eingeführt.
Die Auswirkungen dieser Therapie (ehedem bekannt als Balcerowicz-Plan) waren schrecklich. Die Arbeitslosigkeit stieg um 2 Millionen Menschen. Die Kritiker der Planwirtschaft verteidigten sich mit der Behauptung, es habe zur Zeit des „Kommunismus” eine verdeckte Arbeitslosigkeit gegeben, weil zu viele Stellen besetzt gewesen seien. Allerdings gab es nach der „Transformation” nicht nur viele Millionen ohne Beschäftigung, es wurden auch große Teile der Bevölkerung aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen, indem man sie in Frühverrentung schickte.
Die Anzahl der Behinderten stieg nach 1989 um 50%. Jeder, der nur konnte, floh vor der Arbeitslosigkeit in irgendeine Krankheit. Rente und Arbeitsunfähigkeit wurden somit zu neuen Formen verdeckter Arbeitslosigkeit. Die Reallöhne fielen nach 1989 um 25%. Im Laufe eines Jahrzehnts sank die Anzahl der unter dem sozialen Minimum lebenden Menschen von 15 auf weit über 50%.
Die Leistungen der „Transformation” — etwa die Abschaffung der Zensur — haben Väter, die namentlich hervorgehoben werden. Alle ihre negativen Erscheinungen jedoch werden verschwiegen oder als Ergebnis nicht zu beeinflussender Umstände dargestellt — etwa die „unsichtbare Hand des Marktes” Diese „Hand” war es — und nicht konkrete Beschlüsse von konkreten Menschen —, die Männer in der Mitte ihres Lebens in mittelgroßen Städten, wo die letzen Betriebe zu Grunde gingen, massenhaft zum Strick getrieben haben.

Die zweite Welle

Den Protesten gegen die Auswirkungen der „Transformation” 1992/93 gelang es nicht, den Prozess aufzuhalten. Unter anderem deshalb, weil die Führung von Solidarnosc die Regierung unterstützte. Sie breitete einen Schutzschirm über sie aus und befriedete die gesellschaftliche Stimmung.
Die Gewerkschaft bezahlte das mit einem Verfall ihrer Popularität. Von den 2,2 Millionen Mitgliedern, die nach ihrer Reaktivierung beigetreten waren, kehrte ihr die Hälfte im Laufe von zehn Jahren wieder den Rücken. Die meisten Mitglieder, etwa eine halbe Million, verlor sie in den Jahren 1991/92. Heute zählt sie ungefähr 750000 Mitglieder — von ehemals 10 Millionen 1981! Viel schlimmer jedoch ist, dass Solidarnosc in diesen Jahren zu einem Symbol für den Verrat an den Interessen der Arbeiterschaft wurde — zur traurigen Gestalt eines Zauderers und Kapitulanten.
Nach der Zerschlagung der Organisationskraft der Arbeiterbewegung, was Solidarnosc 1980/81 ohne Zweifel war, erreicht uns heute die zweite Welle der negativen Folgen der „Transformation” Die sog. Flexibilisierung des Arbeitsmarkts hat zu einer Situation geführt, bei der die junge Generation eine stabile Beschäftigungsgarantie gar nicht mehr kennt. Die Zahl der Zeitarbeitsverträge stieg in den letzen Jahren auf 27%.
Eine Form, der Arbeitslosigkeit zu entgehen, die 2002/03 rund 20% betrug, ist die Arbeitsmigration. Was Polen nach dem 1.Mai 2004 (dem Datum seines Beitritts zur EU) anzubieten hat, verkündete unlängst ein polnischer Premierminister: „Wir werden länger, schwerer und für weniger Geld arbeiten!” Waren das unsere Ziele?

Aus: Trybuna Robotnicza, 2.4.2009 (Übersetzung: Norbert Kollenda). Der Autor ist Soziologe und ein Oppositioneller aus den 80er Jahren, Mitinitiator der Polnischen Gewerkschaft Inicjatywa Pracownicza (Arbeiterinitiative).


Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo

  Sozialistische Hefte 17   Sozialistische Hefte
für Theorie und Praxis

Sonderausgabe der SoZ
42 Seiten, 5 Euro,

Der Stand der Dinge
Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge   Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken   Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus   Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus   Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden   Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität





zum Anfang