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Mit aller Macht wird heute versucht, das Jahr 1989 als das Ende der
polnischen Geschichte darzustellen. Gemäß der These von Francis Fukuyama erklärt man
uns, nun hätten wir erreicht, was wir schon immer wollten. Der Kapitalismus mit seinem freien
Markt, die repräsentative Demokratie, das Privateigentum — all dies wäre immer schon
unser Traum gewesen, das Ziel der Bürgerbewegung, die endlich zur Niederschlagung der
Volksrepublik geführt hätte. Aber es gibt ein Problem — es stimmt nicht.
Wenn wir uns die Geschichte ansehen,
können wir deutlich sehen, dass die Ziele der Solidarnosc-Bewegung recht unterschiedlich waren.
Die neoliberal-konservative Ausrichtung, die heute Mainstream ist, dominierte anfangs keinesfalls
— zumindest nicht in der Arbeiterschaft. Bis 1985 sprachen die Arbeiter sich für das
Privateigentum höchstens in den Bereichen Handel und Dienstleistungen aus, in der Hoffnung,
damit werde sich die Versorgungslage der Bevölkerung verbessern. Die Industrie sollte unter
gesellschaftlicher Kontrolle bleiben. Ein wichtiges Ziel im ökonomischen Kampf war die
Aneignung der Betriebe durch die Arbeiterselbstverwaltung.
Diese Forderung kam von der Basis,
sie wurde von Teilen der Solidarnosc-Führung nicht akzeptiert und erregte bei der Nomenklatur
der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) und bei den westlichen Gläubigern Polens
schieres Entsetzen. Das Kriegsrecht wurde eingeführt, als das Gesetz über die
Arbeiterselbstverwaltung in Kraft treten sollte und eine spontane Übernahme der Betriebe durch
die Arbeiterschaft Wirklichkeit geworden wäre.
Der Putsch Jaruzelskis wurde nicht
nur in Moskau, sondern auch in der Wall Street mit Erleichterung aufgenommen. Für sie war das
herrschende Regime ein besserer Garant für die Rückzahlung der Schulden als
Arbeiterräte, die erst mit den westlichen Banken und Staaten über eine Verlängerung
der Rückzahlungen verhandelt hätten.
Leere Regale in den Geschäften, vor ihnen mehrere hundert Meter lange Schlangen — das
ist das Bild, das die ökonomische Unfähigkeit der Kommunisten darstellen soll. Dabei waren
die wirtschaftlichen Probleme viel mehr der globalen Abhängigkeit Polens geschuldet als der
Unfähigkeit oder Verschwendung der damaligen Eliten.
Nach einer kurzen Phase des
Aufblühens der Wirtschaft während der Ära Gierek, als die Polen meinten, das
sowjetische System könne mit den Leistungen der westeuropäischen Sozialdemokraten
gleichziehen, kam es vor 1980 zum Niedergang. Dieser war das Ergebnis des Drucks der USA, die das
Spiel der Wirtschaft diktierten. Sie erhöhten einseitig die Zinssätze für den
Schuldendienst, sodass viele Staaten in eine Schuldenspirale gerieten.
Verschuldete Länder wie Polen
mussten mehr Kapital akkumulieren, um ihren Verbindlichkeiten nachzukommen — und das
führte meist zu einer Einschränkung des Konsums. Fallende Löhne, höhere Preise
und leere Regalen waren die Konsequenz — und schließlich die Arbeiterunruhen 1980.
Die Idee von einer selbstverwalteten
Republik (verankert im Programm der ersten Solidarnosc) ging nicht so sehr durch Druck aus Moskau,
als durch Druck aus Washington verloren. Die PZPR-Regierung erfüllte die Aufgaben, zu denen sie
von den Machthabern aus Ost und West genötigt wurden, perfekt. Dabei wurde eine
basisorientierte gesellschaftliche Bewegung zerschlagen, die für die damaligen Ökonomen
gefährliche Ideen hatte und die von Dissidenten aus anderen Ländern — auch aus
westlichen — mit angehaltenem Atem beobachtet wurde.
1986 unterzeichnete die Regierung
mit dem IWF einen Vertrag, in dem sie sich mit den geforderten Zahlungszielen einverstanden
erklärte. Hauptsächlich ging es um die Rückzahlung der steigenden Schulden. Bis dahin
hatte Polen schon 3 Milliarden Dollar mehr zurückgezahlt, als es (zumeist während der
Gierek-Ära) geliehen hatte. Trotzdem stand Polen mit einigen Dutzend Milliarden Dollar in der
Kreide.
Interessanterweise kam es Mitte der 80er Jahre auch in der Untergrund-Solidarnosc zu einem
Meinungsumschwung. Nach der Zerschlagung der Arbeiterbewegung entfernten sich die Spitzen der
Gewerkschaft immer weiter von ihrer Basis, übernahmen marktwirtschaftliche Positionen und
verwarfen das Konzept der „Arbeiterselbstverwaltung”
Die Positionen der Regierung und der
Opposition näherten sich einander schnell an, die kriegerischen Auseinandersetzungen in der
Öffentlichkeit waren nur noch Theaterdonner.
