SoZ - Sozialistische Zeitung |
Für die indischen Eliten ist Arundhati Roy ein enfant
terrible. Ihr internationaler Erfolgsroman Der Gott der kleinen Dinge, für den sie 1997
den renommierten Booker-Preis erhielt, ihre vielen politischen Essays und ihr politisches
Engagement haben dazu wesentlich beigetragen.Roy wurde 1959 in der nordostindischen Stadt
Shillong geboren, wuchs aber im südindischen Bundesstaat Kerala auf. Roy war Hippie in
Goa, Drehbuchautorin, Schauspielerin und studierte Architektur, unter anderem in Florenz. Sie
protestierte gegen Staudammprojekte, war in Polizeigewahrsam und im Gefängnis. Auch
für westliche Regierungen ist die weltberühmte Autorin mittlerweile eine persona non
grata. Denn spätestens seit dem Krieg gegen Afghanistan hat Arundhati Roy ihren Weltruhm
genutzt, um auch eine vehemente Kritikerin der westlichen Wirtschafts- und Militärpolitik
zu werden.
Arundhati Roy lebt heute in
einer Mittelschichtsiedlung im Süden Delhis. Ihre Dachgeschosswohnung mit Terrasse und
Blick über die Megacity hat die ehemalige Architektin selbst entworfen. Herausgekommen
ist ein Stil, der indische und westliche Innenarchitektur miteinander vereint. Reich verzierte
Sitzkissen liegen auf großflächigen Terrakottafliesen, auf der Anrichte in der
geräumigen Wohnküche steht eine Espressomaschine und mitten im Arbeitszimmer ein
gläserner Schreibtisch.
Gemessen an ihren
Möglichkeiten lebt Arundhati Roy in bescheidenen Verhältnissen. Eine halbe Million
britische Pfund erhielt sie Mitte der 90er Jahre als Vorschuss für ihren Roman. In Indien
ist das sehr viel Geld. Einen großen Teil davon spendete sie der Bewegung gegen den Bau
des umstrittenen Narmada-Staudamms im Bundesstaat Gujarat. „Ich bin beschämt,
wieviel Geld mein Roman eingebracht hat”, sagt sie, „es ist, als wäre jedes
Gefühl im Gott der kleinen Dinge für eine Silbermünze gehandelt worden, als
hätte ich mich selbst in eine silberne Figur mit einem kalten, silbernen Herzen
verwandelt.” Viel braucht sie nicht für sich selbst, lehnt Luxus ab und spendet bis
heute für politische Initiativen. „Eingeklemmt zu sein in einem engen Kokon von
Erfolg, Ruhm und Wohlstand ist für mich ein furchtbarer Albtraum”, so Roy. Aber sie
will auch von den in Indien starken sozialen Bewegungen, für deren Anliegen sie sich
immer wieder einsetzt, nicht instrumentalisiert werden. „Es ist eine Art Tanz, bei dem
ich versuche, meine Unabhängigkeit zu wahren und dennoch ihre politischen Anliegen zu
verstehen und zu unterstützen”, beschreibt sie den Balanceakt. „Als
Schriftstellerin will ich nicht mit den überbordenden Erwartungen anderer Leute belastet
sein. Ich will so frei sein, auch manchmal jemanden zu enttäuschen."
Im November wird Arundhati Roy
50 Jahre alt. Auch wenn sich in ihrem dunklen Haar erste graue Strähnen zeigen, wirkt die
Schriftstellerin noch immer jung und lebendig. Sie nicht zur Zynikern oder gar zu einer
Apologetin der Macht geworden. Sie hat ein ganz anderes Problem: Sie will einen neuen Roman
schreiben. Es ist mehr als zehn Jahre her, dass ihr erster und bisher einziger Roman, der Gott
der kleinen Dinge, veröffentlicht und zum Welterfolg wurde. Immer wieder nimmt sie sich
vor, keine Sachtexte zu schreiben: Die Erfahrungen, die sie im letzten Jahrzehnt gesammelt
habe, setzten Gedanken frei, die den Rahmen eines politischen Essays sprengten.
