SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2009, Seite 23

"Schreiben, das ist ein lebendiger Kampf"

Gerhard Klas auf Besuch bei Arundhati Roy

Für die indischen Eliten ist Arundhati Roy ein enfant terrible. Ihr internationaler Erfolgsroman Der Gott der kleinen Dinge, für den sie 1997 den renommierten Booker-Preis erhielt, ihre vielen politischen Essays und ihr politisches Engagement haben dazu wesentlich beigetragen.Roy wurde 1959 in der nordostindischen Stadt Shillong geboren, wuchs aber im südindischen Bundesstaat Kerala auf. Roy war Hippie in Goa, Drehbuchautorin, Schauspielerin und studierte Architektur, unter anderem in Florenz. Sie protestierte gegen Staudammprojekte, war in Polizeigewahrsam und im Gefängnis. Auch für westliche Regierungen ist die weltberühmte Autorin mittlerweile eine persona non grata. Denn spätestens seit dem Krieg gegen Afghanistan hat Arundhati Roy ihren Weltruhm genutzt, um auch eine vehemente Kritikerin der westlichen Wirtschafts- und Militärpolitik zu werden.
Arundhati Roy lebt heute in einer Mittelschichtsiedlung im Süden Delhis. Ihre Dachgeschosswohnung mit Terrasse und Blick über die Megacity hat die ehemalige Architektin selbst entworfen. Herausgekommen ist ein Stil, der indische und westliche Innenarchitektur miteinander vereint. Reich verzierte Sitzkissen liegen auf großflächigen Terrakottafliesen, auf der Anrichte in der geräumigen Wohnküche steht eine Espressomaschine und mitten im Arbeitszimmer ein gläserner Schreibtisch.
Gemessen an ihren Möglichkeiten lebt Arundhati Roy in bescheidenen Verhältnissen. Eine halbe Million britische Pfund erhielt sie Mitte der 90er Jahre als Vorschuss für ihren Roman. In Indien ist das sehr viel Geld. Einen großen Teil davon spendete sie der Bewegung gegen den Bau des umstrittenen Narmada-Staudamms im Bundesstaat Gujarat. „Ich bin beschämt, wieviel Geld mein Roman eingebracht hat”, sagt sie, „es ist, als wäre jedes Gefühl im Gott der kleinen Dinge für eine Silbermünze gehandelt worden, als hätte ich mich selbst in eine silberne Figur mit einem kalten, silbernen Herzen verwandelt.” Viel braucht sie nicht für sich selbst, lehnt Luxus ab und spendet bis heute für politische Initiativen. „Eingeklemmt zu sein in einem engen Kokon von Erfolg, Ruhm und Wohlstand ist für mich ein furchtbarer Albtraum”, so Roy. Aber sie will auch von den in Indien starken sozialen Bewegungen, für deren Anliegen sie sich immer wieder einsetzt, nicht instrumentalisiert werden. „Es ist eine Art Tanz, bei dem ich versuche, meine Unabhängigkeit zu wahren und dennoch ihre politischen Anliegen zu verstehen und zu unterstützen”, beschreibt sie den Balanceakt. „Als Schriftstellerin will ich nicht mit den überbordenden Erwartungen anderer Leute belastet sein. Ich will so frei sein, auch manchmal jemanden zu enttäuschen."
Im November wird Arundhati Roy 50 Jahre alt. Auch wenn sich in ihrem dunklen Haar erste graue Strähnen zeigen, wirkt die Schriftstellerin noch immer jung und lebendig. Sie nicht zur Zynikern oder gar zu einer Apologetin der Macht geworden. Sie hat ein ganz anderes Problem: Sie will einen neuen Roman schreiben. Es ist mehr als zehn Jahre her, dass ihr erster und bisher einziger Roman, der Gott der kleinen Dinge, veröffentlicht und zum Welterfolg wurde. Immer wieder nimmt sie sich vor, keine Sachtexte zu schreiben: Die Erfahrungen, die sie im letzten Jahrzehnt gesammelt habe, setzten Gedanken frei, die den Rahmen eines politischen Essays sprengten. „Manchmal muss man Romane schreiben, weil man gewisse Dinge nur in einer fiktiven Geschichte ausdrücken kann. Meine politischen Essays entstehen aus Diskussionen mit vielen Menschen, sind gewissermaßen ein Gemeinschaftsprodukt, aber Romane sind ein großes Geheimnis.”
Die politischen Ereignisse lassen ihr allerdings kaum Zeit dazu. Sich ihrer Fantasie zu widmen und an ihrem „großen Geheimnis” zu arbeiten, erscheint ihr deshalb manchmal als Luxus. Denn Immer wieder holt sie die Wirklichkeit ein: außergerichtliche Hinrichtungen durch die Polizei, der wachsende Einfluss und die Gewalt der Hindunationalisten gegen Minderheiten — das sind die Themen, zu denen sie in ihren Essays Stellung bezieht.
Der terroristische Angriff auf Mumbai war Gegenstand ihres jüngsten Essays, Das Monster im Spiegel. Darin kritisiert sie die Destruktivität des Terrors, weist aber auch auf drei unbewältigte Ereignisse in der zeitgenössischen Geschichte Indiens hin, die junge Muslime regelrecht in die Arme von Terrororganisationen treiben: die militärische Besetzung Kaschmirs, die Zerstörung der Babri Moschee 1992 und das ungesühnte Massaker von Gujarat im Jahre 2002, das mehr als 1000 Muslime mit dem Leben bezahlen mussten, darunter Frauen und Kinder. Salman Rushdie, ebenfalls Träger des Booker-Literaturpreises, kritisierte ihren Essay. Sie wecke die Illusion, „der Terrorismus würde von der Welt verschwinden, wäre einmal die Ungerechtigkeit beseitigt”, polemisierte er auf einer Literatenveranstaltung in den USA.
Verhasst ist Arundhati Roy den Hindunationalisten der BJP, der größten indischen Oppositionspartei. Deren Spitzenkandidat Lal Krishna Advani forderte auf Wahlkampfveranstaltungen sogar das Verbot eines ihrer Bücher. Im vergangenen Sommer hatte sich Arundhati Roy für ein Referendum über die Unabhängigkeit in Kaschmir ausgesprochen. Dort ist eine halbe Million indischer Soldaten und Paramilitärs stationiert, Gewalt gegen die Zivilbevölkerung ist an der Tagesordnung. Die Reaktionen waren heftig. „In sämtlichen Fernsehprogrammen hieß es, jetzt hätte ich die Grenze endgültig überschritten, und alle Politiker — von der BJP bis zur Kongresspartei — forderten, mich ins Gefängnis zu stecken und den Schlüssel zur Zelle gleich wegzuwerfen, ich sei eine Verräterin. Ich trage das als Ehrenauszeichnung. Es würde mich beunruhigen, wenn sie aufstehen und Beifall klatschen würden."
Dennoch verzichtet Arundhati Roy auf Bodyguards. Der Zuneigung vieler Inder fühlt sie sich sicher. Schreiben ist für sie mehr als die Jagd nach Rezensionen, Auszeichnungen und Preisen. „Den Puls zu fühlen, den blanken Nerv, das ist für mich Schreiben. Das ist eine Art Kampf, und zwar ein sehr lebendiger."


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