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Am 8.Dezember 2008, zwei Tage vor dem 60.Jahrestag der
Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung
der Vereinten Nationen, wurde in China eine Charta der Bürger- und Menschenrechte ins
Internet gestellt. Sie wurde bisher von über 5000 chinesischen Intellektuellen und
Bürgerrechtsaktivisten unterzeichnet, die damit politische Reformen und Demokratisierung
in der Volksrepublik China fordern. Die Charta fordert unter anderem eine unabhängige
Justiz, die Freiheit, Vereinigungen zu gründen, freie Wahlen und ein Ende des
Einparteiensystems.
Im Rahmen des
Austauschprojektes „Arbeitswelten China-Deutschland” wurde im Mai 2009 bei
LabourNet Germany der deutsche Text der Charta 08 und dazu drei unterschiedliche Kommentare
chinesischer Autoren veröffentlicht. Damit sollten einige Aspekte der Debatte um die
Charta und um die Demokratisierung in China den deutschen Leserinnen und Lesern näher
gebracht werden.
Die drei Kommentare aus China
haben eines gemeinsam: Die Autoren sind der Charta gegenüber kritisch: in erster Linie,
weil sie die sozialen Fragen ausblende, oder aber dort, wo sie benannt würden, ein
Plädoyer für Privateigentum und Privatisierung führe. Nur um diese beiden
Fragen kreist der folgende Beitrag.
Die Charta legt in fünf Prinzipien und 19 Punkten ein gesellschaftliches Konzept vor,
das in seinen wesentlichen Zügen dem einer parlamentarischen Demokratie entspricht
— und auch entsprechen soll: von der Wahl politischer Parteien zum Zwecke der
Regierungsbildung, über die Gewaltenteilung bis hin zur Freiheit von Presse und
Organisation.
Das ist eine Herausforderung
an die KP Chinas, denn sie wäre dabei jene gesellschaftliche Kraft, die in ihrer
bisherigen Form überflüssig würde. Insofern ist es schon beachtlich, dass
über 5000 Unterzeichner öffentlich ihre Unterstützung für die Charta
bekundet haben. Dass die Unterstützung aus verschiedenen ideologischen Richtungen kommt,
zeigt schon die Tatsache, dass die drei Kommentatoren sowohl die Revolution von 1949 als auch
die Erfahrungen der Demokratiebewegung von 1989 explizit und implizit unterschiedlich
bewerten.
Au Loong Yu und Qin Hui
betonen in ihren Kommentaren, dass sie bei aller Kritik an den Inhalten der Charta 08 das
Recht verteidigen, solche Ansichten zu äußern. Ihre kritische Bewertung der Charta
begründen sie vor allem mit den fehlenden oder doch eher beiläufig erwähnten
sozialen Rechten.
Professor Hui beschreibt vor
allem die Situation, in der die Charta veröffentlicht wurde; er vergleicht sie mit der
der tschechoslowakischen Charta 77. Das liegt nahe, nicht nur wegen der gesellschaftlichen
Traditionen beider Länder, sondern auch wegen der je aktuellen Situation. Während
aber in der CSSR damals die Planwirtschaft diskreditiert war, befindet sich heute die
Marktwirtschaft in einer tiefen Krise, und ihre neoliberalen Ideologen müssen zumindest
einige taktische Veränderungen vornehmen.
Au Loong Yu ordnet die Charta
in die soziale Entwicklung der letzten 30 Jahre ein und weist insbesondere daraufhin, dass die
Mehrheit der ländlichen Bevölkerung keineswegs für die Freiheit des
Landverkaufs ist. Da es aber genügend Gewinner der aktuellen Entwicklung gibt, die nicht
trotz, sondern wegen des Systems gewinnen, fällt es seiner Argumentation zufolge den
Autoren der Charta schwer, Anhang in zentralen Herrschaftskreisen zu gewinnen.