„Manchmal muss man Romane schreiben, weil man gewisse Dinge nur in einer fiktiven
Geschichte ausdrücken kann. Meine politischen Essays entstehen aus Diskussionen mit
vielen Menschen, sind gewissermaßen ein Gemeinschaftsprodukt, aber Romane sind ein
großes Geheimnis.”
Die politischen Ereignisse
lassen ihr allerdings kaum Zeit dazu. Sich ihrer Fantasie zu widmen und an ihrem
„großen Geheimnis” zu arbeiten, erscheint ihr deshalb manchmal als Luxus.
Denn Immer wieder holt sie die Wirklichkeit ein: außergerichtliche Hinrichtungen durch
die Polizei, der wachsende Einfluss und die Gewalt der Hindunationalisten gegen Minderheiten
— das sind die Themen, zu denen sie in ihren Essays Stellung bezieht.
Der terroristische Angriff auf
Mumbai war Gegenstand ihres jüngsten Essays, Das Monster im Spiegel. Darin kritisiert sie
die Destruktivität des Terrors, weist aber auch auf drei unbewältigte Ereignisse in
der zeitgenössischen Geschichte Indiens hin, die junge Muslime regelrecht in die Arme von
Terrororganisationen treiben: die militärische Besetzung Kaschmirs, die Zerstörung
der Babri Moschee 1992 und das ungesühnte Massaker von Gujarat im Jahre 2002, das mehr
als 1000 Muslime mit dem Leben bezahlen mussten, darunter Frauen und Kinder. Salman Rushdie,
ebenfalls Träger des Booker-Literaturpreises, kritisierte ihren Essay. Sie wecke die
Illusion, „der Terrorismus würde von der Welt verschwinden, wäre einmal die
Ungerechtigkeit beseitigt”, polemisierte er auf einer Literatenveranstaltung in den USA.
Verhasst ist Arundhati Roy den
Hindunationalisten der BJP, der größten indischen Oppositionspartei. Deren
Spitzenkandidat Lal Krishna Advani forderte auf Wahlkampfveranstaltungen sogar das Verbot
eines ihrer Bücher. Im vergangenen Sommer hatte sich Arundhati Roy für ein
Referendum über die Unabhängigkeit in Kaschmir ausgesprochen. Dort ist eine halbe
Million indischer Soldaten und Paramilitärs stationiert, Gewalt gegen die
Zivilbevölkerung ist an der Tagesordnung. Die Reaktionen waren heftig. „In
sämtlichen Fernsehprogrammen hieß es, jetzt hätte ich die Grenze endgültig
überschritten, und alle Politiker — von der BJP bis zur Kongresspartei —
forderten, mich ins Gefängnis zu stecken und den Schlüssel zur Zelle gleich
wegzuwerfen, ich sei eine Verräterin. Ich trage das als Ehrenauszeichnung. Es würde
mich beunruhigen, wenn sie aufstehen und Beifall klatschen würden."
Dennoch verzichtet Arundhati
Roy auf Bodyguards. Der Zuneigung vieler Inder fühlt sie sich sicher. Schreiben ist
für sie mehr als die Jagd nach Rezensionen, Auszeichnungen und Preisen. „Den Puls
zu fühlen, den blanken Nerv, das ist für mich Schreiben. Das ist eine Art Kampf, und
zwar ein sehr lebendiger."
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten
und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo
Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis Sonderausgabe der SoZ 42 Seiten, 5 Euro, |
||||
Der Stand der Dinge Perry Anderson überblickt den westpolitischen Stand der Dinge Gregory Albo untersucht den anhaltenden politischen Erfolg des Neoliberalismus und die Schwäche der Linken Alfredo Saa-Fidho verdeutlicht die Unterschiede der keynsianischen und der marxistischen Kritik des Neoliberalismus Ulrich Duchrow fragt nach den psychischen Mechanismen und Kosten des Neoliberlismus Walter Benn Michaelis sieht in Barack Obama das neue Pin-Up des Neoliberalismus und zeigt, dass es nicht reicht, nur von Vielfalt zu reden Christoph Jünke über Karl Liebknechts Aktualität |