SoZ - Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2009, Seite 14

China:

Zur Auseinandersetzung um die Charta 08

von Helmut Weiss

Am 8.Dezember 2008, zwei Tage vor dem 60.Jahrestag der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen, wurde in China eine Charta der Bürger- und Menschenrechte ins Internet gestellt. Sie wurde bisher von über 5000 chinesischen Intellektuellen und Bürgerrechtsaktivisten unterzeichnet, die damit politische Reformen und Demokratisierung in der Volksrepublik China fordern. Die Charta fordert unter anderem eine unabhängige Justiz, die Freiheit, Vereinigungen zu gründen, freie Wahlen und ein Ende des Einparteiensystems.
Im Rahmen des Austauschprojektes „Arbeitswelten China-Deutschland” wurde im Mai 2009 bei LabourNet Germany der deutsche Text der Charta 08 und dazu drei unterschiedliche Kommentare chinesischer Autoren veröffentlicht. Damit sollten einige Aspekte der Debatte um die Charta und um die Demokratisierung in China den deutschen Leserinnen und Lesern näher gebracht werden.
Die drei Kommentare aus China haben eines gemeinsam: Die Autoren sind der Charta gegenüber kritisch: in erster Linie, weil sie die sozialen Fragen ausblende, oder aber dort, wo sie benannt würden, ein Plädoyer für Privateigentum und Privatisierung führe. Nur um diese beiden Fragen kreist der folgende Beitrag.

Das politische Umfeld der Debatte

Die Charta legt in fünf Prinzipien und 19 Punkten ein gesellschaftliches Konzept vor, das in seinen wesentlichen Zügen dem einer parlamentarischen Demokratie entspricht — und auch entsprechen soll: von der Wahl politischer Parteien zum Zwecke der Regierungsbildung, über die Gewaltenteilung bis hin zur Freiheit von Presse und Organisation.
Das ist eine Herausforderung an die KP Chinas, denn sie wäre dabei jene gesellschaftliche Kraft, die in ihrer bisherigen Form überflüssig würde. Insofern ist es schon beachtlich, dass über 5000 Unterzeichner öffentlich ihre Unterstützung für die Charta bekundet haben. Dass die Unterstützung aus verschiedenen ideologischen Richtungen kommt, zeigt schon die Tatsache, dass die drei Kommentatoren sowohl die Revolution von 1949 als auch die Erfahrungen der Demokratiebewegung von 1989 explizit und implizit unterschiedlich bewerten.
Au Loong Yu und Qin Hui betonen in ihren Kommentaren, dass sie bei aller Kritik an den Inhalten der Charta 08 das Recht verteidigen, solche Ansichten zu äußern. Ihre kritische Bewertung der Charta begründen sie vor allem mit den fehlenden oder doch eher beiläufig erwähnten sozialen Rechten.
Professor Hui beschreibt vor allem die Situation, in der die Charta veröffentlicht wurde; er vergleicht sie mit der der tschechoslowakischen Charta 77. Das liegt nahe, nicht nur wegen der gesellschaftlichen Traditionen beider Länder, sondern auch wegen der je aktuellen Situation. Während aber in der CSSR damals die Planwirtschaft diskreditiert war, befindet sich heute die Marktwirtschaft in einer tiefen Krise, und ihre neoliberalen Ideologen müssen zumindest einige taktische Veränderungen vornehmen.
Au Loong Yu ordnet die Charta in die soziale Entwicklung der letzten 30 Jahre ein und weist insbesondere daraufhin, dass die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung keineswegs für die Freiheit des Landverkaufs ist. Da es aber genügend Gewinner der aktuellen Entwicklung gibt, die nicht trotz, sondern wegen des Systems gewinnen, fällt es seiner Argumentation zufolge den Autoren der Charta schwer, Anhang in zentralen Herrschaftskreisen zu gewinnen.
Ganz anders das Herangehen und die Sprache des dritten Kommentars: Zheng Zhao von der Webseite New Left Utopia sieht in den Chartisten vom Imperialismus gekaufte Vaterlandsverräter — und ist damit näher am offiziellen Parteikurs, als ihm lieb sein mag. Seine Stellungnahme ist geprägt vom Vergleich zwischen China und den USA — wobei man über manche Formulierung, die in Deutschland unüblich sein mag, hinweglesen sollte, um einer Argumentation zu folgen, die durchaus keine Phantasien predigt. Er hat wohl recht mit der Behauptung, dass es in den USA mehr Obdachlose gebe als in China, und auch die viel beschworene Korruption ist keine chinesische Spezialität. Dennoch ist das kein Beitrag, der in irgendeiner Weise die nötige Debatte befördert.