Schließlich kam es zur
Verständigung am „Runden Tisch” — sie bekam den Applaus und Segen aller
wichtigen Hauptstädte. Ihnen ging es schließlich um die Erhaltung des globalen
„Status quo” Das Tor für einen kapitalistischen Weg in Osteuropa stand nun offen.
Die hier und da auftretenden
schwachen Proteste 1988 wurde bei Gesprächen noch als Argumentationshilfe benutzt, waren an
sich aber bedeutungslos. Zu dieser Zeit gab es keine gesellschaftliche Bewegung, die in der Lage
gewesen wäre, die neu entstehenden Machtverhältnisse zu kontrollieren. Der Kapitalismus
hat in dieser Beziehung mehr Jaruzelski als Walesa zu verdanken.
Im Übergang von 1989 auf 1990
wurde im Grunde genommen von einem Tag auf den anderen, ohne irgendeine gesellschaftliche
Konsultation und ohne die mindeste Beachtung demokratischer Grundregeln, die kapitalistische
„Schocktherapie” eingeführt.
Die Auswirkungen dieser Therapie
(ehedem bekannt als Balcerowicz-Plan) waren schrecklich. Die Arbeitslosigkeit stieg um 2 Millionen
Menschen. Die Kritiker der Planwirtschaft verteidigten sich mit der Behauptung, es habe zur Zeit des
„Kommunismus” eine verdeckte Arbeitslosigkeit gegeben, weil zu viele Stellen besetzt
gewesen seien. Allerdings gab es nach der „Transformation” nicht nur viele Millionen
ohne Beschäftigung, es wurden auch große Teile der Bevölkerung aus dem Arbeitsprozess
ausgeschlossen, indem man sie in Frühverrentung schickte.
Die Anzahl der Behinderten stieg
nach 1989 um 50%. Jeder, der nur konnte, floh vor der Arbeitslosigkeit in irgendeine Krankheit.
Rente und Arbeitsunfähigkeit wurden somit zu neuen Formen verdeckter Arbeitslosigkeit. Die
Reallöhne fielen nach 1989 um 25%. Im Laufe eines Jahrzehnts sank die Anzahl der unter dem
sozialen Minimum lebenden Menschen von 15 auf weit über 50%.
Die Leistungen der
„Transformation” — etwa die Abschaffung der Zensur — haben Väter, die
namentlich hervorgehoben werden. Alle ihre negativen Erscheinungen jedoch werden verschwiegen oder
als Ergebnis nicht zu beeinflussender Umstände dargestellt — etwa die „unsichtbare
Hand des Marktes” Diese „Hand” war es — und nicht konkrete Beschlüsse
von konkreten Menschen —, die Männer in der Mitte ihres Lebens in mittelgroßen
Städten, wo die letzen Betriebe zu Grunde gingen, massenhaft zum Strick getrieben haben.
Den Protesten gegen die Auswirkungen der „Transformation” 1992/93 gelang es nicht,
den Prozess aufzuhalten. Unter anderem deshalb, weil die Führung von Solidarnosc die Regierung
unterstützte. Sie breitete einen Schutzschirm über sie aus und befriedete die
gesellschaftliche Stimmung.
Die Gewerkschaft bezahlte das mit
einem Verfall ihrer Popularität. Von den 2,2 Millionen Mitgliedern, die nach ihrer
Reaktivierung beigetreten waren, kehrte ihr die Hälfte im Laufe von zehn Jahren wieder den
Rücken. Die meisten Mitglieder, etwa eine halbe Million, verlor sie in den Jahren 1991/92.
Heute zählt sie ungefähr 750000 Mitglieder — von ehemals 10 Millionen 1981! Viel
schlimmer jedoch ist, dass Solidarnosc in diesen Jahren zu einem Symbol für den Verrat an den
Interessen der Arbeiterschaft wurde — zur traurigen Gestalt eines Zauderers und Kapitulanten.
Nach der Zerschlagung der
Organisationskraft der Arbeiterbewegung, was Solidarnosc 1980/81 ohne Zweifel war, erreicht uns
heute die zweite Welle der negativen Folgen der „Transformation” Die sog.
Flexibilisierung des Arbeitsmarkts hat zu einer Situation geführt, bei der die junge Generation
eine stabile Beschäftigungsgarantie gar nicht mehr kennt. Die Zahl der Zeitarbeitsverträge
stieg in den letzen Jahren auf 27%.
Eine Form, der Arbeitslosigkeit zu
entgehen, die 2002/03 rund 20% betrug, ist die Arbeitsmigration. Was Polen nach dem 1.Mai 2004 (dem
Datum seines Beitritts zur EU) anzubieten hat, verkündete unlängst ein polnischer
Premierminister: „Wir werden länger, schwerer und für weniger Geld arbeiten!”
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