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Der 20.Jahrestag von 1989 regt zum Nachdenken über das
wiedervereinigte Deutschland an. (Auch) für Frauen ist er Anlass, Bilanz darüber zu
ziehen, was aus den Ängsten und Hoffnungen, die mit der Wiedervereinigung verbunden
waren, geworden ist.
Gisela Notz sprach mit HERTA
KUHRIG, die von 1968 bis 1977 Leiterin der Forschungsgruppe „Die Frau in der
sozialistischen Gesellschaft” und ab 1981 Vorsitzende des gleichnamigen
Wissenschaftlichen Rates bei der Akademie der Wissenschaften der DDR war. 1990, im Jahr der
Wiedervereinigung, ging sie im Alter von 60 Jahren in den „Ruhestand” Ruhe gab sie
bis jetzt nicht, sie ist heute Vorsitzende der Seniorenvertretung in Treptow-Köpenick.
Du hattest in der DDR eine relativ verantwortungsvolle frauenpolitische Funktion. Wie
siehst du die Situation 20 Jahre nach der Wende?
In Bezug auf die DDR habe ich in den vergangenen 20 Jahren immer mehr den Eindruck
gewonnen, dass es offenbar so viele DDRs gegeben hat, wie es DDR-Bürger gab. Jeder der 17
Millionen Menschen hat seine Erfahrungen, seine Erinnerungen, das ist normal — aber dass
die subjektiven Erlebnisse fürs Ganze genommen werden, ist das auch normal? Es
könnte ganz interessant sein, denn es könnte die unterschiedlichen Lebenswelten und
die unterschiedlichen Erfahrungen sichtbar machen. Jemand, der oder die 20 Jahre lang
erwerbslos war und in prekären Verhältnissen leben musste, sieht auch die (DDR-
)Vergangenheit anders, als eine, die 20 Jahre lang relativ gut leben konnte. Das DDR-Bild ist
nicht zum geringen Teil davon geprägt, wie ich die gegenwärtige Gesellschaft
erfahre, ob krisenerschüttert oder relativ stabil.
Vom dänischen Philosophen
Søren Kierkegaard stammt die Erkenntnis: „Verstehen kann man das Leben nur
rückwärts. Leben muss man es aber vorwärts.” So gesehen war für mich
der Zusammenbruch der DDR ein Prozess, der sich schon längere Zeit bemerkbar machte. Es
war die Agonie eines Systems, das gescheitert ist — nicht zwischen Elbe und Oder,
sondern zwischen Elbe und Wladiwostok. Und es ging ohne Blutvergießen, das sollten wir
nicht vergessen. Die Instrumente des Widerstands waren Gebetsbücher und
Montagsdemonstrationen, es waren aber auch die Versammlungs-Protokolle, mit denen gegen das
Verbot der Zeitschrift Sputnik protestiert wurde. Selbst den Nichtdissidenten wurde klar, dass
die Entwicklungsfähigkeit des Systems erschöpft war. Es fielen keine Schüsse.
Auch Egon Krenz hat seine Befehlsgewalt nicht ausgenutzt.
Natürlich weiß ich,
dass mein Leben endlich ist, dennoch habe ich einen Traum: Ich wünsche mir, dass ich in
hundert Jahren einmal zwei bis drei Wochen „Urlaub” bekäme. Dann würde
ich in die Mediathek gehen und nachlesen, wie die objektivierte Geschichtswissenschaft die
Epoche, die wir durchlebten — den ersten Versuch des realen Sozialismus —
beschreibt. Gegenwärtig müssen viele beweisen, dass sie die Nase bei der
„Revolution” am Weitesten vorne hatten.
Welche Hoffnungen und Befürchtungen hattest du zu den Zeiten der Wende?
Für mich waren es die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, den meine Generation noch
erlebte, die ein radikaler Aufbruch gewesen waren; er ließ große Hoffnungen
entstehen, auch im Bezug auf eine ernsthafte Politik, die die Emanzipation der Frauen
ermöglichen und notwendig machen würde — nicht nur, sondern auch und vor allem
auf der rechtlichen, politisch-gesellschaftlichen und auf der psychosozialen Ebene.
Schließlich war ich das erste Mitglied meiner Arbeiterfamilie, das studieren konnte. Ich
lernte während des Studiums der Gesellschaftswissenschaften in Leipzig so viel Neues und
war überzeugt davon, dass die Welt durchschaubar, erklärbar und veränderbar
ist. Große Hoffnungen setzte ich in den Sozialismus. Ich wollte mithelfen, ein
sozialistisches Haus zu bauen. Leider hatten sich offenbar grundlegende Fehler in die
vorgegebenen Baupläne eingeschlichen. Das sozialistische Haus erwies sich als Kartenhaus.