Es fehlen die Rechte — und die Erfahrungen

Im Katalog von Prinzipien und Forderungen der Charta kommen soziale Rechte in der Tat kaum vor. Die Forderungen weisen auch deutlich auf eine parlamentarische Demokratie hin. Zu wenig wird ausgesagt über deren konkrete soziale Ausgestaltung. Doch die Kritik, die Erklärenden hätten dies oder jenes nicht genannt, ist zumindest teilweise beliebig und sie missachtet auch, dass die AutorInnen das erwähnen, was sie wichtig finden. Die erste Frage an eine solche Plattform müsste deshalb nicht lauten: Was fehlt?, sondern: Inwiefern sind die Forderungen konkret gestellt?
So wird in der Charta durchaus auch das Streikrecht gefordert. Nun gibt es aber Streikrecht und Streikrecht: In der BRD bspw. ist es durch eine Vielzahl von Bestimmungen eingeschränkt, und sog. politische Streiks sind ausdrücklich davon ausgenommen. Das Streikrecht in Frankreich ist da weitaus demokratischer. Es ist deshalb entscheidend, wie das Streikrecht aussehen soll.
Allgemeiner gesprochen: Wer heute einfach die bürgerliche Trias der französischen und amerikanischen Revolution wiederholt, öffnet Raum für die bekannten historischen „Aussparungen” Die waren z.B. solcherart: Wer in Frankreich es wagte, Schwesterlichkeit zu fordern, konnte durchaus auf dem Schafott enden. In den USA dominierten bis 1860 die südlichen Sklavenhalterstaaten die nationale Politik. Der wohlhabende britische Gentleman, der sich um die Allgemeinheit kümmerte, zögerte 1857 nicht, indische Meutereien im Blutbad zu ersticken.
Aber eben nicht nur diese frühen Realitäten werden ausgeblendet: Erst recht trifft dies auf über 200 Jahre menschlicher Erfahrung zu. Niemand, der in parlamentarischen Demokratien lebt, würde ernsthaft behaupten, es gebe völlige Meinungsfreiheit. Was damals im Kern das Recht war, eine eigene Zeitung zu machen, ist längst zu einem Mediengeschäft weniger Kapitalgruppen geworden, das zahlreiche perverse Züge aufweist. Wer davon nicht spricht, wenn er Pressefreiheit fordert, ist entweder naiv, oder er will es so. Im Gegenteil: Wer heute Pressefreiheit fordert, muss dazu sagen, wie er sie zu organisieren und bewahren gedenkt. Erst recht gilt dies im Übrigen für Medien, die erst nach der Revolution entwickelt werden. In der Regel sind es bürokratische Behörden, und nicht demokratische Debatten, die über den wirklichen Medienzugang entscheiden: per Erteilung einer Medienfrequenz beispielsweise, oder durch den Auftrag zur Kontrolle.
Das alles ließe sich noch viel weiter ausführen. Hier hoffe ich, dass diese kurze Argumentation ausreicht: Wer immer Menschenrechte einfordert, muss heute genau erläutern, wie er sie haben will, und was getan werden muss, um sie zu sichern. Das ist die erste Anforderung, die man erfüllen muss, wenn man nicht zum Spielball anderer Mächte werden will, die vielleicht ganz andere Ziele haben.

