SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2009, Seite 24

Mord & Todschlag

Vikram Chandra: Der Pate von Bombay, Berlin: Aufbau, 2009, 1359 S., 16,95 Euro

Als Danny Boyles Film Slumdog Millionaire im Frühjahr in Indiens Kinos anlief, fiel er nicht nur beim ansonsten filmbegeisterten Publikum durch. Das lag nicht nur an der ungewohnten Kürze des Streifens — unter drei Stunden ist eine normaler Bollywoodproduktion nicht zu haben — und an seinen wenigen Tanz- und Songelementen. Dem Publikum und erst recht dem Filmestablishment war die harte Darstellung des Überlebenskampfes von Kindern in den Slums der Millionenstädte fremd. Man fühlte sich als Kulturnation diskriminiert durch die einseitige Kritik von Polizeigewalt, Korruption und Missbrauch. Nicht anders würde es einer Verfilmung des Romans von Vikram Chandra Der Pate von Bombay gehen, der noch drastischer die Verflechtungen von Politik, organisiertem Verbrechen, Religion und Vernichtungs- und Erlösungsfantasien beschreibt.
Sartaj Singh, einer der wenigen Sikh-Inspektoren in Mumbai, ist ein aufrechter Polizist. Doch so ganz kann er dem Vorbild seines Vaters nicht folgen. Selbst unkorrumpiert, treibt er für seinen Boss Gelder ein, die nach einem ausgeklügelten System bis in die oberste Polizeispitze verteilt werden — ein alltäglicher Teil seiner Arbeit, die sich ansonsten mit der üblichen Alltagskriminalität befasst und auch nicht bei dem Tod eines Schoßhunds Halt macht. Durchkreuzt wird die übliche Frustration durch den Hinweis auf das Wiederauftauchen eines der großen Gangsterbosse der Stadt: Ganesh Gaitonde, einer der rivalisierenden Dons Mumbais, soll aus seinem Exil wieder aufgetaucht sein. Singh findet das Haus und bevor er sich mit einem Bulldozer Zugang verschaffen kann, kommt es über die Sprechanlage zu einer kurzen Unterhaltung zwischen beiden. Es sind Gaitondes letzte Worte, denn als die Festung eingenommen wird, findet die Polizei nur seine Leiche und die einer attraktiven Frau.
Kurze Zeit später taucht der Geheimdienst auf und Singh wird um Mithilfe gebeten: Er soll herausbekommen, wieso Gaitonde nach Indien zurückgekehrt ist, wo doch sowohl die Polizei wie auch rivalisierende Organisationen hinter ihm her sind.
Während Singh nach Spuren sucht, erzählt der Gansterboss seine Lebensgeschichte, seinen Aufstieg vom Kleinkriminellen zum Paten, der seine Finger in allen Geschäften hat, Wohnsiedlungen anlegen lässt und Slums räumt, um Investoren Platz zu machen, der sich vom weltlichen Verbrecher zum Handlanger hindunationalistischer Politiker wandelt, und der die Dreckarbeit für bestimmte Abteilungen des indischen Geheimdienstes macht.
Auf nahezu 1400 Seiten wird ein Panoptikum der neueren indischen Geschichte ausgebreitet, von der brutalen Teilung des Staates, den zerstörerischen Einflüssen der Religionen, den idyllezaubernden Songs aus Bollywood-Filmen, den Kämpfen der Mütter um die Zukunft ihrer Kinder bis zu apokalyptischen Gurus. Ein wuchtiger Roman.

Udo Bonn


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