Ich musste Abschied von vielen Träumen nehmen. Die Chance wurde verspielt.
Auch sehe ich heute, dass mein
Menschenbild in positiver wie negativer Hinsicht völlig einseitig war. Ich musste
erkennen, dass der Mensch zu allem fähig ist und die Fähigkeiten, die er hat,
irgendwann und irgendwo einsetzt. Vor wenigen Tagen haben wir des Jahrestags von Hiroshima
gedacht!
War der Umbruch von 1989 eine Revolution?
Die Frage ist doch, was wir unter einer Revolution verstehen. Wenn wir unter Revolution
eine tiefgreifende Veränderung eines gesamten gesellschaftlichen und politischen Systems
hin zu einem anderen, „besseren” verstehen, so ist es 1989 eher so gewesen, dass
die alten Macht- und Eigentumsverhältnisse wieder hergestellt wurden. Die BRD hatte die
höhere Arbeitsproduktivität, und sie hat sich durchgesetzt. Die Menschen können
sich als Meister im Verdrängen erweisen. Sie versuchen, das Bestehende schön zu
reden, anstatt ihm brutal ins Auge zu sehen. Bei differenzierter Betrachtung wundert es mich
schon, dass es in einer Krisensituation eine Frau — und noch dazu eine in der DDR
sozialisierte — war, die als fähig betrachtet wurde, die Regierungsmacht der CDU zu
sichern. Wie werden die Historiker das in 100 Jahren einschätzen?
Damit es im Zuge der
Jubiläumsfeierlichkeiten nicht völlig dem Vergessen anheim fällt, sei doch
daran erinnert, dass die Bewegung, die zum Herbst 1989 führte, sich nicht das Ziel
gesetzt hatte, den Sozialismus zu stürzen. „Wir sind das Volk”, darin
drückte sich Protest gegen die undemokratischen Herrschaftsmethoden des realen
Sozialismus aus, nicht die Sehnsucht nach der deutschen Einheit. Die Losung „Wir sind
ein Volk” kam später. Die Monate bis zum März 1990, das war die Zeit
hoffnungsvoller demokratischer Bewegungen voller Visionen.
Ohne Frauen ist kein Staat zu machen, war eine Parole der Wendezeit...
Es waren vor allem auch die Frauen, die einen anderen, besseren Sozialismus — einen
antipatriarchalischen — wollten. Als sich die „Wiedervereinigung”
abzeichnete, äußerten sie konkrete Ängste. Bereits geraume Zeit vor deren
tatsächlichem Vollzug hieß es im „Manifest für eine autonome
Frauenbewegung": „Wiedervereinigung” sei, wenn „die Diktatur des
Politbüros durch die Diktatur des Bundeskanzleramts” ersetzt würde; in der
Frauenfrage bedeute das „drei Schritte zurück. Es hieße überspitzt
gesagt: Frauen zurück an den Herd. Es hieße: wieder kämpfen um das Recht auf
Arbeit, kämpfen um einen Platz für den Kindergarten, um die Schulspeisung. Es
hieße, vieles mühsam Errungene aufzugeben, statt es auf eine neue qualitative Stufe
zu heben."
Im Einigungsvertrag von 1990
stand dann: „Es ist die Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, die Gesetzgebung zur
Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen weiter zu entwickeln.” Nach 20
Jahren wissen wir, dass von „Weiterentwicklung” kaum die Rede sein kann, in
mancher Beziehung eher von einer Rückentwicklung.
In Bezug auf das
Selbstbewusstsein der DDR-Bevölkerung, besonders der Frauen, habe ich mich
getäuscht. Es war schon überraschend, dass sie sich vieles einfach nehmen
ließen, die Wiedereinführung des §218 hinnahmen, ihr Erwerbsbeteiligung —
zumindest vorübergehend — in Frage stellten und das Familiengesetz, das die
Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau in der Familie festgeschrieben hatte, aufgaben.
Plötzlich kam mit Hartz IV und dem ALG II im Januar 2005 die
„Bedarfsgemeinschaft” Wo war das Recht der Frau auf die ökonomische
Unhabhängigkeit vom Mann geblieben? Dass das quasi widerspruchslos hingenommen wurde ist
für mich eine schlimme Erfahrung.