Umstrittene Privatisierung — welche Alternativen?

Im Zentrum der Kritik an der Charta steht deren Verteidigung der Privatisierung und des privaten Unternehmertums. Dass die Charta die Privatisierung staatlicher Unternehmen und Dienstleistungen fordert, würde ich nicht so rundweg verurteilen wie andere Kommentatoren. Keineswegs, weil ich irgendwelche Sympathien für die Privatisierung hege: Die Versorgung menschlicher Grundbedürfnisse darf nicht dem Vollzug privater Geschäftsinteressen unterworfen werden.
Aber ich gehe davon aus, dass die Erfahrungen vieler Menschen — nicht nur die der Chartisten — mit den staatlichen Unternehmen in China nicht die Besten sind, weder was die Arbeitsbedingungen, noch was den Konsum betrifft. Schlechte Erfahrungen mit solchen Unternehmen und Einrichtungen waren auch in vielen anderen Ländern oft ein erfolgreicher Ansatzpunkt der Privatisierungsbetreiber.
Hätte man in Deutschland alle, die etwa für die Privatisierung der Telefonie waren, in das Lager der politischen Gegner gerückt, wäre man lange Zeit ziemlich isoliert gewesen. Heute wurden in vielen Ländern Erfahrungen mit privatisierten Unternehmen gemacht — und sie haben zu einem Meinungswechsel in größerem Ausmaß geführt. Ich denke also auch hier: Man muss diese Auseinandersetzung sehr konkret führen.
Im Gegensatz zur bloßen Frontstellung „staatlich (kommunal) versus privat” käme es darauf an, aus den schlechten Erfahrungen mit privater wie staatlicher Grundversorgung eine andere Alternative zu entwickeln: Die könnte in öffentlichen Betrieben und Einrichtungen bestehen, die von den Belegschaften und der Bevölkerung — also von Produzenten und Konsumenten — gemeinsam geführt, oder wenigstens massiv beeinflusst werden. (Das war jedenfalls die Position, die etwa LabourNet Germany auf dem Weltsozialforum 2009 vertreten hat; sie stieß damals auf viel interessiertes Echo und hat eine Reihe von Diskussionen und Aktivitäten angestoßen.) Das müssen keineswegs nur Unternehmen mit einfacher Technologie sein, auch wenn man auf der anderen Seite nicht übersehen darf, dass die Technologie heute oft genug Fetischcharakter annimmt. Über Kooperationen und Gebrauchswertorientierung sind zumindest teilweise Schritte aus der Marktkonkurrenz möglich.
Es geht also darum, aus vorhandenen Erfahrungen unterschiedlichster Art eine echte Alternative zur Privatisierung zu entwickeln, die sich eben nicht darauf beschränkt, umstrittenes Bestehendes zu verteidigen: Die Eisenbahn in Deutschland war schon keine Bürgerbahn, als sie noch Bundesbahn hieß...
Aus vielen Berichten wissen wir, dass widerständige Belegschaften in China immer wieder über die bestehenden „familiären Bande” zwischen Privatbetrieben und lokalen Behörden diskutieren. Die weltweiten Erfahrungen zeigen aber, dass Korruption zur Privatisierung gehört: Die Privatisierung der wirtschaftlichen Struktur der früheren DDR über die öffentlich unkontrollierte Treuhand-Behörde war ein Musterbeispiel für eine „unsaubere Privatisierung”
Insgesamt also: Ja, es ist richtig, die Freiheit zu verteidigen, andere Meinungen zu verbreiten. Und es richtig, die Charta inhaltlich als ein Programm des liberalen Bürgertums zu bewerten. Aber es ist notwendig, solche Positionierungen dazu zu nutzen, die eigenen Vorstellungen weiterzuentwickeln.


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