SoZ - Sozialistische Zeitung |
Lässt man die sozialen Proteste Revue passieren, die in diesem Jahr
vor der Bundestagswahl am 27.9. stattgefunden haben, kommt eine beachtliche Teilnehmerzahl
zusammen: 55000 auf der Demonstration „Wir zahlen nicht für eure Krise” am
28.3., 80000 auf der DGB-Demonstration am 15.Mai, 250000 beim Bildungsstreik, 25000 beim
Erzieherinnenstreik, 50000 auf der Anti-Atomdemonstration am 5.9., 10000 eine Woche
später auf der Demonstration „Freiheit statt Angst”
Noch sind die Bewegungen
kontrolliert, von Großorganisationen angeschoben, es prägt sie nicht der Zorn von
Aufständischen. Die Zahl der Organisatoren ist oft schmerzlich klein, und die Bewegungen
sind noch säuberlich voneinander getrennt — trotz der Versuche, Brücken zu
schlagen und gemeinsame politische Perspektiven zu entwickeln (wie zuletzt auf dem Aktionstag
vom 17.September). Betriebsbesetzungen gab es auch (etwa bei Federal Mogul), aber nur am
Rande. Sie prägen noch nicht das gesellschaftliche Klima.
Die Krise hat die
Gerechtigkeitskluft, die schon im Aufschwung deutlich geworden war, erheblich vertieft:
Profitgier und Ausbeutung bekommen Gesichter, verbinden sich mit Namen. Dass nur die
arbeitende Bevölkerung für die Krise zahlen soll, die Verursacher aber frei
ausgehen, weckt Zorn.
Vor der Wahl haben
Puffermaßnahmen der Koalition (Abwrackprämie, Kurzarbeit u.a.) und ein
Stillhalteabkommen mit den Unternehmern dazu beigetragen, die sozialen Angriffe aufzuschieben;
nach der Wahl wird es dicke kommen. Dann werden gesittete Demonstrationen nicht mehr
ausreichen. Die Kombination der Umstände erlaubt die Hoffnung, dass die sozialen Proteste
sich verschärfen werden.
Die Krise bewirkt auch eine
politische Radikalisierung: am deutlichsten wurde sie in den Landtagswahlen Ende August durch
die Abwanderung von der CDU zur FDP. Die FDP sammelt auch fleißig wieder NPD-Stimmen und
entwickelt sich zu einem Rechtsaußen-Ableger. Auch die Linke erstarkt (sowohl SPD als
auch die LINKE, nur nicht in Sachsen, was eine gesonderte Analyse wert ist), und diese
Bewegung hat, wenn sie anhält, das Potenzial, zum zweiten Mal eine schwarz-gelbe
Koalition zu verhindern.
Noch aus einem anderen Grund
haben die Landtagswahlen Ende August ein Raunen durchs Land geschickt: Noch am Wahlabend
verkündete die SPD, auch im Saarland (neben Thüringen) mit der LINKEN regieren zu
können: also erstmals auch in einem westlichen Bundesland. Wie anders waren ihre
Töne noch bei der Hessenwahl! Generalsekretär Hubertus Heil schließt Rot-Rot-
Grün im Bund nur noch für die Wahlen 2009 aus. Selbst das Handelsblatt rechnet
damit, dass es 2013 eine rot-rot-grüne Koalition geben könnte: „Die Schleusen
sind auf” Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik rückt eine Bundesregierung
in denkbare Reichweite, die keine Partei des Großkapitals umfasst.
Für Deutschland wäre
das eine halbe Revolution. Bis dahin ist aber noch ein weiter Weg. Ausschlaggebend für
den möglichen Gesinnungswandel der SPD sind ihre anhaltenden Wahlverluste, vor allem an
die LINKE. Die SPD hat in Sachsen 19000 Stimmen von der LINKEN bekommen; in Thüringen und
im Saarland hat sie jedoch 5000 bzw. 26000 Stimmen an die LINKE verloren. Im
Bundestagswahlkampf hat die SPD versucht, mit linkeren Themen diesen Blutverlust zu stillen,
und hat dazu auch Fragen angesprochen wie den Ausstieg aus dem Atomausstieg und die
internationale Einführung einer Finanzmarktsteuer. Den Wahlaufstieg der LINKEN kann sie
dadurch nicht aufhalten.
Es tut sich was in der SPD.
Hinter der derzeitigen Führungsriege um Franz Müntefering profiliert sich eine
jüngere Generation (genannt werden Andrea Nahles, Sigmar Gabriel und Klaus Wowereit), die
für eine Koalition mit den LINKEN auf Bundesebene offen ist.
Es hängt jedoch
entscheidend von der LINKEN ab, ob in den kommenden vier Jahren ein solcher Regierungswechsel
gelingen kann. Sie ist im Aufwind, sicher. Doch ist dieser stark gebremst; die Partei
profitiert lange nicht in dem Maße von der Krise, wie sie es könnte. Ihre
Performance im Osten ist mäßig (Thüringen) bis verheerend (Sachsen), und auch
bei den Kommunalwahlen in NRW war sie nicht viel besser. Spektakulär hat sie nur im
Saarland gewonnen, und das ist zum größten Teil der Person von Oskar Lafontaine
zuzuschreiben (59% haben die LINKE wegen seiner Person gewählt, ermittelte Forsa). Mit
Ausnahme des Saarlands konnte die LINKE den Anstieg der Nichtwähler jedoch nicht
aufhalten, und bei den Erstwählern schneidet sie bedeutend schlechter ab als im
Durchschnitt — auch im Saarland. Erneut hat sie sich als Partei der über 40-
Jährigen profiliert.
Wenn sie hier keinen
Durchbruch schafft, bleibt Rot-Rot-Grün eine Fata Morgana. Dafür muss sie einen
akuten Widerspruch lösen: Es gibt in der Bevölkerung einen starken Wunsch nach einem
grundsätzlichen politischen Wandel. Aber es gibt so gut wie keine verbreitete Vorstellung
davon, wie er aussehen soll. Die LINKE muss den Spagat schaffen, einerseits eine handfeste
Vorstellung von einem Systemwechsel zu propagieren, die nicht nur ihre Wahlklientel anspricht,
sondern vor allem junge Leute. Und andererseits kleine politische Schritte zu gehen, die in
diese Richtung führen. Das wird ihr nur gelingen, wenn sie den
außerparlamentarischen Widerstand nach Kräften fördert.
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