Ich war davon überzeugt,
dass die Berufstätigkeit der Frauen als selbstverständlich gilt und die Ehe
aufgehört hat, ein Versorgungsinstrument zu sein. Dieser Riesenerfolg wird mit der
„Bedarfsgemeinschaft” sang und klanglos über Bord geworfen. In der DDR wurde
die Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft gelebt, und keine hatte ein schlechtes Gewissen,
die Kinder einem Kindergarten anzuvertrauen. Heute können sich Frauen wieder
öffentlich äußern, die berufstätige Mütter als Rabenmütter
diskriminieren. Aber auch die Diskussion um die „Vereinbarkeit von Beruf und
Familie” hört sich so an, als sei das eine neue Erfindung. Sie war in der DDR
Grundpfeiler der Familienpolitik. Jetzt schauen Familienforscherinnen und -politikerinnen nach
Finnland, weil das schicker ist, als auf die DDR zu verweisen. Auch Gender Mainstreaming finde
ich nicht absolut neu. Die Doppelstrategie zur Durchsetzung der Geschlechtergerechtigkeit,
einerseits Frauenstrukturen aufzubauen und Frauenförderung zu betreiben, andererseits
Frauenpolitik in alle Politikbereiche zu integrieren, war in der DDR weitgehend
selbstverständlich.
Du warst bei der Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes dabei. Was ist
daraus geworden?
Das war am 3.Dezember 1989, als auf einer Veranstaltung in der Ostberliner Volksbühne
das „Manifest für eine autonome Frauenbewegung” verabschiedet und beschlossen
wurde, eine politische Vereinigung zu gründen, um am Zentralen Runden Tisch teilnehmen zu
können, der am 7.Dezember 1989 erstmals zusammentreten sollte. Der Unabhängige
Frauenverband (UFV) wurde am 17.Februar 1990 auf einem Kongress in Ostberlin gegründet.
Er setzte sich bewusst vom DDR-weiten Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) ab, er
verstand sich als Sammelbecken der autonomen Frauenbewegung, als Netzwerk und als Dachverband.
Der UFV drang darauf, dass Frauen ihre Stimmen in den Veränderungsprozess einbringen
konnten. Vor allem ging es ihm darum, dass die Errungenschaften, die Frauen in der DDR hatten
— §218, Teilhabe an der existenzsichernden Erwerbsarbeit — im
Einigungsprozess nicht verloren gehen sollten.
Die Zusammenarbeit des UFV mit
den Frauenbewegungen in Westdeutschland war zunächst gut. Verständlicherweise gab es
auch Schwierigkeiten und Missverständnisse. Man hatte sich Illusionen gemacht, dass es
trotz 40 Jahren unterschiedlicher Sozialisation ein gemeinsames und gleichberechtigtes
Vorgehen geben könnte. Ab September 1991 arbeitete der Verband als eingetragener Verein
weiter. Im fortschreitenden Prozess der „Herstellung der deutschen Einheit” verlor
er mehr und mehr an Bedeutung. Die Bedingungen hatten sich geändert. Im Sommer 1998
löste er sich auf.
Gemeinsam mit dem Köln-
Bonner Streikkomitee hat er am 8.März 1994 den Frauenstreik organisiert. Lautstark
protestierten die Frauen in Ost und West damals gegen den Abbau von Grundrechten, von
Sozialleistungen und gegen die wachsende Armut von Frauen, die Zurückdrängung
bereits erreichter Frauenrechte, die Zerstörung der Umwelt und die Vorbereitung deutscher
Kriegsbeteiligung.
Siehst du, dass sich die
Unterschiede zwischen Ost und West in der Zwischenzeit verwischt haben?
Ich habe hoffentlich gelernt, dass Pauschalurteile nicht geeignet sind, soziale Prozesse
real widerzuspiegeln. Differenzieren ist angesagt. Frauen sind nicht durchgängig die
„Verliererinnen der Einheit” Es gibt auch Frauen, die im kapitalistischen System
ihren Platz gefunden haben, manche sogar auf den ersten Rängen. Doch immer noch
größer ist die Zahl derer, die keinen Erwerbsarbeitsplatz finden konnten, ihn
verloren haben oder ständig in Angst um dessen Verlust leben. Solange noch
unterschiedliche Tarife in Ost und West gelten und der Rentenwert Ost niedriger ist, sind wir
sicher weit davon entfernt, ein „einig Volk von Schwestern” zu sein.
Positiv für mich
persönlich sehe ich, dass ich neue Kontakte und Freundschaften geknüpft habe mit
Frauen, von denen ich zuvor nur aus Büchern lesen konnte. Ein echter Gewinn, vor allem
menschlich.
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
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Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
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