Ganz anders das Herangehen und
die Sprache des dritten Kommentars: Zheng Zhao von der Webseite New Left Utopia sieht in den
Chartisten vom Imperialismus gekaufte Vaterlandsverräter — und ist damit näher
am offiziellen Parteikurs, als ihm lieb sein mag. Seine Stellungnahme ist geprägt vom
Vergleich zwischen China und den USA — wobei man über manche Formulierung, die in
Deutschland unüblich sein mag, hinweglesen sollte, um einer Argumentation zu folgen, die
durchaus keine Phantasien predigt. Er hat wohl recht mit der Behauptung, dass es in den USA
mehr Obdachlose gebe als in China, und auch die viel beschworene Korruption ist keine
chinesische Spezialität. Dennoch ist das kein Beitrag, der in irgendeiner Weise die
nötige Debatte befördert.
Im Katalog von Prinzipien und Forderungen der Charta kommen soziale Rechte in der Tat kaum
vor. Die Forderungen weisen auch deutlich auf eine parlamentarische Demokratie hin. Zu wenig
wird ausgesagt über deren konkrete soziale Ausgestaltung. Doch die Kritik, die
Erklärenden hätten dies oder jenes nicht genannt, ist zumindest teilweise beliebig
und sie missachtet auch, dass die AutorInnen das erwähnen, was sie wichtig finden. Die
erste Frage an eine solche Plattform müsste deshalb nicht lauten: Was fehlt?, sondern:
Inwiefern sind die Forderungen konkret gestellt?
So wird in der Charta durchaus
auch das Streikrecht gefordert. Nun gibt es aber Streikrecht und Streikrecht: In der BRD bspw.
ist es durch eine Vielzahl von Bestimmungen eingeschränkt, und sog. politische Streiks
sind ausdrücklich davon ausgenommen. Das Streikrecht in Frankreich ist da weitaus
demokratischer. Es ist deshalb entscheidend, wie das Streikrecht aussehen soll.
Allgemeiner gesprochen: Wer
heute einfach die bürgerliche Trias der französischen und amerikanischen Revolution
wiederholt, öffnet Raum für die bekannten historischen „Aussparungen”
Die waren z.B. solcherart: Wer in Frankreich es wagte, Schwesterlichkeit zu fordern, konnte
durchaus auf dem Schafott enden. In den USA dominierten bis 1860 die südlichen
Sklavenhalterstaaten die nationale Politik. Der wohlhabende britische Gentleman, der sich um
die Allgemeinheit kümmerte, zögerte 1857 nicht, indische Meutereien im Blutbad zu
ersticken.
Aber eben nicht nur diese
frühen Realitäten werden ausgeblendet: Erst recht trifft dies auf über 200
Jahre menschlicher Erfahrung zu. Niemand, der in parlamentarischen Demokratien lebt,
würde ernsthaft behaupten, es gebe völlige Meinungsfreiheit. Was damals im Kern das
Recht war, eine eigene Zeitung zu machen, ist längst zu einem Mediengeschäft weniger
Kapitalgruppen geworden, das zahlreiche perverse Züge aufweist. Wer davon nicht spricht,
wenn er Pressefreiheit fordert, ist entweder naiv, oder er will es so. Im Gegenteil: Wer heute
Pressefreiheit fordert, muss dazu sagen, wie er sie zu organisieren und bewahren gedenkt. Erst
recht gilt dies im Übrigen für Medien, die erst nach der Revolution entwickelt
werden. In der Regel sind es bürokratische Behörden, und nicht demokratische
Debatten, die über den wirklichen Medienzugang entscheiden: per Erteilung einer
Medienfrequenz beispielsweise, oder durch den Auftrag zur Kontrolle.
Das alles ließe sich noch
viel weiter ausführen. Hier hoffe ich, dass diese kurze Argumentation ausreicht: Wer
immer Menschenrechte einfordert, muss heute genau erläutern, wie er sie haben will, und
was getan werden muss, um sie zu sichern. Das ist die erste Anforderung, die man erfüllen
muss, wenn man nicht zum Spielball anderer Mächte werden will, die vielleicht ganz andere
Ziele haben.
Im Zentrum der Kritik an der Charta steht deren Verteidigung der Privatisierung und des
privaten Unternehmertums. Dass die Charta die Privatisierung staatlicher Unternehmen und
Dienstleistungen fordert, würde ich nicht so rundweg verurteilen wie andere
Kommentatoren. Keineswegs, weil ich irgendwelche Sympathien für die Privatisierung hege:
Die Versorgung menschlicher Grundbedürfnisse darf nicht dem Vollzug privater
Geschäftsinteressen unterworfen werden.
Aber ich gehe davon aus, dass
die Erfahrungen vieler Menschen — nicht nur die der Chartisten — mit den
staatlichen Unternehmen in China nicht die Besten sind, weder was die Arbeitsbedingungen, noch
was den Konsum betrifft. Schlechte Erfahrungen mit solchen Unternehmen und Einrichtungen waren
auch in vielen anderen Ländern oft ein erfolgreicher Ansatzpunkt der
Privatisierungsbetreiber.
Hätte man in Deutschland
alle, die etwa für die Privatisierung der Telefonie waren, in das Lager der politischen
Gegner gerückt, wäre man lange Zeit ziemlich isoliert gewesen. Heute wurden in
vielen Ländern Erfahrungen mit privatisierten Unternehmen gemacht — und sie haben
zu einem Meinungswechsel in größerem Ausmaß geführt. Ich denke also auch
hier: Man muss diese Auseinandersetzung sehr konkret führen.
Im Gegensatz zur bloßen
Frontstellung „staatlich (kommunal) versus privat” käme es darauf an, aus den
schlechten Erfahrungen mit privater wie staatlicher Grundversorgung eine andere Alternative zu
entwickeln: Die könnte in öffentlichen Betrieben und Einrichtungen bestehen, die von
den Belegschaften und der Bevölkerung — also von Produzenten und Konsumenten
— gemeinsam geführt, oder wenigstens massiv beeinflusst werden. (Das war jedenfalls
die Position, die etwa LabourNet Germany auf dem Weltsozialforum 2009 vertreten hat; sie
stieß damals auf viel interessiertes Echo und hat eine Reihe von Diskussionen und
Aktivitäten angestoßen.) Das müssen keineswegs nur Unternehmen mit einfacher
Technologie sein, auch wenn man auf der anderen Seite nicht übersehen darf, dass die
Technologie heute oft genug Fetischcharakter annimmt. Über Kooperationen und
Gebrauchswertorientierung sind zumindest teilweise Schritte aus der Marktkonkurrenz
möglich.
Es geht also darum, aus
vorhandenen Erfahrungen unterschiedlichster Art eine echte Alternative zur Privatisierung zu
entwickeln, die sich eben nicht darauf beschränkt, umstrittenes Bestehendes zu
verteidigen: Die Eisenbahn in Deutschland war schon keine Bürgerbahn, als sie noch
Bundesbahn hieß...
Aus vielen Berichten wissen
wir, dass widerständige Belegschaften in China immer wieder über die bestehenden
„familiären Bande” zwischen Privatbetrieben und lokalen Behörden
diskutieren. Die weltweiten Erfahrungen zeigen aber, dass Korruption zur Privatisierung
gehört: Die Privatisierung der wirtschaftlichen Struktur der früheren DDR über
die öffentlich unkontrollierte Treuhand-Behörde war ein Musterbeispiel für eine
„unsaubere Privatisierung”
Insgesamt also: Ja, es ist
richtig, die Freiheit zu verteidigen, andere Meinungen zu verbreiten. Und es richtig, die
Charta inhaltlich als ein Programm des liberalen Bürgertums zu bewerten. Aber es ist
notwendig, solche Positionierungen dazu zu nutzen, die eigenen Vorstellungen
weiterzuentwickeln.
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